Brasilien: landesweite Massendemonstrationen und mehr als 500.000 Corona-Tote

Am Samstag kam es in Brasilien zum zweiten Mal zu landesweiten Massenprotesten gegen die Regierung des faschistischen Präsidenten Jair Bolsonaro und seine Reaktion auf die Corona-Pandemie. Diesmal beteiligten sich noch mehr Menschen als an den Demonstrationen am 29. Mai. Laut den Veranstaltern waren es 750.000 Menschen in den Hauptstädten der Bundesstaaten, Dutzenden weiteren brasilianischen Städten und sogar im Ausland.

Ebenfalls am Samstag erreichte in Brasilien die Zahl der Toten durch Covid-19 den schlimmen Meilenstein von 500.000. Diese erschütternde Zahl ist das Ergebnis einer bewusst verfolgten Politik, die ungehindert weitergeht und die im Kern ein sozialer Mord ist. Diese Politik ist es auch, die Hunderttausende auf die Straße treibt.

Demonstration gegen den brasilianischen Präsidenten Jair Bolsonaro und seine Reaktion auf die Corona-Pandemie auf der Avenida Paulista in São Paulo (Brasilien), 19. Juni 2021 (AP Photo/Marcelo Chello)

Seit Beginn des Jahres 2021 ist die Zahl der Infizierten und Todesopfer durch Covid-19 stark angestiegen, alleine in den ersten sechs Monaten kam es zu mehr als 300.000 Todesfällen bei einer Gesamtzahl von zehn Millionen Infektionen.

Der Grund für diesen explosionsartigen Anstieg der Infektionen liegt vor allem in der umfassende Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Aktivitäten und des Schulbetriebs, die im Interesse des kapitalistischen Profitstrebens und entgegen der Empfehlungen von Experten für öffentliche Gesundheit durchgeführt wurde. Ein weiterer wichtiger Faktor war die Ausbreitung der hochansteckenden Variante des Corona-Virus P.1, die zuerst im Bundesstaat Amazonas auftauchte. Auch dies ist ein grauenvolles Ergebnis der Experimente vonseiten der herrschenden Klasse mit der Herdenimmunität.

Die ungehinderte Ausbreitung des Corona-Virus führte zur Überlastung der Intensivstationen in allen Bundesstaaten, und damit zum „größten Zusammenbruch des Gesundheits- und Krankenhaussystems in der Geschichte Brasiliens“, wie es die öffentliche Gesundheitsbehörde Fiocruz formulierte. Zwischen Ende März und Anfang April starben landesweit im Durchschnitt mehr als 3.000 Menschen pro Tag; an einem Tag wurde sogar der Rekordwert von 4.200 Toten erreicht.

Viele Patienten hatten unter unmenschlichen Bedingungen zu leiden – teilweise starben sie, während sie auf ein Intensivpflegebett warteten, oder sie erstickten, weil medizinischer Sauerstoff fehlte. Dieses Massensterben hat deutliche Auswirkungen auf das Bewusstsein von großen Teilen der brasilianischen Bevölkerung. Bei den Protesten am Samstag trugen viele Demonstranten erneut Transparente mit den Namen von Verwandten und Freunden, die an Covid-19 gestorben sind. Für diese Todesfälle machen sie Bolsonaro und seine mörderische Politik direkt verantwortlich.

Die unkontrollierte Pandemie in Brasilien hat auch auf die Nachbarstaaten in Südamerika verheerende Auswirkungen. In Uruguay, südlich von Brasilien gelegen, kam es beispielsweise nach einer relativ kontrollierten ersten Welle im Jahr 2020 zu einer Explosion der Fallzahlen durch die Variante P.1 und die Öffnungspolitik der Regierung. Im April verzeichnete das Land die höchste Zahl an Todesopfern pro Tag und pro Kopf in ganz Südamerika. Auch Länder wie Peru, Bolivien und Venezuela, die im Norden an Brasilien grenzen, verzeichneten einen Anstieg der Infektionszahlen aufgrund der brasilianischen Variante.

In Kolumbien und Paraguay brechen ebenfalls die Krankenhaussysteme zusammen, Mediziner zufolge hauptsächlich aufgrund von Schwierigkeiten beim Umgang mit der neuen brasilianischen Variante. Auch in diesen beiden Ländern kam es zu Massenprotesten gegen die katastrophale Reaktion der Regierungen auf die Pandemie.

Nachdem die Zahl der Infektionen und Todesfälle in Brasilien einige Wochen lang zurückgegangen ist, verzeichnet das Land einen erneuten Anstieg der Zahlen. Das Land befindet sich jetzt an einem entscheidenden Moment der Entwicklung der Pandemie. Laut Institutionen wie Fiocruz und führenden Wissenschaftlern steht Brasilien vor einer potenziell noch verheerenderen dritten Welle.

Der Neurowissenschaftler Miguel Nicolelis warnte letzte Woche in einem Interview mit O Globo erneut, Brasilien müsse sofort strenge Maßnahmen ergreifen, um die wirtschaftlichen Aktivitäten stillzulegen und das Virus effektiv unter Kontrolle zu bringen, „andernfalls werden wir die USA überholen und das Land mit den weltweit meisten Toten durch Covid-19 werden – obwohl wir eine geringere Bevölkerungszahl haben.“ Nicolelis hatte bereits exakt vorhergesagt, dass Brasilien bis Juli Durchschnittswerte von mehr als 4.000 Toten pro Tag und die Marke von über 500.000 Toten erreichen wird.

In seiner Beschreibung der aktuellen Lage in Brasilien nannte Nicolelis mehrere kritische Faktoren: der „Zusammenbruch des Krankenhaussystems ist noch nicht überwunden... mehrere Varianten des Virus dringen ins Land ein“, hinzu kommt das langsame Voranschreiten der Impfungen und die Lockerung der Isolationsmaßnahmen. Das groteske Symbol für Letzteres ist das Fußballturnier Copa América, das dieses Jahr in Brasilien stattfindet.

Doch die verbrecherische herrschende Elite Brasiliens reagiert weiterhin politisch auf übelste Weise auf die Pandemie, was zu 500.000 Toten im eigenen Land und zu zahllosen weiteren in ganz Südamerika geführt hat.

Das Faschist Bolsonaro betreibt seine Politik offen mit soziopathischen Forderungen nach der Fortsetzung der Öffnung der Wirtschaft ohne Rücksicht auf die Zahl der Toten, die sie zur Folge hat. Keine Partei im politischen Establishment Brasiliens formuliert jedoch eine konsequente Alternative zu den schlimmen Aussichten der weiteren Entwicklung der Pandemie, die Nicolelis und andere Wissenschaftler skizzieren.

Dies wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass auch die brasilianischen Bundesstaaten, die von der Partido dos Trabalhadores (PT) und ihren Verbündeten, der Partido Socialista Brasileiro (PSB) und der Partido Comunista do Brasil (PCdoB) regiert werden, die Pandemie nicht unter Kontrolle gebracht haben. Stattdessen vertreten sie ebenfalls die unsichere Wiederaufnahme der wirtschaftlichen Aktivitäten und die Öffnung der Schulen.

Die Massendemonstrationen, die in den letzten Wochen in Brasilien stattfanden, sind Ausdruck eines unkontrollierbaren sozialen Widerstands im Land. Als Reaktion darauf versucht die so genannte Opposition gegen Bolsonaro innerhalb des politischen Establishments verzweifelt zu verhindern, dass sich diese Wut gegen das kapitalistische politische System richtet.

Die parlamentarische Untersuchungskommission (CPI), die den Umgang der Regierung mit der Pandemie unter die Lupe nehmen soll, inszeniert sich als endgültige Aufarbeitung der Verbrechen, die der brasilianische Staat während des letzten Jahres begangen hat. Führende Mitglieder der CPI haben anlässlich der Überschreitung der Marke von einer halben Million Covid-Toten eine Erklärung veröffentlicht – offensichtlich als Reaktion auf den Druck der Massenproteste. Darin heißt es: „Wir sind nicht zufällig in diese verheerende, unmenschliche Lage geraten. Es gibt Schuldige, und soweit es in der Macht der CPI steht, werden sie exemplarisch bestraft.“

Gleichzeitig versuchen die PT und ihre Verbündeten, die zu den Demonstrationen am 29. Mai und am Samstag aufgerufen haben, diese Proteste in die Kanäle bedeutungsloser Appelle an den Staat zu lenken und sie einem politischen Bündnis mit den reaktionärsten Kräften der Bourgeoisie unterzuordnen, das Bolsonaro ablösen soll.

Abgesehen von der höheren Zahl der Teilnehmer waren die Proteste am Samstag auch von verstärkten Versuchen der Führung oben genannter Parteien geprägt, sie in politische Kundgebungen zur Vorbereitung der Wahl 2022 zu verwandeln.

Der ehemalige Präsident Luís Inácio Lula da Silva von der PT, der als wahrscheinlichster Gegenkandidat zu Bolsonaro in der nächsten Wahl gilt, erwog öffentlich, an der Demonstration teilzunehmen. Allerdings tat er es doch nicht, um „einen politischen Akt nicht zu einer Wahlkampfveranstaltung zu machen“, wie er sein inszeniertes Manöver erklärte. Stattdessen schickte er genau zu diesem Zweck seinen Parteikollegen Fernando Haddad, der 2018 die Präsidentschaftswahl gegen Bolsonaro verloren hatte.

Der Vorsitzende der Partido Socialismo e Liberdade (PSOL), Guilherme Boulos, der eng in die Wahlmanövern der PT und den Aufbau von Bündnissen mit rechten Kräften gegen Bolsonaro eingebunden ist, war ebenfalls auf der Demonstration in São Paulo und hielt dort eine Rede.

Abgesehen von der Anwesenheit der PT, deren Anführer und Anhänger Flaggen hielten, beteiligten sich auch der PT-nahe Gewerkschaftsbund CUT und andere Gewerkschaftsbünde, die diesmal die Proteste formell unterstützt hatten, an den Demonstrationen von Samstag.

Durch ihre Teilnahme zeigen die Gewerkschaften ihre Unruhe mit Blick auf das Anwachsen von politischem Widerstand in der Arbeiterklasse. Diese reaktionären Organisationen werden alles versuchen, die rebellierenden Arbeiter dem Kapitalismus unterordnen und ihre Proteste zu unterdrücken.

Diese Absicht zeigt sich auch in dem bürokratischen Manöver, mit denen die Gewerkschaften die Arbeiter vor den Protesten demobilisierten. Am 18. Juni, einen Tag vor den Demonstrationen, riefen die Gewerkschaften zu einem „landesweiten Tag der Mobilisierung an den Arbeitsplätzen“ auf. Diese „Mobilisierung“ ist ein völliger Betrug. Obwohl verschiedene Teilen der Arbeiterklasse jüngst in den Kampf getreten sind, um Angriffe zurückzuschlagen, lehnen die Gewerkschaften einen Streik offen ab.

Miguel Torres, der Präsident des zweitgrößten Gewerkschaftsbunds Força Sindical erklärte gegenüber Carta Capital, das Thema Streik sei „sehr kontrovers“. Torres sagt, er sehe wegen der Pandemie, der hohen Arbeitslosigkeit und der Aussetzung von Verträgen die Voraussetzungen für einen Streik nicht gegeben. Das bedeutet: Gerade die Fragen, die Arbeiter in den Kampf treiben, schließen einen Streik aus!

Die Gewerkschaften setzen die Zusammenarbeit fort, die sie in der Pandemie systematisch betrieben haben, um die Betriebe offen zu halten, Streiks und Kämpfe der Arbeiter zu sabotieren und sie zu zwingen, ohne Rücksicht auf die tödlichen Gefahren durch die Pandemie Profite für die Kapitalistenklasse zu erwirtschaften.

Doch nicht nur die Gewerkschaften spielen eine reaktionäre Rolle. PT, der PSOL und ihren pseudolinken Anhängsel wollen verhindern, dass sich der gesellschaftliche Widerstand in eine Richtung entwickelt, in der er tatsächlich etwas gegen die Corona-Pandemie und die sozialen Probleme der Arbeiterklasse bewirken könnte. Denn dadurch könnten die Interessen der Kapitalistenklasse und ihres Staates beeinträchtigen werden.

Diese politischen Kräfte wollen die brasilianische Arbeiterklasse von der Wahrheit abschneiden, dass sie die gleichen Interessen hat wie ihre Klassenbrüder und -schwestern in ganz Lateinamerika und der Welt.

Eine wissenschaftliche Reaktion auf die Corona-Pandemie kann nicht innerhalb der Grenzen eines einzelnen Landes erfolgreich sein. Der Kampf gegen das Coronavirus, das ohne Pass die Grenzen überquert, und für eine effektive Kampagne zur Impfung der gesamten Bevölkerung sind im Wesentlichen globale Aufgaben. Ihre Umsetzung ist nicht möglich ohne einen Kampf gegen das kapitalistische Nationalstaatensystem und das Privateigentum. Erforderlich ist eine sozialistische Politik.

Diese politische Aufgabe braucht die unabhängige politische Mobilisierung der Arbeiterklasse unter Führung einer revolutionären sozialistischen und internationalistischen Partei – einer brasilianischen Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale (IKVI).

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