Kundus-Massaker bleibt ungesühnt

Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg hat am 16. Februar die Beschwerde von Abdul Hanan, einem Bauern aus dem afghanischen Kundus, gegen die Bundesrepublik Deutschland abgewiesen. Hanan, der auch in Vertretung für sein Dorf auftrat, hatte die Beschwerde wegen mangelhafter juristischer Aufarbeitung des Tods seiner beiden Söhne, die zum Zeitpunkt ihres Todes acht und zwölf Jahre alt waren, angestrengt.

Die beiden Kinder, Abdul Bayan und Nesarullah, und über hundert weitere Menschen (die genaue Zahl ist bis heute nicht zweifelsfrei geklärt), die meisten davon Zivilisten, waren am 4. September 2009 getötet worden, als zwei US-amerikanische Kampfflugzeuge eine Menschenmenge bombardierten, die sich um zwei festgefahrene Tanklastzüge auf einer Sandbank des Kundus-Flusses versammelt hatte. Den Befehl für den Angriff hatte Bundeswehroberst Georg Klein gegeben.

Es war das größte Massaker seit dem Zweiten Weltkrieg, für das ein deutscher Offizier verantwortlich ist. Doch nach elf Jahren bleibt es endgültig ungesühnt.

4. September 2009: Afghanische Polizisten am Ort des Massakers (AP Photo,file)

Die zuständige Generalbundesanwaltschaft hatte sich von Anfang an geweigert, Anklage gegen Klein und seinen Fliegerleitoffizier zu erheben. Hanan hatte dann versucht, eine Anklageerhebung mit einem sogenannten Klageerzwingungsverfahren durchzusetzen. Doch er war mit seinen Klageanträgen, eingebracht vom renommierten Menschenrechtsanwalt Wolfgang Kaleck aus Berlin, vor sämtlichen deutschen Instanzen gescheitert. Das Oberlandesgericht Düsseldorf, der Bundesgerichtshof und schließlich das Bundesverfassungsgericht hatten sie nicht einmal zugelassen. Das hat nun der EGMR abgesegnet.

Die gemeinnützigen Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights (ECCHR), die Hanan unterstützte, nannte die Entscheidung aus Straßburg „enttäuschend, da die Geheimhaltungspolitik des deutschen Militärs und die faktische Verweigerung von Verfahrensrechten für die Betroffenen nicht gerügt wurde“.

Kläger Abdul Hanan bezeichnete die letzten zwölf Jahre als „eine Tortur für meine Familie und die Familien der anderen Opfer“. Sie hätten nie eine offizielle Entschuldigung von der deutschen Regierung erhalten. „Alles, was wir wollten, ist, dass die Verantwortlichen für den Angriff zur Rechenschaft gezogen werden und dass wir angemessen entschädigt werden.“

Dazu ist die Bundesregierung nicht bereit. Sie ist bis heute der erklärten Auffassung, der Luftangriff sei „völkerrechtlich zulässig und damit strafrechtlich gerechtfertigt“ gewesen. Sie hat zwar den Überlebenden und Hinterbliebenen geringe Geldsummen gegeben, diese aber ausdrücklich nicht mit der Anerkennung einer Rechtspflicht verbunden.

Der EGMR wies die Beschwerde Hanans ab, obwohl das Gericht einräumte, dass eine ganze Reihe eklatanter Mängel bei der Untersuchung des Falles vorgelegen hatten. Die Entscheidung ist endgültig. Weitere Rechtsmittel sind nicht mehr möglich.

Für den deutschen Militarismus hat dies weitgehende Bedeutung. Die Bundeswehr kann sich sicher sein, dass sie von Staatsanwaltschaft und Justiz nichts zu befürchten hat, wenn sie in großem Maßstab „Kollateralschäden“ unter Zivilisten verursacht.

Der Generalbundesanwalt hatte bereits vor elf Jahren, als er das Ermittlungsverfahren gegen Oberst Klein nach nur vier Wochen einstellte, festgestellt, dass es nur dann unzulässig sei, bei einem Bombenabwurf zahlreiche Zivilisten zu töten, wenn „der zu erwartende zivile Schaden in keinem Verhältnis zum erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Erfolg steht“.

Bei allen Verfahren gegen Klein und seine deutschen Kameraden wurde dann immer wieder behauptet, er habe zum Zeitpunkt des Angriffs alles Mögliche getan, um sich ein Bild der Lage zu machen, und nicht wissen können, dass sich vor allem Zivilisten bei den Tanklastzügen aufhielten. Doch das ist nachweislich falsch.

Tatsächlich stützten sich die deutschen Militärs nur auf einen einzigen, nicht vor Ort befindlichen Informanten von zweifelhafter Zuverlässigkeit und belogen sogar verbündete NATO-Truppen, um den Bombenabwurf durchzusetzen. Die nachfolgenden „Untersuchungen“ durch Bundeswehr, Staatsanwaltschaften und Gerichte waren darauf ausgerichtet, Klein und seinen Kameraden einen Persilschein auszustellen. All das rechtfertigte nun der EGMR oder wischte es beiseite.

So gab die anfangs zuständigen Generalstaatsanwaltschaft Dresden das Verfahren nach Gesprächen mit dem Verteidigungsministerium an die Generalbundesanwaltschaft ab, die der Weisungsbefugnis des Justizministeriums, also der Bundesregierung untersteht. Der EGMR fand dies nicht relevant, schließlich gebe es keine Hinweise, dass solche Weisungen tatsächlich vorgenommen worden seien oder dass das Verteidigungsministerium versucht habe, das Verfahren zu beeinflussen.

Auch den Einwand der Kläger, die Ermittler in Afghanistan seien nicht unabhängig von den Tatverdächtigen gewesen, ließ der EGMR nicht gelten. Die Straßburger Richter bemerkten zwar, dass „es im Sinne der Unabhängigkeit besser gewesen wäre, wenn die anfängliche Bewertung vor Ort nicht ausschließlich von Mitgliedern des PRT Kunduz durchgeführt worden wäre, die dem Kommando von Oberst K. unterstanden“. Allerdings sei es ja ohnehin auf die mens Rea [subjektiven Vorstellungen, Wissen und Wollen] von Oberst Klein angekommen. „Realistisch betrachtet“ seien die Ermittlungen daher nicht beeinflusst worden.

Der EGMR hielt es ebenso wenig wie der deutsche Generalbundeswalt und das deutsche Bundesverfassungsgericht für nötig, andere Zeugen zu befragen als Klein selbst und seine Kameraden im deutschen Kommandostand, auch nicht die vom Luftangriff betroffenen Afghanen oder die ausführenden amerikanischen Piloten.

Das Gericht konnte auch keine Notwendigkeit erkennen, militärische Experten zu befragen oder die Lage im Kommandozentrum nachzustellen. Schließlich habe es sich bei dem Untersuchungsteam der ISAF – Kameraden bzw. Untergebenen von Oberst Klein – um „militärische Experten aus verschiedenen Ländern“ gehandelt.

Auch dass nicht ermittelt wurde, wie viele Opfer es tatsächlich gegeben hatte und wie viele davon Zivilisten waren, störte die Straßburger Richter nicht sonderlich. Schließlich sei es bei der Haftung von Oberst Klein auf dessen subjektive Sicht angekommen.

Dass die Ermittlungen eingestellt wurden, ohne den Beschwerdeführer als Vater von zwei durch den Luftangriff getöteten Personen auch nur einmal anzuhören, erschien dem EGMR zwar „auf den ersten Blick problematisch“, denn es könne nicht ausgeschlossen werden, dass Hanan über relevante Informationen, insbesondere über die Identität der am Bombenabwurfplatz anwesenden Personen, verfüge. Aber schließlich hätte der Kläger auch nach der Einstellung der Ermittlungen noch relevante Informationen anbringen können.

Drei Richter gaben eine abweichende Meinung zu Protokoll. Danach hätte der EGMR die Beschwerde von vornherein als unzulässig verwerfen sollen. Dies entsprach der offiziellen Rechtsauffassung von Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Dänemark, Norwegen und Schweden. Der Kläger habe demnach kein Recht gehabt, sich auf die Europäische Menschenrechtskonvention zu berufen, und der EGMR sei nicht zuständig gewesen.

Die Mehrheit der Richter sah das anders: Erstens sei Deutschland durch internationales Recht zur Untersuchung des Luftangriffs verpflichtet gewesen, zweitens seien die afghanischen Behörden juristisch von einer Ermittlung ausgeschlossen gewesen (wegen einer Vereinbarung mit den internationalen Truppen in ihrem Land) und drittens seien die deutschen Strafverfolgungsbehörden auch unter nationalem Recht zu Ermittlungen berufen gewesen.

Juristische Beobachter, die das Urteil ansonsten kritisch bewerteten, lobten dies als möglichen „Meilenstein“ der EGMR-Rechtsprechung. Doch offensichtlich ist es nichts dergleichen. Die politisch und militärisch Verantwortlichen bleiben ungeschoren. Oberst Georg Klein wurde befördert und dient heute immer noch als General der Bundeswehr.

Georg Klein (AP Photo/Anja Niedringhaus, File)

Der Kläger und die anderen Opfer und Hinterbliebenen gehen hingegen leer aus, sie bekommen keinerlei Entschädigung zugesprochen und niemand wird für den Tod und die Zerstörung, die sie erleiden mussten, zur Rechenschaft gezogen. Letztendlich war kaum mehr als die Aussage des militärischen Befehlshabers nötig, er habe in gutem Glauben gehandelt, um ihn juristisch von dem Blut dutzender unschuldiger Männer, Frauen und Kinder reinzuwaschen.

Auch auf dem Zivilrechtsweg sah dies im Ergebnis nicht anders aus. Das Bundesverfassungsgericht hat im November letzten Jahres eine Verfassungsbeschwerde von Hinterbliebenen von Opfern des Kundes-Massakers nicht zur Entscheidung angenommen, denen Gerichte Schadenersatz und Schmerzensgeld versagt hatten. Kühl beschieden die Karlsruher Verfassungsrichter, dass „nicht jede Tötung einer Zivilperson im Rahmen kriegerischer Auseinandersetzungen auch einen Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht“ darstelle. Oberst Klein habe eine aus damaliger Sicht „gültige Prognoseentscheidung“ getroffen.

Die Vorinstanz, der Bundesgerichtshof (BGH), war sogar noch weitergegangen und hatte Amtshaftungsansprüche gegen deutsche Soldaten bei bewaffneten Auslandseinsätzen wegen möglicher Beeinträchtigungen der „Bündnisfähigkeit Deutschlands und des außenpolitischen Gestaltungsspielraums“ grundsätzlich abgelehnt. Das Bundesverfassungsgericht hatte es hingegen ausdrücklich offengelassen, ob Amtshaftungsansprüche bei militärischen Auslandseinsätzen möglich seien. Darüber müsse es nicht entscheiden, da Oberst Klein im konkreten Fall nicht rechtswidrig gehandelt habe.

Zusammengenommen sind diese Urteile eine klare Botschaft, dass Offiziere und Soldaten keine Strafe fürchten müssen, wenn sie Zivilisten töten, nicht einmal eine Anklage vor einem Strafgericht. Die Urteile stellen dem deutschen Militarismus einen Blankoscheck aus, der massiv aufrüstet und sich anschickt, auf der ganzen Welt wieder Krieg zu führen. Die Bundesregierung hat nur eine Woche nach dem EGMR-Urteil das Afghanistan-Mandat der Bundeswehr bis Januar nächsten Jahres verlängert und hat Pläne veröffentlicht, neben bereits bestehenden Einsätzen, wie in Mali, auch im Indo-Pazifik und anderen Weltregionen militärisch einzugreifen.

In den Nürnberger Prozessen war der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, Wilhelm Keitel, unter anderem deshalb als Kriegsverbrecher verurteilt und hingerichtet worden, weil er in Jugoslawien die Anweisung erteilt hatte: „Die Truppe ist daher berechtigt und verpflichtet, in diesem Kampf ohne Einschränkung auch gegen Frauen und Kinder jedes Mittel anzuwenden, wenn es nur zum Erfolg führt.“

Heute ist es laut Generalbundesanwalt zulässig, Zivilisten umzubringen, wenn es im „Verhältnis zum erwarteten unmittelbaren und konkreten militärischen Erfolg steht“. Der EGMR hat dies abgesegnet.

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