Türkei: Inmitten der Pandemie breiten sich spontane Streiks gegen die Teuerung aus

Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan verfolgt eine offene Durchseuchungspolitik; sie hat auch die letzten Maßnahmen gegen Covid-19 aufgehoben. Derweil breitet sich in der ganzen Türkei eine Welle spontaner Streik aus, die sich an den explodierenden Lebenshaltungskosten entzündet.

Diese Streiks sind Teil einer Bewegung der Arbeiterklasse in der ganzen Welt, die sich gegen die tödliche Pandemiepolitik und ihre wirtschaftlichen und sozialen Folgen erhebt. Zum Ziel dieser Bewegung, eine Änderung der Pandemiepolitik zu erzwingen, heißt es in der Neujahrserklärung der World Socialist Web Site: „Die Umsetzung einer wissenschaftlich geleiteten und fortschrittlichen Antwort auf die Pandemie ist nur in dem Maß möglich, wie diese Politik die notwendige soziale Grundlage in einer globalen Massenbewegung der Arbeiterklasse findet.“

Während die Zahl der täglichen Corona-Fälle in der Türkei am Dienstag erstmals die 100.000er-Marke überschritt, und die Rate der positiven Tests sich der 25-Prozentmarke nähert, behaupten die Erdoğan-Regierung und besonders ihr Gesundheitsminister Fahrettin Koca immer wieder, dass „kein Grund zur Sorge“ bestehe.

Die Zahl von täglich etwa 200 Todesfällen durch eine Krankheit, die man längst hätte eliminieren können, wird offiziell als „normal“ bezeichnet. Gleichzeitig sorgen nun die ständig steigenden Lebenshaltungskosten unter Millionen Arbeitern für Wut und Widerstand.

Laut einer Studie der unabhängigen Inflation Research Group (ENAGroup) stieg die offizielle jährliche Inflation in der Türkei im Dezember auf 36 Prozent; die reale Inflation lag da jedoch schon bei über 82 Prozent. Außerdem ist die Inflation im Januar wahrscheinlich noch viel höher angestiegen. Die Preise für Strom, Miete und Grundnahrungsmittel sind um mehr als 100 Prozent gestiegen. Damit kommen Millionen von Arbeiterfamilien nicht mehr über die Runden.

Die Inflation wird die 50-prozentige Erhöhung des Mindestlohns für 2022 rasch aufzehren. Während sich die Regierung mit dieser Erhöhung brüstet, die sogar unter der realen jährlichen Inflationsrate liegt, hat der regierungsnahe Gewerkschaftsdachverband Türk-İş im Januar 2022 die „Hungergrenze“ mit 4.249 Türkische Lira (274 Euro) angesetzt. (Die „Hungergrenze“ bezeichnet die „monatlichen Ausgaben für Lebensmittel, die eine vierköpfige Familie für eine gesunde, ausgewogene und angemessene Ernährung benötigt“.) Die Summe entspricht genau dem neuen Mindestlohn. Dem Bericht zufolge ist die Armutsgrenze auf 13.843 Türkische Lira (892 Euro) angestiegen.

Streikende Autoarbeiter von Farplas in Gebze, Provinz Kocaeli am Stadtrand von Istanbul (Foto: @ersoyirsi Twitter)

Unter diesen Bedingungen treten immer mehr Arbeiter spontan in den Streik gegen unzureichende Lohnerhöhungen und die anhaltende Verschlechterung des Lebensstandards. Nur einen Monat nach Jahresbeginn 2022 erlebt die Türkei eine Welle spontaner Streiks, die die Streikaktivität in einem ganzen Jahr übertrifft. Diese Streiks zeichnen sich dadurch aus, dass sie größtenteils unabhängig von den Gewerkschaften, als Initiativen von Arbeitern entstehen, die keine Gewerkschaftsmitglieder sind.

  • In der ersten Woche des neuen Jahres streikten rund 200 Arbeiterinnen auf dem Obst- und Gemüsemarkt Tarsus in der Stadt Mersin (türkische Mittelmeerküste), um eine Lohnerhöhung zu bekommen.
  • Am 12. Januar streikten die Metallarbeiter der Çimsataş-Fabrik in Mersin gegen einen schlechten Vertrag, den der türkische Metall-Arbeitgeberverband (MESS) mit drei Gewerkschaften abgeschlossen hatte, und der für rund 150.000 Arbeiter gelten soll. Der spontane Streik von über 700 Beschäftigten wurde beendet, als die Unternehmensleitung sich mit der Gewerkschaft Birleşik Metal-İş einigte, die der „linken“ DİSK angehört. 13 Beschäftigte wurden entlassen.
  • Am 17. Januar legten rund 700 Beschäftigte der Eisenerzminen in Divriği (zentraltürkischen Provinz Sivas) die Arbeit nieder, nachdem das Unternehmen Forderungen nach Lohnerhöhungen und Sozialleistungen abgelehnt hatte. Die fast dreitägige Arbeitsniederlegung endete, als die Unternehmensleitung einige Zugeständnisse machte, während sie jedoch wichtige Forderungen weiterhin ablehnt.
  • Am 19. Januar legten mehr als 2.300 Beschäftigte der Autokomponentenfabrik Farplas Otomotiv in Gebze, Provinz Kocaeli, die Arbeit nieder, um gegen zu geringe Lohnerhöhungen zu protestieren. Der Farplas-Konzern unterhält Fabriken in sieben Ländern und beliefert Autokonzerne wie Ford, Mercedes, Renault, Volvo und Tesla. Das Farplas-Management versprach bei einem Treffen mit Arbeitervertretern, dass die Löhne erhöht und keine Arbeiter entlassen würden. Dennoch wurden fast 150 Beschäftigte, die im Streikverlauf Mitglied von Birleşik Metal-İş geworden waren, entlassen. Daraufhin besetzten die Arbeiter Ende Januar das Werk. Bei einer massiven Polizeirazzia am frühen Morgen wurden mehr als 100 Beschäftigte und mehrere Gewerkschaftsfunktionäre verprügelt und festgenommen. Arbeiter aus nahe gelegenen Fabriken eilten herbei, um ihren Kollegen beizustehen.
  • Ende Januar legten 40 Bergarbeiter in der südöstlichen Stadt Şırnak die Arbeit nieder und forderten eine Lohnerhöhung. Nach Angaben der Agentur Mezopotamya begründeten die Arbeiter ihren Streik damit, dass ihre Löhne nicht erhöht worden seien und sie faktisch unter Lohnverlust arbeiteten.
  • Spontane Streiks breiten sich vor allem unter den Kurierdiensten aus. Am 25. Januar schlugen Tausende von Autokurieren von Trendyol das Angebot einer Lohnerhöhung von 11 Prozent aus und legten landesweit die Arbeit nieder. Diese Kuriere arbeiten als unabhängige Zusteller für Trendyol, die größte türkische E-Commerce-Plattform. Die Kuriere hatten eine 50-prozentige Erhöhung gefordert, erhielten jedoch auch nach dem Streik nur 38 Prozent. Das Ergebnis hat dennoch auch Beschäftigte anderer Frachtunternehmen veranlasst, die Arbeit niederzulegen, weil sie noch weniger verdienen.
  • Am selben Tag protestierten fast 60 unabhängige Kuriere bei Aras Kargo in der westlichen Stadt Denizli gegen eine Lohnerhöhung von nur 10 Prozent.
  • Tausende von Kurieren bei Yemek Sepeti setzen ihren spontanen Streik seit Tagen fort. Sie fordern ein Mindestgehalt von 5.500 TL (354 Euro) plus Sozialleistungen und die Anerkennung einer Gewerkschaft. Die Kuriere hielten am Donnerstag eine Massenkundgebung vor dem Hauptsitz des Unternehmens in Istanbul ab.
  • Die Kuriere von Hepsijet lehnten ebenfalls eine 28-prozentige Gehaltserhöhung ab und legten in Istanbul, Ankara und andern Städten die Arbeit nieder. Sie fordern den gleichen Lohn wie die Kuriere von Trendyol.
  • Die Kuriere von Scotty lehnten ebenfalls eine Gehaltserhöhung von 22 Prozent ab und brachen Lohnverhandlungen ab. Sie organisierten einen Protest vor der Unternehmenszentrale in Istanbul und forderten eine Gehaltserhöhung von 40 Prozent.
  • Auch die Kuriere von Yurtiçi Kargo, einem der größten Frachtunternehmen der Türkei, brachen am Dienstag Lohnverhandlungen ab. Die Beschäftigten lehnten das Angebot einer Lohnerhöhung von 17 Prozent ab und forderten stattdessen 40 Prozent, außerdem die Wiedereinstellung der entlassenen Streikenden.
  • Die Beschäftigten der Fabrik Alpin Socks im Istanbuler Stadtteil Beylikdüzü, die für Adidas, Decathlon, Carrefour und H&M produziert, legten die Arbeit nach einem unzureichenden Lohn-Angebot nieder. Nach einem Treffen zwischen Arbeitervertretern und dem Firmenchef am Mittwochmorgen akzeptierte das Unternehmen eine Lohnerhöhung von 2.500 TL (160 Euro) und den Verzicht auf alle Entlassungen. Dies löste spontane Streiks in mehreren anderen Sockenfabriken von Istanbul aus.
  • Am Dienstag lehnten die Beschäftigten der Kızılay-Fabrik für Getränkeprodukte in der osttürkischen Stadt Erzincan eine 22-prozentige Lohnerhöhung ab und stellten die Produktion ein. Darauf traten auch 150 Beschäftigte der Kızılay-Mineralwasserfabrik im westanatolischen Afyonkarahisar in den spontanen Streik und forderten eine angemessene Lohnerhöhung, die Rücknahme aller Kürzungen und die Anerkennung ihrer Gewerkschaft. Berichten zufolge rief die Betriebsleitung Polizei zu Hilfe, um ihre Kontrolle über die Fabrik zu sichern.
  • Bei dem Folienhersteller Polibak, einem der 500 größten Industrienternehmen der Türkei, stoppten 80 Beschäftigte der Verpackungsabteilung am Dienstag die Produktion im Werk Çiğli in İzmir und forderten mehr Lohn. Wie die Wochenzeitung Kızıl Bayrak berichtet, kehrten die Beschäftigten nach einem zweistündigen Protest an ihren Arbeitsplatz zurück und gaben der Unternehmensleitung eine Woche Zeit, um ihre Forderungen zu erfüllen.
  • Am Kernkraftwerks Akkuyu, das der russische Staatsbetrieb Rosatom errichtet, legten 250 Bauarbeiter die Arbeit nieder, nachdem sie zwei Monate lang ohne Lohn gearbeitet hatten. Berichten zufolge wurden Polizeieinheiten auf die Baustelle geschickt. Ein Arbeiter sagte gestern gegenüber der Tageszeitung Sözcü: „Wir haben seit zwei Monaten keinen Lohn mehr bekommen, und wir sind seit vier Tagen im Streik. Morgen wird es Massenentlassungen geben, weil wir gehandelt haben. Sie werden uns gnadenlos entlassen.“ Mehrere tausend Arbeiter sind dort beschäftigt, und obwohl sie in zahlreiche Subunternehmer aufgespalten sind, haben sehr viele von ihnen auch früher schon gegen die Verschleppung von Lohnzahlungen und die miserablen Arbeits- und Wohnbedingungen protestiert.
  • Der Widerstand gegen die steigenden Lebenshaltungskosten und die tödliche Pandemiepolitik wächst auch unter Ärzten und anderen Beschäftigten im Gesundheitswesen. Am 21. Januar traten mehrere tausend Ärzte in einen eintägigen Streik, und für den 8. Februar bereiten sich die Pflegekräfte auf einen landesweiten Streik vor. Auch Hausärzte haben für den 17. und 18. Februar eine zweitägige Arbeitsniederlegung angekündigt.

Diese Streikbewegung hat sich weitgehend unabhängig von den Gewerkschaften entwickelt. Wenn die Arbeiter zulassen, dass prokapitalistische Gewerkschaftsbürokraten die Kontrolle übernehmen, dann werden diese sie zweifellos ersticken.

Der Kampf gegen steigende Lebenshaltungskosten und soziale Ungleichheit ist eng mit dem Kampf gegen die Pandemie verbunden; dieser Kampf ist nicht zu trennen vom Kampf gegen das kapitalistische Weltsystem. Er ist von Natur aus international und muss sich gegen den Kapitalismus richten. Die World Socialist Web Site fordert alle Arbeiter auf, unabhängige Aktionskomitees aufzubauen und sich der Internationalen Arbeiterallianz der Aktionskomitees (IWA-RFC) anzuschließen.

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