Der Ukraine-Krieg, Europa und die Rückkehr des deutschen Militarismus

Am Samstag, dem 26. Februar, veranstaltete die World Socialist Web Site ein internationales Online-Webinar mit dem Titel „Covid bekämpfen und Leben retten! Kein Dritter Weltkrieg!“. Wir veröffentlichen hier den Redebeitrag von Johannes Stern, Chefredakteur der deutschsprachigen World Socialist Web Site.

In der am 25. Februar veröffentlichten Erklärung des IKVI bestehen wir darauf, dass die Invasion Russlands von Sozialisten und klassenbewussten Arbeitern abgelehnt werden muss. Wir schreiben: „Der Einmarsch in die Ukraine, wie auch immer er vom Putin-Regime gerechtfertigt wird, dient nur dazu, die russische und ukrainische Arbeiterklasse zu spalten, und spielt den Interessen des US-amerikanischen und europäischen Imperialismus in die Hände.“

Die Ereignisse haben diese Einschätzung bestätigt. Die europäischen Regierungen, allen voran die deutsche, nutzen die russische Invasion, um die Nato-Offensive weiter zu verstärken und seit langem bestehende Pläne zur Aufrüstung und Militarisierung umzusetzen.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier (SPD) besucht deutsche Soldaten in Litauen (AP Photo/Mindaugas Kulbis)

Der französische Außenminister Jean-Yves Le Drian bezeichnete die von der EU am Donnerstagabend beschlossenen Sanktionen gegen Russland als „sehr massiv und sehr stark“. Am Freitag verhängte sie Sanktionen gegen den russischen Präsidenten Wladimir Putin und Außenminister Sergej Lawrow.

Derzeit wird in der EU diskutiert, Russland aus dem internationalen Interbanken-Zahlungssystem SWIFT auszuschließen. Dies hätte verheerende Auswirkungen, insbesondere für die Arbeiterklasse. Die EU bezieht mehr als ein Drittel ihres Erdgases aus Russland. Eine Unterbrechung der Energielieferungen würde die Inflation verschärfen, die bereits den Lebensstandard der Arbeiter zerstört.

Noch rücksichtsloser und gefährlicher sind die militärischen Maßnahmen, die einen dritten Weltkrieg zwischen Atommächten auszulösen drohen.

Gestern kündigte Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg die Mobilisierung einer 40.000 Mann starken schnellen Eingreiftruppe (NRF) an und beschleunigte damit die Entsendung von Truppen, Kampfflugzeugen, Panzern und Kriegsschiffen an die Grenzen der Ukraine und Russlands.

Ausgerechnet Deutschland, das vor 80 Jahren in die Sowjetunion einfiel und Osteuropa in einen barbarischen Vernichtungskrieg stürzte, in dem sechs Millionen Juden und 27 Millionen Sowjetbürger ermordet wurden, spielt eine zunehmend aggressive Rolle.

Seit 2017 führt die Bundeswehr eine 1.000 Mann starke Nato-Battlegroup in Litauen. In den letzten Tagen sind weitere 350 Soldaten und 100 Fahrzeuge und Waffensysteme hinzugekommen.

Gestern gab das Verteidigungsministerium bekannt, dass weitere Einsätze geplant sind. Es ist die Rede von der Entsendung von Kriegsschiffen in die Ostsee, von Kampfjets nach Rumänien, von Patriot-Flugabwehrraketen ins Baltikum und möglicherweise von einem ganzen Bataillon aus Kampftruppen nach Rumänien.

Gerade heute Abend hat die Regierung angekündigt, 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Boden-Luft-Raketen vom Typ „Stinger“ „so schnell wie möglich“ in die Ukraine zu schicken.

Die gesamte herrschende Klasse befindet sich im Kriegsmodus. Führende deutsche Politiker wie Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Bundeskanzler Olaf Scholz und die grüne Außenministerin Annalena Baerbock drohen Moskau täglich, fordern eine neue Härte in der Außenpolitik und geloben eine massive Aufrüstung der Bundeswehr.

Aktive und pensionierte Offiziere treten in Talkshows auf und betonen hysterisch, die Bundeswehr sei nach dem Kalten Krieg kaputt gespart worden und müsse nun endlich wieder aufgerüstet werden. Auch den Medien kann die Militarisierung der gesamten Gesellschaft und die Mobilisierung für einen großen Krieg nicht schnell genug gehen.

So veröffentlichte die Tageszeitung Die Welt einen Artikel mit der Überschrift „Putin hat keine Angst vor dem Westen, weil wir so schwach geworden sind.“ Darin heißt es:

Die Deutschen haben in ihrer moralischen Selbstgerechtigkeit, dem Rückschritt nach den schrecklichen Jahren der Barbarei, alles unterdrückt, was zur Verteidigung notwendig ist, um sich zu positionieren. Unter dem Schutz der USA und der NATO blieb das Land halbwegs reif und unreif. Mit dem Wohlstand kam eine Form von eitler Dekadenz. Jetzt ist es klar, dass man sich wehren muss.

Wir müssen mehr an die Verteidigung denken. In der Erziehung, in der Bildung, in der Wirtschaft, in der Kultur, in den Medien. Wenn wir nicht anfangen, Realpolitik statt Moral ernst zu nehmen ... wird es eng. Putin und auch die Chinesen verstehen nur eine Politik der Stärke.

Um Trotzki zu paraphrasieren: nicht jeder der neuen deutschen Kriegshetzer könnte ein Hitler werden, aber ein Stückchen Hitler steckt in jedem von ihnen.

Der Krieg wird auch von den nominell „linken“ Parteien im Bundestag vorangetrieben. SPD und Grüne führen das Verteidigungs- und das Außenministerium, und auch die Linkspartei ist voll auf Linie. „Alles, was ich gesagt habe, was kritisch gegenüber der Nato war, ist Makulatur geworden“, erklärte gestern der Gründer und außenpolitische Sprecher der Linkspartei, Gregor Gysi.

Damit solidarisiert sich die Linkspartei nicht nur mit der Nato-Aggression gegen Russland, sondern rückblickend auch mit den völkerrechtswidrigen Angriffskriegen und Regimewechsel-Operationen in Serbien, Afghanistan, Irak, Libyen und Syrien, die Millionen Menschen das Leben kosteten.

Die offizielle Propaganda, die Nato reagiere lediglich auf Putin und verteidige Demokratie und Menschenrechte, ist eine glatte Lüge.

Tatsächlich haben die Nato-Mächte Russland seit der Auflösung der Sowjetunion systematisch eingekreist, mit dem Ziel, das rohstoffreiche Land auf einen halbkolonialen Zustand herabzusetzen, in dem es von den imperialistischen Mächten ausgebeutet und beherrscht werden kann.

Die Rückkehr des deutschen Militarismus wurde auf der Münchner Sicherheitskonferenz 2014 angekündigt. Steinmeier erklärte damals als Außenminister, Deutschland sei „zu groß und wirtschaftlich zu stark, als dass wir die Weltpolitik nur von der Seitenlinie kommentieren könnten“.

Nur wenige Tage später wurde diese Maxime in der Ukraine zum ersten Mal in die Tat umgesetzt. Gemeinsam mit Washington orchestrierte Berlin in enger Zusammenarbeit mit faschistischen Kräften wie dem Rechten Sektor und der Swoboda-Partei einen Putsch, um in Kiew ein rechtsextremes, pro-westliches Regime zu installieren. Seitdem hat die Nato die Schlinge um Russland immer enger gezogen.

Diese Politik, die sich zunehmend an Hitlers Überfall auf die Sowjetunion im Jahr 1941 orientiert, ging mit einer systematischen Rehabilitierung des Faschismus in Deutschland selbst einher. Die rechtsextreme AfD wurde aufgebaut und in das politische System integriert, die Nazi-Verbrechen relativiert. Gleichzeitig wurde die SGP vom Verfassungsschutz überwacht, weil sich ihr Programm offiziell gegen „angeblichen Nationalismus, Imperialismus und Militarismus“ richtet.

Bereits 2014 haben wir die objektiven Gründe für die Rückkehr des deutschen Militarismus analysiert und vor den gefährlichen Folgen gewarnt. In einer Resolution, die auf einer Sonderkonferenz gegen den Krieg in Berlin am 14. September 2014 verabschiedet wurde, schrieben wir:

Die Geschichte meldet sich stürmisch zurück… Die Propaganda der Nachkriegsjahrzehnte – Deutschland habe aus den ungeheuren Verbrechen der Nazis gelernt, sei ‚im Westen angekommen‘, habe zu einer friedlichen Außenpolitik gefunden und sich zu einer stabilen Demokratie entwickelt – entpuppt sich als Mythos. Der deutsche Imperialismus zeigt sich wieder so, wie er historisch entstanden ist, mit all seiner Aggressivität nach innen und nach außen.

Die Pandemie ist ein auslösendes Ereignis, das die innenpolitische Krise enorm verschärft hat. Aufgrund der Politik der Durchseuchungspolitik der herrschenden Klasse infizieren sich allein in Europa jede Woche mehr als fünf Millionen Menschen mit dem Virus, etwa 20.000 sterben. Der Krieg dient auch dazu, explosive soziale Spannungen nach außen abzulenken und die wachsende Opposition unter Arbeitern und Jugendlichen zu unterdrücken.

Die herrschende Klasse weiß, dass mit der Frage des Krieges auch das Gespenst der Revolution wieder auf der Tagesordnung steht. Das ist ein Grund, warum Putin in seiner Rede am Montag die Oktoberrevolution, Lenin und die Bolschewiki scharf angegriffen hat. Die imperialistischen Kriegstreiber in den USA und Europa und die russische Oligarchie, die aus der Zerschlagung der Sowjetunion durch die Stalinisten hervorgegangen ist, sind sich in ihrem Hass auf den Sozialismus einig.

Um die Gefahr eines dritten Weltkriegs abzuwenden, muss, wie wir in der IKVI-Erklärung schreiben, „der sozialistische Internationalismus, der die Oktoberrevolution von 1917 inspirierte und zur Gründung der Sowjetunion als Arbeiterstaat führte, in Russland und der ganzen Welt zu neuem Leben erweckt werden“. Das bedeutet den Aufbau einer internationalen Antikriegsbewegung, gestützt auf die Arbeiterklasse in Russland, der Ukraine, Europa, den USA und weltweit, die für den Sturz des Kapitalismus und für die sozialistische Weltrevolution kämpft.

Loading