Abschottungspolitik der EU: Erneut 43 Flüchtlinge vor der Küste Tunesiens ertrunken

Am 2. Juli sind nach Angaben des tunesischen Roten Halbmonds 43 Flüchtlinge vor der tunesischen Küste nahe der Stadt Zarzis ertrunken, als ihr völlig überfülltes Boot kenterte. 84 Menschen konnten gerettet werden. Die Flüchtlinge, die aus Ägypten, dem Sudan, Eritrea, dem Tschad und Bangladesch stammten, waren am vergangenen Dienstag nahe der libyschen Stadt Zuwarah aufgebrochen.

Bei vier weiteren Bootsunglücken vor der tunesischen Küste sind alleine in den letzten zehn Tagen knapp 50 weitere Flüchtlinge ums Leben gekommen.

Die Lage für die Flüchtlinge in Nordafrika spitzt sich in diesen Wochen immer mehr zu. Die Europäische Union weigert sich beharrlich, Flüchtlinge aus den grauenhaften, völlig überfüllten Internierungslagern in Libyen aufzunehmen, und entsendet nicht einmal eine eigenständige Rettungsmission in das zentrale Mittelmeer. Stattdessen kooperiert die EU aufs engste mit den kriminellen Banden, die als libysche Küstenwache bezeichnet werden und berüchtigt sind für die Internierung, Folterung und Versklavung von Flüchtlingen.

Der verbrecherische Charakter der Europäischen Union offenbart sich nirgends so klar wie in ihrem brutalen Umgang mit schutzsuchenden Menschen.

Drei Tage waren die 127 Flüchtlinge im südlichen zentralen Mittelmeer umhergeirrt, bis ihr Boot schließlich vor Tunesien kenterte. Unter den Geretteten waren viele Minderjährige und sogar ein Kleinkind im Alter von drei Jahren. Nicht wenige waren zuvor den höllischen Qualen der libyschen Internierungslager entkommen. Eine Frau aus Kamerun, die vom tunesischen Halbmond gerettet wurde, berichtete, sie seien dort „wie Müll behandelt und vergewaltigt worden“.

Ein Sprecher des tunesischen Halbmonds, Munji Salim, erklärte, die tunesischen Aufnahmezentren seien bereits überfüllt, da in diesem Jahr viel mehr Flüchtlinge beim Versuch, nach Europa zu gelangen, vor der tunesischen Küste verunglückt seien. Tatsächlich haben die italienischen Einwanderungsbehörden in diesem Jahr bereits knapp 21.000 angelandete Flüchtlinge registriert, mehr als dreimal so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres.

Hinzu kommen fast 15.000 Flüchtlinge, die im ersten Halbjahr 2021 von der so genannten libyschen Küstenwache aufgegriffen und zurück nach Libyen gebracht worden sind. Das sind mehr als im gesamten Jahr 2020. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration (IOM) sind in diesem Jahr mindestens 720 Flüchtlinge im zentralen Mittelmeer ertrunken, fast doppelt so viele wie zum gleichen Zeitpunkt des Vorjahres, wobei die Dunkelziffer weit höher liegt.

Gerettete Flüchtlinge an Bord der Ocean Viking (Foto: Flavio Gasperini / SOS Méditerannée)

In den letzten Wochen häufen sich bedrohliche Zwischenfälle. Die Ocean Viking der privaten Hilfsorganisation SOS Méditerranée hat bei sechs Einsätzen in maltesischen und libyschen Gewässern in den zurückliegenden fünf Tagen 572 Menschen aus Seenot gerettet und sucht nun verzweifelt einen sicheren Hafen, um die Menschen an Land zu bringen. 369 Flüchtlinge stammen von einem in libyschen Gewässern in Seenot geretteten Holzboot, das zu kentern drohte. Bei zwei vorhergehenden Rettungseinsätzen in maltesischen Gewässern hatte sie mehr als 130 Flüchtlinge aus in Seenot geretteten Booten geholt.

An Bord der Ocean Viking befinden sich nun unter anderem 183 Minderjährige. Viele der Geretteten leiden nach teils tagelanger Überfahrt an Treibstoffverbrennungen, Sonnenbrand, Dehydrierung und extremer Erschöpfung. Dennoch verweigern die Häfen an der europäischen Küste der Ocean Viking die Einfahrt, um die Flüchtlinge in Sicherheit zu bringen und medizinisch zu versorgen.

Die Rettungsmission der Ocean Viking demonstriert exemplarisch die mörderische Politik der Europäischen Union gegenüber Flüchtlingen. Die EU treibt hunderte Menschen bewusst in den Tod, um ihre Außengrenzen abzuschotten.

Die Ocean Viking ist derzeit das einzige Boot privater Rettungsorganisationen, das im zentralen Mittelmeer operiert. Andere Rettungsschiffe werden von den italienischen Behörden unter fadenscheinigen Begründungen festgehalten und am Auslaufen gehindert. Das betrifft aktuell unter anderem die Geo Barents der Organisation Ärzte ohne Grenzen, die Sea-Eye 4 und die Sea-Watch 4. Der Sea-Watch 3 wurde nun erlaubt, in ihren Heimathafen nach Spanien zu fahren, um angebliche Mängel zu beseitigen.

Da auch die EU und die NATO ihre Rettungsmissionen vollständig eingestellt haben, ist die Ocean Viking das einzig verbliebene Rettungsschiff im zentralen Mittelmeer. Dass die Zahl der Überfahrten von Flüchtlingen dennoch stark gestiegen ist, widerlegt die Behauptung der EU, die Anwesenheit von Rettungsschiffen stelle einen Pull-Faktor dar und ermutige Flüchtlinge, die Überfahrt nach Europa zu wagen. In Wirklichkeit zwingt die bedrohliche Lage im Sudan, Eritrea, Tschad, Ägypten, Syrien, Irak, Afghanistan und Bangladesch diese verzweifelten Menschen, die lebensgefährliche Reise nach Europa trotz des Risikos zu wagen.

Statt Flüchtlinge zu retten, arbeitet die EU immer enger mit der so genannten libyschen Küstenwache zusammen und liefert die Flüchtlinge wieder den Schergen aus, denen sie kurz zuvor entkommen sind. Mit welchen brutalen Mitteln die libysche Küstenwache gegen die Flüchtlinge vorgeht, zeigt ein Film der Hilfsorganisation Sea-Watch, der am 30. Juni vom Aufklärungsflugzeug Seabird aufgenommen wurde.

Die Seabird fing einen Seenotruf auf, der von einem Boot mit 50 Menschen an Bord innerhalb maltesischer Gewässer abgesetzt worden war. Auf dem Weg zum Flüchtlingsboot stieß die Seabird auf das libysche Küstenwachtboot Ras Jadir. Die Seabird informierte darauf die maltesische Küstenwache über die drohende illegale Rückführung von Flüchtlingen aus internationalen Gewässern nach Libyen, doch die maltesischen Behörden legten einfach den Hörer auf.

Als die Seabird das Holzboot mit den 50 Flüchtlingen an Bord entdeckte, wurde sie Zeuge eines brutalen Angriffs der libyschen Küstenwache. Diese schoss scharf auf das Flüchtlingsboot und stellte das Feuer erst nach mehrfachen Warnungen der Seabird ein. Dann fuhr sie mit hoher Geschwindigkeit auf das kleine Holzboot zu und drohte, es zu rammen. Die Flüchtlinge schwebten in Lebensgefahr und konnten nur mit Glück entkommen. Nach bisherigen Erkenntnissen haben sie die italienische Insel Lampedusa wohlbehalten erreicht.

Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft im italienischen Agrigento aufgrund des Filmmaterials von Seawatch Ermittlungen aufgenommen. Oberstaatsanwalt Luigi Patronaggio erklärte allerdings, das italienische Justizministerium müsse den Ermittlungen zustimmen, da ihr Ziel eine ausländische Behörde sei. Die Ras Jadir ist den libyschen Milizen zusammen mit drei baugleichen Schiffen von der italienischen Regierung zur Verfügung gestellt worden.

Die Verantwortung für die gewalttätigen Angriffe der „libyschen Küstenwache“ auf die Flüchtlinge liegt bei den Regierungen in Rom, Berlin und Paris, die Flüchtlinge um jeden Preis fernhalten wollen. Das bewusste Wegschauen und Abwarten, bis die libyschen Handlanger die Drecksarbeit übernehmen, ist mittlerweile zur üblichen Praxis geworden.

Bezeichnend ist ein Vorfall, der sich am 13. Juni ereignete. Ein mit 170 Flüchtlingen überfülltes Holzboot geriet in Seenot und setzte einen Notruf ab. Doch die maltesischen und italienischen Behörden sowie die europäische Grenzschutzagentur Frontex unterließen über zehn Stunden jede Rettungsaktion, obwohl sich die Situation an Bord zuspitzte.

Schließlich nahm das Handelsschiff Vos Triton, das unter der Flagge Gibraltars fährt und einer niederländischen Reederei gehört, die Flüchtlinge in internationalen Gewässern an Bord. Unmittelbar danach übergab es die Flüchtlinge an ein Schiff der libyschen Küstenwache, das sie gegen ihren Willen zurück nach Libyen brachte, wo sie interniert wurden.

Ganz offensichtlich handelte es sich um ein abgekartetes Spiel. Ein Handelsschiff wurde vorgeschoben und unter der Hand angewiesen, die Flüchtlinge den libyschen Schergen auszuliefern. Dabei wurde eklatant gegen internationales Seerecht verstoßen und über Mittelsmänner eine illegale Pushback-Aktion durchgeführt. Dass sich die Europäische Union gleichzeitig auf ihre Werte und Menschenrechte beruft, ist zynisch und verlogen.

Die Zusammenarbeit mit den libyschen Milizen geht so weit, dass sich die EU sogar mittelbar an den Internierungslagern für Flüchtlinge in Libyen beteiligt.

Die Zustände in diesen Lagern sind so grauenhaft, dass sich die Hilfsorganisation Ärzte ohne Grenzen kürzlich aus den letzten drei Lagern, die sie medizinisch betreute, zurückgezogen hat. Die Missionsleiterin der Hilfsorganisation in Libyen, Beatrice Lau, begründete diesen Schritt damit, dass „das dauerhafte Muster gewalttätiger Vorfälle und schwerer Verletzungen von Flüchtlingen und Migranten wie auch die Gefahr für unsere Mitarbeitenden ein Niveau erreicht hat, das wir nicht länger akzeptieren können.“

Mitte Juni waren Anschuldigungen bekannt geworden, dass Minderjährige in einem Lager, das vom EU-finanzierten libyschen Zentrum für die Bekämpfung illegaler Einwanderung unterhalten wird, vom Wachpersonal sexuell misshandelt worden seien. Die Vereinten Nationen warnen schon lange vor den unmenschlichen Zuständen in den libyschen Internierungslagern, die in den Lagern Mabani, Abu Salim und Triq al-Sika besonders besorgniserregend seien.

Der starke Anstieg der Zahl der Opfer und der illegal nach Libyen zurückgeführten Flüchtlinge ist eine direkte Folge der menschenverachtenden Flüchtlingspolitik der Europäischen Union. Sie will Flüchtlinge um jeden Preis von den eigenen Grenzen fernhalten und schreckt nicht davor zurück, zu diesem Zweck mit den kriminellsten Elementen zusammenzuarbeiten.

Auch die Behauptung der EU, im zentralen Mittelmeer gegen Menschenhändler vorzugehen, ist nur ein vorgeschobener Vorwand. Die libysche Regierung hat im April Abdulrahman Milad, einen der meistgesuchten internationalen Menschenhändler, „wegen Mangels an Beweisen“ auf freien Fuß gesetzt. Nun verdient er sein Geld als Kommandeur der libyschen Küstenwache und dient der Europäischen Union als Handlanger bei ihrer restriktiven Abschottungspolitik.

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