Proteste im polnischen Gesundheitswesen weiten sich aus

Die Proteste im polnischen Gesundheitssystem sind in die vierte Woche eingetreten. Zur Auftaktdemonstration am 11. September waren allein in Warschau 40.000 Beschäftigte aus allen Bereichen des Gesundheitswesen auf der Straße. Auslöser war die Ankündigung der Regierung die Erhöhung des Gesundheitsbudgets zu verschieben und erst 2027 die Ausgaben auf sieben Prozent des BIP zu steigern. Am 17. September wurde das entsprechende Gesetz im polnische Parlament, dem Sejm, verabschiedet. Demnach soll das Budget gestreckt auf sechs Jahre um nur 85 Milliarden PLN (rund 19 Milliarden Euro) steigen — angesichts der katastrophalen Zustände im Gesundheitswesen und der Pandemie ist dies eine geradezu beleidigende Summe.

Protestierende Pflegekräfte in Polen

Polens Gesundheitssystem ist berüchtigt für seine Niedriglöhne, akuten Personalmangel und miserablen Arbeitsbedingungen. So verdienen Krankenpfleger im Durchschnitt 3000 Złoty netto im Monat, das sind etwa 659 Euro. Viele Mitarbeiter und gerade Ärzte sind darauf angewiesen, mehrere Stellen zu haben, sowohl um über die Runden zu kommen, aber auch um überhaupt die Grundversorgung in vielen Regionen aufrechtzuerhalten.

Insbesondere Rettungssanitäter, die sich seit Monaten massenhaft krank melden, stehen im Zentrum der Proteste. So waren am letzten Freitag zum Beispiel in Danzig die Hälfte aller Krankenwagen mangels Personal nicht im Einsatz. Parallel stellte das Universitätskrankenhaus in Zielona Góra den Notaufnahmebetrieb mangels Personal für mehrere Stunden ein. In Posen fehlte 65 Prozent, in Włocławek 70 Prozent und in Płock 80 Prozent des Personal teilten die Sprecher der Proteste mit, diese sollen bis zum 10. Oktober andauern.

Die lokale Regierung versuchte daraufhin Sanitäter der Feuerwehr und der Armee als Streikbrecher einzusetzen. Diese weigerten sich jedoch die vorbereiteten Verträge zu unterzeichnen.

Laut der Newsweek Polska arbeiten polnische Rettungssanitäter, die überwiegend 24-Stunden Schichten schieben müssen, im Durchschnitt 300 Überstunden im Jahr. Der stündliche Bruttolohn eines Rettungssanitäters in Warschau liegt dabei bei gerade einmal 24 Zloty (5,25 Euro).

Inzwischen weiten sich die Proteste auch auf andere Bereiche aus. So haben Medizinstudenten und Auszubildende des Gesundheitswesen für den 9. Oktober in mehreren Städten Proteste unter dem Motto „Młodzi z Medykami“ (Jugend mit Medizinern) angekündigt. Bei Ärzten kommt es vielfach auch zu Kündigung ihre 2. oder 3. Stelle um ihre exorbitanten Arbeitszeiten zu senken. Dadurch kommt es vielerorts zur Schließungen von Stationen z.B. Institut für Psychiatrie und Neurologie in Warschau.

Etwa 60 Prozent aller polnischen Ärzte arbeiten in mehreren Einrichtungen und zwar in Vollzeit. Trauriger Rekordhalter soll ein Arzt aus Łódź sein, der 620 Stunden im Monat arbeitete. Erschöpfung und Konzentrationsmangel durch die chronische Ermüdung stellen eine enorme Gefahr nicht nur für die Patienten dar. So verstarb erst Ende August ein 39-jähriger Anästhesist aus Wałbrzyc, der laut Kollegen Aussagen mangels Personal 96 Stunden pro Woche gearbeitet hatte.

Inzwischen haben auch Justizmitarbeiter, die ebenfalls bereits im September gegen ihre niedrigen Löhne und hohe Arbeitsbelastung demonstriert hatte, eine “rote Stadt” neben der bisherigen “weißen Stadt” der Mediziner errichtet.

Die desaströsen Zustände im polnischen Gesundheitswesen sind eine direkte Folge der Restauration des Kapitalismus durch die Führer von Solidarność und des einstigen stalinistischen Regimes. Die darauf folgenden Deregulierung und Privatisierung wurden mit dem EU Beitritt Polens 2004 nochmal verschärft. Bereits vor der Corona Pandemie unterschied sich die Lebenserwartung zwischen West- und Osteuropa um rund zehn Jahre.

Neben den Armutslöhnen ist das Gesundheitswesen gezeichnet von akutem Personalmangel. So verließen laut der Obersten Ärztekammer allein zwischen 2004-17 über 10.000 Ärzte das Land. Jeder vierte berufstätige Chirurg ist eigentlich schon Rentner. Durch Geburtenrückgänge, Abwanderungen und Schließungen von medizinischen Fachschulen bzw. Hochschulen schrumpfte allein die Anzahl der Medizinstudenten von 6.310 im Jahr 1987 auf 2070 im Jahr 2000. Bis 2020 stieg sie dann erstmals wieder auf über 5000. Das Gesundheitsministerium erklärte selbst das man Zehntausende Ärzte mehr bräuchte als man ausbildet um altersbedingte Ausfälle in den nächsten Jahren zu kompensieren.

Ebenso dramatisch ist die Situation bei den etwa 225.000 polnischen Krankenschwestern und -pflegern. Bei einem Altersdurchschnitt von 53 Jahren ist bereits ohne massiven Personalmangel gesicherte Pflege kaum noch möglich und auch hier bräuchte es jedes Jahr Zehntausende Neueinstellungen.

Die Pandemie hat alle diese seit Jahrzehnten sich verschärfenden Probleme nochmal zugespitzt. Bis jetzt gab es schon über 75.000 Tote in Polen davon 500 Mitarbeiter des Gesundheitssystem. Dabei beginnt die Delta Welle erst in Polen anzukommen. Das Gesundheitsministerium meldet jetzt wieder regelmäßig über Tausend Neuinfektionen täglich, nach dem im Sommer die Infektionsrate auf den einstelligen Bereich gesunken war.

Bisher sind nur rund 20 Millionen Polen vollständig geimpft, etwa 51 Prozent der Bevölkerung, während jeder Vierte gar keinen Impfschutz hat. Prof. Andrzej Pławski von der Polnischen Akademie der Wissenschaften warnt daher vor weiteren 40.000 Toten bis Ende des Jahres durch COVID-19. Obwohl Gesundheitsminister Adam Niedzielski von täglich 5000 Neuinfektionen bereits Ende Oktober ausgeht, lehnte er neue landesweite Beschränkungen und Lockdownmaßnahmen kategorisch ab.

Die Proteste im polnischen Gesundheitswesen entwickeln sich im Rahmen einer hochexplosiven Klassenentwicklung in Polen und international. Auch in den USA und in Deutschland ist es in den letzten Wochen zu wichtigen Streiks von Arbeitern in der Autoindustrie, im Gesundheitswesen und bei der Bahn gekommen. In Polen verlangen neben den Arbeitern des Gesundheitswesens Millionen Arbeiter des öffentlichen Dienstes, darunter Lehrer und Angestellte des Justizwesens, eine 12,5-Prozentige Lohnerhöhung.

Zudem stehen angesichts des beschlossenen Kohleausstieg Kämpfe der rund 100.000 Kohlekumpel bevor. Seit Monaten steigen insbesondere Energiepreise rasant an, während die Inflationsrate bei 4 Prozent liegt. Das Journal Polityka warnte angesichts des wachsenden sozialen Unmuts jüngst vor einem “heißen Herbst” und Massenstreiks und Protesten in zahlreichen Industriezweigen.

Die ultra-rechte Regierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) hat gegenüber den Arbeitern eine provokative und kompromisslose Haltung eingenommen.

Sie weigert sich bis heute auch nur den Premierminister Mateusz Morawiecki an den Verhandlungstisch zu schicken, wie von den Demonstranten in Warschau gefordert, und hat bei Verhandlungen mit den Gewerkschaften selbst die kleinsten Zugeständnisse verweigert und setzt offen auf eine Verzögerungstaktik, um die Arbeiter zu zermürben. Auch in Gesprächen mit Gewerkschaften des öffentlichen Dienstes hat die PiS eine harte Haltung eingenommen.

Die PiS-Regierung ist in weiten Teilen der Bevölkerung verhasst und steckt vor allem seit den seit den Massenprotesten gegen das neue Abtreibungsgesetz in einer tiefen Krise. Bei Umfragen liegt das PiS Wahlbündnis das mit sozialen Populismus sowohl 2015 als auch 2019 noch die absolute Mehrheit gewann aktuell nur noch bei 35 Prozent. Zuletzt kamen auch massive Koalitionskonflikten wegen Streitigkeiten mit der EU auf, und es gibt zunehmende Gerüchte über die Vorbereitung eines „Plexit“, also einen polnischen EU Austritt.

Unter diesen Bedingungen eines wachsenden Klassenkonflikts und enormer politischer Instabilität sind die Gewerkschaften die wichtigste Stütze der polnischen Bourgeoisie und bemühen sich verzweifelt, die Entwicklung einer breiten Streikbewegung der Arbeiterklasse zu verhindern. Trotz der offen provokanten Haltung der Regierung, hält das nationale Streik- und Protestkomitee, das sich aus verschiedenen Gewerkschaften und Berufsverbänden des Gesundheitswesens zusammensetzt, weiterhin an den ergebnislosen Verhandlungen mit der Regierung fest und will diese bis mindestens zum 7. Oktober weiterführen.

Das Komitee organisiert dabei praktisch nur das Protestcamp „Białe miasteczko 2.0“ in Warschau (weiße Stadt 2.0), die meisten anderen Aktionen von Ärzten und Rettungssantitätern zur Ausweitung der Proteste scheinen sich unabhängig von den Gewerkschaften entwickelt zu haben.

Hinter verschlossenen Türen wird zweifellos ein Ausverkauf der Arbeiter vorbereitet. Einige Gewerkschaften haben sogar bereits damit begonnen. So unterzeichnete am 21. September die Regierung ein Abkommen mit der Teilgewerkschaft für Rettungssanitäter (OZZRM) und dem jeweiligen Verband der Arbeitgeber (SP ZOZ). Kernstück ist eine 30-prozentige Reisekostenpauschal-Zulage zum Lohn und ein Mindestlohn von 40 PLN (etwa 8,74 Euro), für einen Teil der Sanitäter. Sowohl bei den Protestierenden im Protestcamp als auch auf der Facebook Seite der OZZRM gab es erboste Kommentare. So schreibt Piotr, ein Sanitäter aus Szczecin „ihr Abkommen ist wertlos“ und „die Gemeinschaft wurde verkauft“. Auch die oberste Kammer der Apotheker hat bereits ein separates Abkommen geschlossen und ebenso das Protestbündnis verlassen.

Vor allem versuchen die Gewerkschaften systematisch zu verhindern, dass der Kampf der Arbeiter sich weder innerhalb des Gesundheitswesens noch darüber hinaus ausweitet. Der Gewerkschaftsbund OPZZ hat sich bislang gänzlich in Schweigen gehüllt, obwohl die meisten Lehrer bei ihm organisiert sind. Im Jahr 2019 haben die Gewerkschaften, in enger Zusammenarbeit mit der liberalen Oppositionspartei PO (Bürgerplattform), einen landesweiten Lehrerstreik ausverkauft, und damit die PiS-Regierung in der Situation ihrer bislang schärfsten Bedrohung seitens der Arbeiterklasse gerettet.

Die im nationalen Streik- und Protestkomitee organisierten Gewerkschaften und Verbände haben ebenfalls eine lange Geschichte von ausverkauften Kämpfen hinter sich. So ist die Gewerkschaft der Krankenschwestern und Hebammen OZZPiP, wie der gesamte Gewerkschaftsverbund FZZ, eng mit Regierungs- wie Oppositionsparteien verbunden. Führende Gewerkschafter wie Lucyna Dargiewicz oder Dorota Gardias kandidierten auf Listen der PiS oder der ex-stalinistischen Sozialdemokratischen Partei Polens (SDPL).

Die Ärztegewerkschaft, PR OZZL, hatte zum Beispiel erst 2018 ihren von Hungerstreiks begleiteten Protest für mickrige Zugeständnisse beendet die unter anderem nur eine Erhöhung der Gesundheitsausgaben auf 6 Prozent des BIP bis 2024 vorsah. Für den protestierenden Ärzteverband „Porozumienie Zielonogórskie“ trat mit Marek Twardowski sogar ein Vertreter 2007 der PO- Regierung von Donald Tusk bei.

Um einen erneuten Ausverkauf zu verhindern, müssen Arbeiter in Polen neue unabhängige Organisationen aufbauen und ihre Kämpfe branchen- und länderübergreifend verbinden. Das Internationale Komitee der Vierten Internationale kämpft für den Aufbau einer internationalen Allianz von Aktionskomitees, die unabhängig von den Gewerkschaften sind und direkt der Kontrolle von Arbeitern unterstehen. Wir appellieren an all unsere polnischen Leser den Kampf dafür aufzunehmen und mit uns in Kontakt zu treten.

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