Perspektive

Die hysterische antirussische Kampagne und der Drang der USA und der Nato zum Krieg mit Russland

Die ideologischen Propagandakampagnen, die zur Rechtfertigung der imperialistischen Kriege der Vergangenheit geführt wurden, stützten sich stets auf Verzerrungen, Erfindungen und glatte Lügen. Wie der Schriftsteller Stefan Zweig in seinen Erinnerungen an den Ausbruch des Ersten Weltkriegs feststellte: „Alle kriegführenden Völker befanden sich 1914 ohnehin schon in einem Zustand der Überreizung; das übelste Gerücht verwandelte sich sofort in Wahrheit, die absurdeste Verleumdung wurde geglaubt.“

Die Sopranistin Anna Netrebko (rechts) und der Tenor Yusif Eyvazov treten während eines Opernkonzerts anlässlich des 313-jährigen Jubiläums von St. Petersburg auf dem Dvortsovaya (Palast)-Platz in St. Petersburg (Russland) auf. Freitag, 27. Mai 2016 (AP Photo/Dmitri Lovetsky)

In der Woche seit Putins Einmarsch in der Ukraine hat die hysterische antirussische Kampagne – die von den bürgerlichen Medien und Teilen der Mittelschicht mit dem Ziel geführt wird, die Kriegführung der USA und der Nato zu legitimieren – erschreckende Ausmaße angenommen. Sänger, Künstler, Dirigenten, Erzeugnisse und sogar Katzen werden allein aufgrund ihrer russischen Nationalität oder Herkunft ausgeschlossen oder verbannt.

Am Dienstag verkündete der Münchner Oberbürgermeister Dieter Reiter die sofortige Entlassung des russischen Dirigenten Valery Gergiev von seinem Posten als Chefdirigent der Münchner Philharmoniker. Der Sozialdemokrat Reiter hatte Gergiev kurz nach Putins Einmarsch in der Ukraine ein Ultimatum gestellt: Entweder er kritisiere öffentlich die russische Regierung, oder er werde entlassen. Nachdem Gergiev nicht reagierte, kündigte Reiter alle Verträge mit dem weltberühmten Dirigenten mit sofortiger Wirkung.

Die Star-Sopranistin Anna Netrebko erlitt ein ähnliches Schicksal an der Metropolitan Opera in New York. Nach einer anhaltenden Kampagne der New York Times über Netrebkos „Putin-Verbindungen“ – d.h. ihre russische Staatsangehörigkeit – zog Netrebko ihre anstehenden Engagements an der Met und der Berliner Staatsoper zurück. In einer Erklärung, in der sie sich gegen den Krieg aussprach, sagte Netrebko: „Es ist nicht fair, Künstler oder andere Persönlichkeiten zu zwingen, ihre politische Meinung in der Öffentlichkeit zu äußern und ihr Heimatland zu denunzieren.“

Ähnlich brutal wurden russische Filmemacher behandelt, die praktisch von internationalen Filmfestivals ausgeschlossen wurden, und Sportler, denen die Teilnahme an den Paralympics, der Fußballweltmeisterschaft und anderen Sportwettbewerben untersagt wurde. Einzelhändler in Nordamerika und Europa haben russische Produkte aus ihren Regalen entfernt. Eine Universität in Italien ging sogar so weit, einen Literaturkurs zu verbieten, der sich auf die Romane von Fjodor Dostojewski stützt – einem russischen Schriftsteller, der 1881 starb, nachdem er so berühmte Werke der Weltliteratur wie Schuld und Sühne und Die Brüder Karamasow verfasst hatte. Die Universität Mailand-Bicocca lenkte erst nach einem öffentlichen Aufschrei ein.

Diese chauvinistische Kampagne wird von einem Teil der oberen Mittelschicht angeführt, die vom Kriegsfieber infiziert ist. Medien, Akademiker und Wissenschaftler, die es eigentlich besser wissen müssten, sind der Kriegspropaganda des US-Imperialismus und der Nato-Mächte aufgesessen, wonach die Welt ein friedliches Paradies war, bis der böse Drahtzieher Wladimir Putin am 24. Februar 2022 russische Truppen in die Ukraine schickte. Sie haben die gegen Russland verhängten Sanktionen bejubelt, die auf einen Wirtschaftskrieg hinauslaufen und verheerende Folgen für die Bevölkerung haben werden, und sie haben die massive militärische Aufrüstung der Nato-Mächte in ganz Osteuropa begrüßt.

Keinem von ihnen scheint es in den Sinn zu kommen, dass es eine prinzipielle, linke Grundlage gibt, auf der man sich Putins reaktionärem Einmarsch in die Ukraine widersetzen kann – einen Einmarsch, den er unter Anrufung des rechten russischen Chauvinismus rechtfertigt.

Diese Opposition – die dem Kampf zur Vereinigung der Arbeiter in der Ukraine, in Russland und weltweit in einer globalen Antikriegsbewegung entspringt – verlangt nicht, dass man sich den räuberischen Interessen der imperialistischen Mächte anpasst oder die Rolle des Faschismus in der Ukraine vertuscht. Sie verpflichtet nicht zu schamhaftem Schweigen über die Tatsache, dass unter den Verbündeten der Nato-Mächte in ihrem Kampf für eine „demokratische und unabhängige Ukraine“ rechtsextreme Nationalisten und Faschisten sind, deren politische Vorfahren im Zweiten Weltkrieg mit den Nazis kollaborierten.

In diesen selbstgefälligen Mittelschichten ist eine kritische Auseinandersetzung mit diesen historischen und politischen Fragen, die der Krieg zwischen der Ukraine und Russland aufwirft, nicht erlaubt. Wie die World Socialist Web Site zuletzt festgestellt hat, wurde „in der Berichterstattung über den Konflikt… die Trennlinie zwischen Journalismus und Propaganda beseitigt. Alles wird schwarz und weiß dargestellt, und die Medien lassen dem Gehirn keinen Raum zum Arbeiten. Dem allgemein verbreiteten Narrativ zufolge ist Russland in die Ukraine eingedrungen, weil es da dieses Monster namens Putin gibt – so, wie es auch Monster namens Saddam Hussein, Osama Bin Laden und Slobodan Milošević gegeben hat.

Gelehrte Akademiker – selbst diejenigen, die sich seit Jahrzehnten mit dem komplexen Problem historischer Kausalität auseinandersetzen – befinden sich in einem Zustand des intellektuellen Kollapses und begnügen sich damit, CNN, MSNBC und natürlich die New York Times für sich denken zu lassen.“

Wenn man den Vorträgen der Opernmanager, Sportfunktionäre und Akademiker lauscht, die die Verbannung alles Russischen zu rechtfertigen versuchen, käme man nie auf die Idee, dass der US-Imperialismus und seine Nato-Verbündeten in den letzten drei Jahrzehnten ununterbrochen Krieg geführt haben. Keine dieser Personen oder Institutionen hat amerikanische Musiker oder Künstler aufgefordert, sich für die schrecklichen Kriegsverbrechen der Clinton-, Bush- oder Obama-Regierungen zu verantworten – etwa für die grausame Bombardierung Serbiens, die Invasion des Irak, die Folterprogramme in Geheimgefängnissen, die „Terror Tuesday“-Attentate der Obama-Regierung oder für die Massaker an Zivilisten in Afghanistan, Libyen, Syrien und andernorts.

Keinem Künstler, der einen Preis der US-Regierung entgegennahm, im Weißen Haus auftrat oder als akademischer oder wissenschaftlicher Berater der Regierung diente, drohte der Ausschluss und das faktische Ende seiner beruflichen Laufbahn aufgrund der Raubzüge des amerikanischen Imperialismus, die nach konservativen Schätzungen zum Tod von etwa vier Millionen Menschen geführt haben.

Viele derselben Personen, die antirussische Hysterie schüren, haben nicht weniger lautstark den Boykott israelischer Akademiker angeprangert, der gegen die brutale Unterdrückung der Palästinenser durch das zionistische Regime gerichtet war. Im Gazastreifen ist die verarmte Bevölkerung willkürlicher Gewalt des israelischen Militärs ausgesetzt – und das unter Bedingungen, die Hilfsorganisationen mit einem Freiluftgefängnis verglichen haben. Doch wenn Unterstützer der Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions (BDS) die Aussetzung der Beziehungen zu israelischen Akademikern und einen Boykott israelischer Produkte fordern, werden sie routinemäßig als „Antisemiten“ verunglimpft. Im Jahr 2019 hatten 27 US-Bundesstaaten Gesetze erlassen, die es Regierungsbehörden und -mitarbeitern verbieten, Geschäfte mit Personen zu machen, die einen Boykott Israels unterstützen.

Die kriegsbefürwortenden Schichten der oberen Mittelklasse sehen in dieser groben Doppelmoral nichts Falsches, denn sie haben schon vor langer Zeit ihren Frieden mit dem amerikanischen und europäischen Imperialismus gemacht. Während des Nato-Luftkriegs gegen Serbien von 1999, an dem sich erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg auch die deutsche Luftwaffe beteiligte, fehlte es nicht an Intellektuellen und ex-radikalen Politikern, die das Abschlachten serbischer Männer, Frauen und Kinder mit heuchlerischem Geschwätz über den Schutz von „Menschenrechten“ durch Nato-Kampfflugzeuge rechtfertigten.

Der Vorsitzende der internationalen Redaktion der WSWS, David North, erläuterte 1999 die materiellen Wurzeln dieses Phänomens:

Seit dem Börsenboom, der Anfang der 1980er Jahre einsetzte, haben sich die gesellschaftlichen Strukturen und Klassenbeziehungen in den kapitalistischen Ländern stark verändert. Ständig steigende Aktienkurse und insbesondere deren Explosion seit 1995 haben einem bedeutenden Teil der Mittelschicht, vor allem im akademischen Milieu, einen Reichtum beschert, den sie sich zu Beginn ihrer Karriere nie hätten träumen lassen. Diese „Neureichen“ machen einen relativ geringen Prozentsatz der Bevölkerung aus. In absoluten Zahlen stellen sie jedoch eine nicht unbedeutende und politisch einflussreiche soziale Schicht dar. [„Nach dem Blutbad: Politische Lehren aus dem Balkankrieg“, enthalten in Dreißig Jahre Krieg: Amerikas Griff nach der Weltherrschaft, 1990-2020]

Diese Schicht ist nun entschlossen, die ideologische Rechtfertigung für einen katastrophalen Krieg zwischen dem vom US-Imperialismus geführten Nato-Bündnis und Russland zu liefern – für einen Konflikt, der mit Atomwaffen ausgetragen werden würde. Die Barbarei der von ihnen geführten Anti-Russland-Kampagne kann nur mit der Dämonisierung feindlicher Nationen im Kriegszustand verglichen werden.

Sogar die rechte kanadische Tageszeitung National Post, eine entschiedene Befürworterin des Nato-Kriegskurses gegen Russland, schrieb am Freitag mit einer gewissen Nervosität: „Es erinnert alles ein wenig an die ersten Monate des Ersten Weltkriegs, als Kanada und das gesamte britische Empire fieberhaft alles umbenannten, was auch nur einen Hauch von Deutschland hatte. Berlin (Ontario) wurde in Kitchener umbenannt. Die Gemeinden Bingen, Carlstadt und Düsseldorf in Alberta erhielten patriotischere Namen. Und die königliche Familie änderte sogar ihren Namen – vom Hause Sachsen-Coburg und Gotha in das äußerst britische Haus Windsor.“

Doch während das Kriegsfieber die privilegierten Schichten der Mittelklasse fest im Griff hat, wird die gegenwärtige Krise von der breiten Masse der Bevölkerung – der Arbeiterklasse – ganz anders gesehen. Nach dreißig Jahren endlosen Krieges und einem steten Rückgang ihres Lebensstandards sind Arbeiter nicht bereit, einen katastrophalen globalen Flächenbrand hinzunehmen. Und nach mehr als zwei Jahren einer Pandemie, in denen Arbeiter von den Regierungen in aller Welt gezwungen wurden, ihre Gesundheit und ihr Leben dem Erhalt der Unternehmensprofite zu opfern, betrachten sie die Behauptungen der politischen Elite und ihrer Anhänger aus der oberen Mittelschicht, sie würden für „Demokratie“ und im Namen der „freien Welt“ kämpfen, mit Skepsis oder offener Verachtung.

Die entscheidende Aufgabe besteht nun darin, diese latente Opposition gegen den Krieg in der internationalen Arbeiterklasse in einen bewussten politischen Kampf für den Sozialismus zu verwandeln.

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