Johnson-Regierung kündigt Ende aller Corona-Einschränkungen an und warnt vor bis zu 100.000 Neuinfektionen täglich

„Ich möchte von Anfang an betonen, dass diese Pandemie noch längst nicht vorbei ist. Wie wir in unserem Strategieplan prognostiziert haben, steigen die Fallzahlen wieder, möglicherweise auf 50.000 pro Tag. Die Zahl der Aufnahmen in Krankenhäuser steigt, und wir müssen uns auch auf höhere Todeszahlen einstellen.“

Mit diesen Worten kündigte der britische Premierminister Boris Johnson am 5. Juli die Aufhebung aller Einschränkungen zur Eindämmung von Covid-19 an.

Am nächsten Morgen enthüllte der neu installierte Gesundheitsminister Sajid Javid die volle Tragweite der Pläne der Regierung. In der Sendung „Today“ von BBC Radio 4 sagte er, dass sich das Vereinigte Königreich auf „unbekanntem Terrain“ befinde und dass die Zahl der täglich neu auftretenden Fälle bis August sogar „bis zu 100.000 erreichen könnte“. Javid weigerte sich zu beantworten, was dies voraussichtlich für Krankenhauseinweisungen bedeuten wird.

Der britische Premierminister Boris Johnson gibt bei einer Pressekonferenz in Downing Street am 5. Juli 2021 die Abschaffung der Abstandsregeln und der Maskenpflicht in geschlossenen öffentlichen Räumen bekannt. (Daniel Leal-Olivas/Pool Photo via AP)

Ab dem 19. Juli wird es in Geschäften, Gaststätten und öffentlichen Verkehrsmitteln keine Maskenpflicht mehr geben, da die rechtliche Grundlage dafür abgeschafft wird. Es wird keine Einschränkungen der Sozialkontakte mehr geben, und auch die Regel, einen Meter Abstand zu Mitmenschen zu halten, wird abgeschafft. Alle Geschäfte dürfen wieder öffnen. Alle Corona-Regeln in Gaststätten werden ebenso aufgehoben wie Kapazitätsbegrenzungen. Massenveranstaltungen wie Musikfestivals und private Feiern werden erlaubt. In Pflegeheimen, wo aufgrund der Politik des sozialen Mordes der Regierung Zehntausende gestorben sind, wird die Höchstgrenze von fünf namentlich bekannten Besuchern abgeschafft.

Letzten Monat verschob Johnson die endgültige Aufhebung der Einschränkungen, die für den 14. Juni geplant war, weil die Wiederöffnung eines Großteils der Wirtschaft am 17. Mai zu einem starken Anstieg der Infektionen geführt hatte. Die Zahl der Infektionen, die bis dahin unter 2.000 pro Tag gefallen war, stieg massiv an, als die leichter übertragbare Delta-Variante zur vorherrschenden Variante wurde.

Heute ist die Lage viel ernster als vor einem Monat. Laut dem Office for National Statistics ist einer von 260 Menschen in England mit dem Coronavirus infiziert. Täglich werden mehr als 20.000 Neuinfektionen gemeldet, und die Fallzahlen steigen jede Woche um 74 Prozent. Am Montag wurde mit 27.334 Neuinfektionen der zweithöchste Tagesanstieg seit Ende Januar erreicht. Innerhalb der letzten sieben Tage stieg die Gesamtzahl auf 176.164 oder durchschnittlich 25.166 pro Tag. Obwohl fast zwei Drittel der Erwachsenen in Großbritannien zwei Dosen Impfstoff erhalten haben, wurden letzte Woche 122 Todesfälle gemeldet, und in den Krankenhäusern liegen 1.905 Covid-Patienten.

Am 8. Januar 2021, auf dem Höhepunkt der Pandemie, stieg die Zahl der Infizierten um 67.000 pro Tag. Johnson-Regierung gibt zu, dass es bereits im nächsten Monat 100.000 Infizierte pro Tag geben könnte, d.h. so viele wie nie zuvor. Dutzende Millionen Menschen, hauptsächlich Schüler und Jugendliche, sind noch nicht geimpft. Wenn sich das Virus ungehindert ausbreiten kann, werden auch die Todeszahlen in die Höhe schnellen.

Schottland, der Nordosten und der Nordwesten von England gehören zu den Regionen mit den höchsten Fallzahlen in ganz Europa. Laut der Weltgesundheitsorganisation befinden sich sieben der neun Regionen, die diese Woche in Europa am stärksten betroffen sind, in Großbritannien. Außer Großbritannien enthält die Liste nur zwei andere Länder, Kasachstan und Russland. Schottland, mit einer Bevölkerung von fünf Millionen, hat mit schätzungsweise einem Infizierten pro 150 Menschen die höchsten Covid-19-Raten in Großbritannien. Die höchste bekannte Rate auf der Liste der WHO ist in Tayside, wo 1.146 von 100.000 Menschen infiziert sind.

Die Abschaffung von Maßnahmen, die zusammen mit dem Impfprogramm viele Menschenleben gerettet haben, wird gegen wissenschaftliche Empfehlungen durchgesetzt. Im Vorfeld von Johnsons Rede hatte Mark Woolhouse, Professor für Epidemiologie von Infektionskrankheiten an der Universität Edinburgh, gewarnt: „Großbritannien befindet sich in einer absolut einzigartigen Lage... Wir haben den größten Ausbruch von Delta in einem gut geimpften Land. Wir sind eine Petrischale für die Welt.“

Auch ein Großteil der Bevölkerung lehnt die Aufhebung der Einschränkungen ab. YouGov veröffentlichte am Mittwoch eine Umfrage, laut der fast drei Viertel der Bevölkerung (71 Prozent) die Maskenpflicht in öffentlichen Verkehrsmitteln beibehalten wollen. Zwei Drittel (66) Prozent erklärten, sie sollte auch in Geschäften und geschlossenen öffentlichen Räumen beibehalten werden. Mehr als zwei Drittel (70 Prozent) erklärten, sie würden sich an einem überfüllten oder ungelüfteten Ort weniger sicher fühlen, wenn dort keine Masken getragen würden.

Das Recht auf Arbeit unter sicheren Bedingungen wird bewusst missachtet. Auf die Frage, ob Arbeiter wegen gesundheitlichen Bedenken die Arbeit verweigern dürfen, erklärte Johnsons Sprecher, die Regierung führe mit der Aufhebung der Einschränkungen keine neuen Arbeitnehmerrechte ein.

Diese Politik vertritt die gesamte Kapitalistenklasse. Als Johnson die Aufhebung der Einschränkungen ankündigte, wurde er von seinen Jasagern, Chief Medical Officer Chris Whitty und Chief Scientific Officer Sir Patrick Vallance, begleitet. Die schottische Regierung unter der Scottish National Party will nur wenige Wochen nach Johnson, am 9. August, alle verpflichtenden Einschränkungen aufheben.

Einer der bekanntesten Befürworter der Wiederöffnung der Wirtschaft ist Gesundheitsminister Sajid Javid, der Nachfolger des diskreditierten Matt Hancock. Er wurde Johnson als entschlossenerer Befürworter der Abschaffung aller Einschränkungen für diese Position empfohlen. Am Sonntag twitterte Javid: „Wir werden lernen müssen, mit Covid zu leben und damit zurechtzukommen, wie wir es bereits mit der Grippe getan haben.“ Dazu verlinkte er auf einen von ihm verfassten Artikel in der Lockdown-feindlichen Zeitung Mail on Sunday.

Die Daily Mail widmete am Montag zwei Seiten in ihrer Zeitung der Verteidigung von Javid gegen wissenschaftliche „Untergangspropheten“, die ihn für seine Gleichsetzung von Covid-19 und der Grippe attackiert hatten. Einer derjenigen, die dort lächerlich gemacht wurden, war Professor Stephen Reicher, ein Mitglied eines Unterausschusses der wissenschaftlichen Beratergruppe für Notfälle der Regierung (SAGE), die auf Verhalten spezialisiert ist. Reicher hatte es als „beunruhigend“ bezeichnet, „dass unser ,Gesundheitsminister‘ Covid noch immer für eine Grippe hält und dass er sich nicht für das Infektionsgeschehen interessiert. Dass er nicht merkt, dass diejenigen, die das Beste für die Gesundheit tun, auch das Beste für die Wirtschaft tun. Vor allem ist es beunruhigend, wenn ein ,Gesundheitsminister‘ den Schutz zur persönlichen Entscheidung machen will, wenn die wichtigste Botschaft der Pandemie ist: Hier geht es nicht um das ,ich‘, sondern um das ,wir‘.“

Die Herdenimmunitätspolitik der Johnson-Regierung hat stark zur Ausbreitung von Covid-19 durch die Verbreitung tödlicherer Varianten beigetragen, darunter auch der Alpha-Variante, die im letzten Herbst entstanden war. Auch die Ausbreitung der Delta-Variante wurde hingenommen, sodass die Zahl der Infizierten innerhalb weniger Monate von einigen wenigen auf Zehntausende angestiegen ist.

Ein weiteres Ziel der rechten Medien ist Professorin Susan Michie vom University College London, die ebenfalls dem Unterausschuss für Verhalten der SAGE angehört. Sie hatte auf Twitter über die Politik der Regierung geschrieben: „Einen Anstieg der Mensch-zu-Mensch-Übertragungen zu erlauben, kommt dem rasanten Aufbau neuer ,Variantenfabriken‘ gleich.“

Die Leitartikel von Montag machten unmissverständlich deutlich, dass die herrschende Elite die Corona-Einschränkungen als Hindernis für die Anhäufung von Reichtum und Profiten ansieht.

Die Mail bezeichnete Hancock als „Lockdown-fixiert“ und erklärte, seit Javids Amtsübernahme sei „der Wechsel im Tonfall erstaunlich gewesen... Javid scheint erfrischend begierig darauf zu sein, Großbritannien wieder in Gang zu bringen.“ Javid habe damit Recht, weil „die Gesundheit und der Reichtum des Landes untrennbar miteinander verbunden sind. Das eine kann nicht ohne das andere existieren. Deshalb begrüßen wir das Abfackeln der Corona-Einschränkungen durch den Premierminister.“ Zuletzt attackierte die Mail „die Leichentücher schwenkenden Wissenschaftler und Ärzte“ als „Untergangspropheten“, gegen die man sich „durchsetzen müsse“.

Der Daily Telegraph forderte Johnson auf, nicht erneut auf Lockdown-Maßnahmen zurückzugreifen: „Die Schulen müssen im Herbst wieder geöffnet werden, ungehindert von der Pflicht, Schüler zu isolieren, wenn einer von ihnen Covid bekommt... Wie wir seit Monaten argumentiert haben, ist dieses Virus endemisch. Man wird damit leben müssen wie mit anderen Krankheiten wie der Grippe.“

Die Bevölkerung solle „sich keinen Illusionen hingeben: Wenn der Winter kommt, werden sich Atemwegserkrankungen wie Covid und Influenza wieder ausbreiten. Menschen werden erkranken und Tausende werden sterben, so wie es jedes Jahr geschieht. Wenn es passiert, wird die Regierung sich der unweigerlichen Forderung nach weiteren Lockdown-Maßnahmen verweigern müssen, wenn der 19. Juli ein wirklich unumkehrbarer Moment sein soll.“

Labour-Schattengesundheitsminister Jonathan Ashworth klagte am Montag, Javids Forderung nach einem Ende der Einschränkungen sei „keine Garantie, dass die Einschränkungen beendet werden – es wird nur so aussehen“. Er forderte Javid auf, die Menschen weiter Masken tragen zu lassen, da „wir noch nicht aus dem Gröbsten raus sind“.

Die Gewerkschaften, die mit Labour faktisch als Partner der Tories agieren, werden ebenfalls nichts gegen die Aufhebung der Einschränkungen unternehmen.

Die wichtigste Lehre aus den letzten eineinhalb Jahren ist diejenige, dass die weltweite Arbeiterklasse nicht nur mit einer Katastrophe der öffentlichen Gesundheit konfrontiert ist, sondern auch mit einer politischen Krise. Eine herrschende Elite, deren einzige Sorge es ist, ohne Rücksicht auf die Gesundheit und das Leben der Arbeiter immer reicher zu werden, behandelt die Arbeiter mit Verachtung. Diese Elite regiert durch Parteien, die, unabhängig von ihrer formellen Couleur, ergeben die Interessen des Großkapitals durchsetzen. Der tödliche Kurs der herrschenden Klasse kann nur durch einen vereinten Kampf der Arbeiter beendet werden, dessen Grundlage der Kampf für ein sozialistisches Programm und der Vorrang von Menschenleben vor den Profiten der Kapitalisten ist.

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