NSU-2.0-Prozess: Der Staat versucht seine Spuren zu vertuschen

Vor zwei Wochen, am 15. Februar, begann vor dem Landgericht Frankfurt der sogenannte NSU-2.0-Prozess. Zwischen August 2018 und März 2021 waren unter dem Kürzel „NSU 2.0“ hunderte Drohbriefe an Künstler, Anwälte und Politiker versandt worden. Sie wurden darin beschimpft und u.a. mit Mord bedroht. Die Briefe enthielten, was besonders brisant war, geschützte persönliche Daten über Wohnadressen und Familienmitglieder der Betroffenen, die nur der Polizei bekannt waren.

Bereits jetzt zeichnet sich ein altbekanntes Muster ab. Angeklagt ist nur ein angeblicher Einzeltäter, der 54-jährige Alexander M. aus Berlin. Ihm legt die Staatsanwaltschaft Bedrohung, Nötigung und Beleidigung zur Last. Die Frage nach den Hintergründen, Helfern und Mittätern – vor allem aus den Reihen der Polizei – wird dagegen vertuscht. Wie schon im Münchener Prozess gegen den NSU (Nationalsozialistischer Untergrund), der zwischen 2000 und 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordete, werden die zahlreichen Indizien und Beweise, die zum Staatsapparat, zur Polizei und zum Verfassungsschutz führen, ignoriert.

Ein Blick in die derzeitige Faktenlage zeigt eindeutig, dass es sich 1.) nicht um einen Einzeltäter gehandelt haben kann, und dass 2.) mindestens ein Polizeibeamter dem Verdächtigten Alexander M. bei der Datenabfrage an einem Polizeicomputer in Frankfurt geholfen haben muss. Trotzdem erhebt die Staatsanwaltschaft keine Anklage gegen Polizeibeamte und hüllt sich in Schweigen über die Gründe. In ihrer Anklageschrift versucht sie nicht einmal zu erklären, durch wen es zu der Datenabfrage im Frankfurter 1. Polizeirevier gekommen ist. Die Ermittlungen hätten schlicht zu keinem Ergebnis geführt.

Am ersten Verhandlungstag wurde zunächst die 124-seitige Anklageschrift verlesen. Dem Angeklagten M. wird vorgeworfen, insgesamt 116 Drohschreiben verfasst und versandt zu haben. In Anlehnung an die rechtsextremen Mörder und Neonazi-Terroristen der Gruppe NSU wurden Personen wie die Anwältin Seda Başay-Yıldız, die Kabarettistin Idil Baydar und die damalige Vorsitzende der Linksfraktion im hessischen Landtag, Janine Wissler, unter dem Kürzel „NSU-2.0“ via Email, Fax und SMS angeschrieben.

Andere Betroffene waren die Satiriker und Comedians Jan Böhmermann, Christian Erich, Caroline Kebekus, die Politiker Martina Renner (Die Linke), Jutta Dithfurt (Ökolinx), Sawsan Chebli (SPD), Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth (Grüne), Katja Kipping (Die Linke), Katrin Göring-Eckardt (Grüne), Karamba Diaby (SPD) sowie die die taz-Kolumnistin Hengameh Yaghoobifarah, die Journalisten Deniz Yücel und Anja Reschke sowie der Publizist Michel Friedman.

M. soll 85 Straftaten begangen haben, darunter 67 extreme Beleidigungen, öffentliche Aufforderungen zu Straftaten, Volksverhetzung, Besitz kinder- und jugendpornografischer Schriften und einen Verstoß gegen das Waffengesetz.

Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız mit Abdulkerim Şimşek am Tag der Urteilsverkündung im NSU-Prozess (Bild: Henning Schlottmann/CC BY-SA 4.0/Wikimedia commons)

Alles begann damit, dass am 2. August 2018 Başay-Yıldız ein erstes Schreiben erhielt, in dem unter Nennung ihrer korrekten Adresse und dem Namen ihrer kleinen Tochter gedroht wurde: „Als Vergeltung für 10.000 Euro Zwangsgeld schlachten wir deine Tochter.“ Die Anwältin hatte im NSU-Prozess in den Jahren 2013 bis 2018 die Familie des ersten Mordopfers des NSU, Enver Şimşek, vertreten. In diesem widerlichen Ton sind sämtliche Briefe gehalten.

Dem Angeklagten drohen fünf Jahre Haft. Er war am 3. Mai 2021 in seiner Berliner Wohnung festgenommen worden, nachdem die Polizei zuvor jahrelang angeblich erfolglos ermittelt hatte. Bei dem Einsatz soll er eine Schreckschusspistole gezogen haben. Auf dem Rechner des erwerbslosen Informatikers fanden sich Drohschreiben, die den versandten ähnelten.

Sein Hintergrund passt gut zu den Straftaten. In seiner Vergangenheit soll er sich als Beamter ausgegeben haben, um an Informationen seiner ehemaligen Lehrerin zu kommen. Er war auf rechtsextremen Blogs unterwegs, wo er sich u.a. „SS-Obersturmbannführer“ nannte. Auch sein Auftreten im Gerichtssaal ist sehr aggressiv: er unterbrach wiederholt Richterin und Staatsanwaltschaft, den Kameras der Presse hielt er seine beiden Mittelfinger entgegen.

Als erste Zeugen sagten Başay-Yıldız und Mehmet Daimagüler aus, beide Anwälte von NSU-Opfern. Sie berichteten, wie die mit persönlichen Informationen versehenen Drohbriefe und die mögliche Beteiligung von Polizisten sie massiv psychisch unter Druck setzten.

Über ein Dutzend Briefe erreichten Başay-Yıldız. Auch ihre Eltern und deren Geburtsdaten wurden darin genannt, ihre neue, als geheim eingestufte Adresse wurde ins Internet gestellt. Unbekannte liefen um ihr Haus und machten Fotos. Die Identität dieser Personen ist bis heute ungeklärt. Für Başay-Yıldız ist klar, dass mindestens am ersten Schreiben Helfer bei der Polizei beteiligt waren.

Nur 90 Minuten vor dem Eingang des ersten Drohschreibens am 2. August 2018 wurden ihre Daten auf einem Polizeicomputer im 1. Revier in Frankfurt am Main abgefragt. Insgesamt wurden 17 Anfragen zu Daten der Anwältin ohne dienstlichen Anlass gestellt. Erfahrene Ermittler sagen, dass derart umfassende Abfragen sehr ungewöhnlich seien. In der Regel werden sie getätigt, wenn nach einer Verhaftung die Identität des Verdächtigten unbekannt ist. Eine solche Abfrage dauere etwa sechs Minuten.

Von den sechs Beamten, die in dieser Zeit Zugriff zum Polizeicomputer hatten, wollte sich keiner daran erinnern, wer ihn in dieser Zeit nutzte. Auch an fingierte Anrufe von außen erinnerte sich niemand. Alle schweigen seitdem bis heute.

Nach einer Durchsuchung am 11. September 2018 beschlagnahmten die Ermittler des LKA bei der Beamtin, unter deren Account die Abfrage stattfand, ein Telefon, auf welchem sich eine rechtsextreme Whatsapp-Chatgruppe befand. Darin tauschten sechs Polizeibeamte und eine Privatperson Bilder mit Nazisymbolen (u.a. von Hakenkreuzen und Adolf Hitler) und menschenverachtende Witze über Juden, Menschen mit Behinderungen und Flüchtlinge. Nach Angaben der Süddeutschen Zeitung informierte die Frankfurter Polizei das Landeskriminalamt nicht über die Chatgruppe.

Am 25. Oktober 2018 kam es in Kirtorf zu einer Hausdurchsuchung bei Johannes S., einem der Beamten des 1. Reviers, bei der ein „museal eingerichtetes“ Zimmer vorgefunden wurde, gefüllt mit Nazi-Devotionalien. Genau dieser Beamte lag lange Zeit im Fokus der Ermittlungen. Er wurde verdächtigt, die Abfrage am 2. August 2018 getätigt zu haben.

Wie sich herausstellte, fälschte er sein Alibi, laut dem er zum Zeitpunkt der Abfrage bei einem Einsatz war. Der Einsatz fand allerdings erst 48 Minuten später statt. Damit käme er auch als Absender des ersten Drohbriefs an Başay-Yıldız infrage. Eine Formulierung, die Johannes S. in dem rechtsextremen Chat verwendete („Ich reiß dir den Kopf ab und scheiß dir in den Hals“), findet sich außerdem häufig auch in den Drohbriefen. Der Polizeibeamte S. kennt sich auch mit anonymem Surfen und dem sogenannten Tor-Netzwerk aus, das benötigt wird, um Zugang zum Darknet zu erhalten.

Am selben Abend, an dem Başay-Yıldız den ersten Drohbrief erhielt, wurde auf der Plattform de.indymedia.org auch ein anonymer Aufruf zur Gewalt gegen sie gepostet, unter Angabe ihrer privaten Anschrift. In einem späteren Schreiben wurde sogar ihre neue, als geheim eingestufte Adresse verwendet, was nahelegt, dass es zu einem späteren Zeitpunkt zu einer weiteren Datenbankabfrage gekommen sein muss. Bei einer weiteren telefonischen Anfrage wäre das Landeskriminalamt benachrichtigt worden, aber dazu kam es nie.

Auch die Thüringer Bundestagsabgeordnete Martina Renner (Die Linke), die sich gegen Rechtsextremismus engagiert, sagte im Prozess aus. Sie berichtete von den psychischen Auswirkungen, die die Gewaltandrohungen bei ihr hatten, „bis dahin, dass man davon träumt“.

Obwohl Renner insgesamt elf NSU 2.0-Drohbriefe sowie zahlreiche andere rechtsextreme Drohungen erhielt, spielte das LKA in Berlin und Thüringen die Briefe herunter und sprach von einer „abstrakten Bedrohung“. Sicherheitsmaßnahmen musste Renner privat ergreifen. An das Landeskriminalamt Hessen wollte sie sich aufgrund der rechtsextremen Skandale nicht wenden: „Die waren nicht die erste Anlaufstelle, wenn es um vertrauensbildende Maßnahmen ging.“

Auch Kitas wurden in Alarmbereitschaft versetzt und Gerichte geräumt, weil der NSU 2.0 Bombendrohungen versandt hatte.

Başay-Yıldız sowie vier weitere Empfänger von Drohbriefen protestierten vor Prozessbeginn auf Twitter: „Für uns ist es ein Skandal, dass die Ermittlungen gegen einen vermeintlichen Einzeltäter geführt wurden.“

Alexander M., der am zweiten Prozesstag aussagte, stritt die Vorwürfe gegen ihn ab. Zur Theorie der Staatsanwaltschaft, er habe die Daten aus den Polizeicomputern unter Vortäuschung einer falschen Identität abgefragt, sagte er: „Dass ich per Anruf an jede Menge streng geheimer Daten aus den Polizeicomputern gekommen sein soll, wäre ein einmaliger Unsinn in der deutschen Rechtsgeschichte.“

Seiner Meinung nach stammen die Drohbriefe aus einer rechtsextremen Chatgruppe im Darknet, an welcher er seit 2019 teilnahm. „Ich war sicher, dass dort wegen des umfangreichen Insiderwissens und vielen Dienstgeheimnissen auch Polizisten involviert waren, kann es aber nicht beweisen“, so der Angeklagte. Nachdem er der Behauptung widersprochen habe, dass es eine jüdische Weltverschwörung gebe, sei er im Sommer 2020 ausgeschlossen worden. Dennoch habe er die Identitäten einiger Chatteilnehmer, die er dem Gericht zur Verfügung stellen könnte. Dafür wolle er aber ins Zeugenschutzprogramm aufgenommen werden.

Allem Anschein nach ist Alexander M. in die Drohbriefe involviert, dass er sie aber alleine, ohne Helfer verfasst hat, ist völlig unwahrscheinlich. Die zentrale Frage, der die Anklagebehörde im Prozess ausweicht, lautet: Wie kam der Berliner Rechtsextremist (oder andere Täter) an geschützte Daten der Polizei Frankfurt? Hinzu kommt, dass auch in Polizeirevieren in Wiesbaden, Berlin und Hamburg Daten abgefragt wurden.

Die Antwort der Polizei, dass M. sich telefonisch als Beamter ausgegeben haben soll, ist absurd. Die Staatsanwaltschaft erwähnt nur kurz am Rande, dass es auch Ermittlungen gegen Polizeibeamte gab. Man habe angeblich nicht herausfinden können, durch wen die Computerabfrage am 2. August 2018 erfolgte.

Der hessische Innenminister Beuth hatte nach Anklageerhebung gegen Alexander M. die Polizei für entlastet erklärt: „Nach allem, was wir heute wissen, war nie ein hessischer Polizist für die NSU-2.0-Drohserie verantwortlich.“ Das Innenministerium bekräftige auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur: „Hessische Polizistinnen und Polizisten waren zu keinem Zeitpunkt Absender oder Tatbeteiligte der NSU-2.0-Drohmails-Serie.“

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