UK: Johnson windet sich durch Misstrauensvotum und bleibt vorerst Premierminister

Der britische Premierminister Boris Johnson hat ein hartes Misstrauensvotum seiner eigenen Abgeordneten in der Konservativen Partei knapp überstanden. Das Votum wurde ausgelöst, nachdem 54 Abgeordnete (15 Prozent der konservativen Parlamentsfraktion) dem Vorsitzenden des Hinterbänkler-Ausschusses Sir Graham Brady eine Misstrauenserklärung vorgelegt hatten.

Der britische Premierminister Boris Johnson (links) verlässt das Parlamentsgebäude in London, 6. Juni 2022. Johnson musste sich am Montagabend einem Misstrauensvotum stellen, das er mit einer knappen Mehrheit gewann (AP Photo/David Cliff) [AP Photo/David Cliff]

Bei der Abstimmung am Montagabend sprachen 148 von 359 Tory-Abgeordneten (41 Prozent) Johnson ihr Misstrauen aus. Es handelt sich um einen schwerwiegenden politischen Schaden, der am oberen Ende dessen liegt, was die „Rebellen“ erwartet hatten. Frühere Abstimmungen, bei denen ein signifikanter Teil der Partei gegen den Parteivorsitzenden stimmte – 37 Prozent gegen Theresa May im Dezember 2018 und 41 Prozent gegen Margaret Thatcher im Jahr 1990 – haben innerhalb weniger Monate deren Rücktritt erzwungen.

Doch Johnson machte keine Anstalten, das Gleiche zu tun, und sagte der BBC hinterher, es sei ein „extrem gutes, positives, schlüssiges Ergebnis“ und eine Gelegenheit für die Tory-Partei, „zusammenzukommen und abzuliefern“. Den Regeln zufolge hat der Premierminister nun eine Schonfrist von einem Jahr, in dem keine weiteren Abstimmungen gegen seine Führung angesetzt werden können. Brady erklärte jedoch am Tag der Wahl, dass „Regeln geändert werden können“.

In der britischen Regierungspartei hat ein vermutlich länger andauernder Guerillakrieg begonnen, der interne Scharmützel über anstehende Nachwahlen, die Krise um das Nordirland-Protokoll und eine laufende Untersuchung umfasst, ob Johnson das Parlament wissentlich getäuscht hat. Bildungsminister Nadhim Zahawi brachte die Atmosphäre auf den Punkt, als er klagte, die Tories hätten „ein kreisförmiges Erschießungskommando“ organisiert.

Johnson konnte sich knapp durchsetzen, nachdem es seinen Gegnern nicht gelungen war, eine kohärente Opposition aufzubauen. Das Misstrauensvotum wurde durch die wachsende, aber unorganisierte Besorgnis ausgelöst, dass Johnson mit einer explosiven politischen Situation zündelt und gleichzeitig wichtige Unterstützer der Partei verprellt.

Im Mittelpunkt von Johnsons Schicksal steht der „Partygate“-Skandal um seine Teilnahme an feuchtfröhlichen Regierungspartys während der Lockdown-Maßnahmen. Der Skandal, der sich nun schon ein halbes Jahr hinzieht, verkörpert für Millionen Menschen die grausame Gleichgültigkeit der Tory-Partei gegenüber der Krankheit und dem Massensterben – auf den Punkt gebracht durch Johnsons Ausruf: „Sollen sich die Leichen zu Tausenden auftürmen!“

Die Befürchtungen der Torys konzentrieren sich daher darauf, dass Johnsons überwältigende Unbeliebtheit nun die Regierung daran hindern könnte, brutale Sparmaßnahmen und die zunehmende britische Beteiligung am Nato-Stellvertreterkrieg gegen Russland durchzusetzen, ohne den Widerstand der Bevölkerung zu provozieren.

Die Statements von Steve Brine, Sir Bob Neil und Jeremy Wright, in denen sie ihre Stimme gegen Johnson ankündigten, waren typisch. „Gesetzgeber können keine Gesetzesbrecher sein“, warnten sie. „Die Ereignisse haben das Vertrauen nicht nur in das Amt des Premierministers, sondern in den politischen Prozess selbst untergraben.“ Der Premierminister müsse gehen, „sowohl um sicherzustellen, dass die Öffentlichkeit in Zukunft die Anweisungen der Regierung befolgt, wenn es darauf ankommt, als auch um es der gegenwärtigen Regierung zu ermöglichen, die wichtigen Gesetze, die sie eingeführt hat, umzusetzen“.

Jüngste Umfragen sagen den Torys bei Nachwahlen in Tiverton und Honiton gegenüber den Liberaldemokraten und in Wakefield gegenüber der Labour-Partei empfindliche Verluste voraus. Bei einem Dankgottesdienst für die Queen in der St. Paul’s Cathedral wurde Johnson am Freitag lautstark von einer Menge hartgesottener Tory-Anhänger ausgebuht, die Unionsfahnen schwenkten.

Der britische Premierminister Boris Johnson nimmt in Begleitung seiner Frau Carrie am Gottesdienst zum Platin-Jubiläum der Queen in der St. Paul’s Cathedral teil. Johnson wurde von der Menge ausgebuht, als er die Kathedrale betrat, 3. Juni 2022 (Bild von Andrew Parsons/No 10 Downing Street/Flickr)

Doch die politische Krise der herrschenden Klasse ist so tief, dass die Tory-Rebellion nicht in der Lage war, die Frage zu beantworten, wer Johnson ersetzen sollte. Wäre ein brauchbarer Kandidat aufgetaucht, hätte die Wahl vielleicht eine Wende genommen. Doch von den Politikern, die für eine Wahl zum Parteivorsitz in Frage kommen würden, hat nur Jeremy Hunt – Gesundheitsminister unter David Cameron und kein Kandidat für die rechten Tory-Abgeordneten – angekündigt, dass er gegen den Premierminister stimmen wird.

Die am stärksten organisierte Opposition gegen Johnson kommt vom rechten Flügel der Tory-Partei, der die Partygate-Krise genutzt hat, um die Umsetzung einer ganzen Reihe reaktionärer Gesetze voranzutreiben. Diese Elemente betrachten Johnson als Hindernis für ein Brexit-getriebenes Paradies der Marktwirtschaft, ohne Besteuerung und Regulierung. Ihre bevorzugte Kandidatin ist Außenministerin Liz Truss (auch genannt „die menschliche Handgranate“), die ihre antirussischen Qualitäten unter Beweis gestellt hat und in Wirtschaftsfragen als noch aggressiver gilt als Johnson. David Gauke, ein ehemaliger Tory-Abgeordneter und Kabinettsminister, schrieb im New Statesman, Truss sei „eine Führungskandidatin, die glaubhaft eine Agenda für Deregulierung und niedrigere Steuern formulieren kann“.

Die Außenministerin hat sich jedoch nicht offen gegen Johnson ausgesprochen, sondern sich bisher als Erbin seiner Unterstützergruppe positioniert, falls er stürzen sollte. Am frühen Montag twitterte sie: „Der Premierminister hat bei der heutigen Abstimmung meine hundertprozentige Unterstützung und ich ermutige meine Kollegen nachdrücklich, ihn zu unterstützen.“ Andere potenzielle Herausforderer, darunter Verteidigungsminister Ben Wallace, Kanzler Rishi Sunak und Gesundheitsminister Sajid Javid, taten Ähnliches.

Unabhängig davon, ob oder wann Johnson ersetzt wird, setzt die Partei einen immer entschlosseneren Kurs auf Krieg, Sparmaßnahmen, Autoritarismus und Durchseuchung. Johnsons Brief an die Tory-Abgeordneten zur Verteidigung seiner Position nannte als größte Erfolge seiner Regierung die „schnelle Wiederöffnung der Wirtschaft“ in der Corona-Pandemie, die „Unterstützung der Ukraine als erstes europäisches Land“ im Nato-Krieg gegen Russland und den „Abschluss einer Wirtschafts- und Migrationspartnerschaft mit Ruanda“, die das Asylrecht in Fetzen reißt.

Bei einem privaten Treffen von Tory-Abgeordneten sagte Johnson: „Wir alle wissen, dass man sich nicht durch Ausgaben aus der Inflation herauswinden kann und dass man Wachstum nicht durch Steuern schaffen kann.“ Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj habe ihm am Morgen am Telefon gesagt, er wolle ein „starkes Großbritannien“. Im Laufe des Tages kündigte Johnson an: „Das Vereinigte Königreich wird den ukrainischen Streitkräften Mehrfachraketen-Systeme überreichen, damit sie den anhaltenden russischen Angriff wirksam abwehren können.“

Johnsons Auftritt als Kriegs-Premierminister reichte nicht aus, um ein Misstrauensvotum zu verhindern, weil seine politische Attraktivität angesichts der allgemeinen Kriegsunterstützung unter seinen potenziellen Herausforderern gedämpft wird – und weil jemand, der weithin als Lügner bekannt ist, schlecht in der Lage ist, einen Kampf gegen die völlig fehlende Kriegsbegeisterung der Bevölkerung zu führen.

Die ganze miese Show wird daher durch die Bemühungen der Labour-Partei am Laufen gehalten, das politische Überleben der verhassten Johnson-Regierung ganz in die Hände der Tory-Abgeordneten zu legen. Starmer sagte am Montagmorgen bei LBC-Radio: „Es ist im nationalen Interesse, dass er jetzt geht.“ Er räumte ein, dass Johnson an der Spitze der Tory-Partei weithin als Wahlhelfer der Labour-Partei angesehen wird, fuhr jedoch fort: „Wenn man aber das nationale Interesse betrachtet, denke ich, dass die Tory-Abgeordneten sich erheben, Führungsstärke zeigen und ihn loswerden müssen.“

Der Labour-Vorsitzende Sir Keir Starmer (links) und Boris Johnson auf dem Weg zur Rede der Queen im britischen Oberhaus, Mai 2022 (Jessica Taylor, britisches Parlament)

Wes Streeting, Schattengesundheitsminister der Labour-Partei, appellierte in der Sendung Today von Radio 4 an die Tory-Abgeordneten: „Widmen Sie sich der Regierungsarbeit. Geben Sie dem Land den Premierminister, den es verdient.“

Insofern die Labour-Partei überhaupt einen unabhängigen Standpunkt vertritt, so tut sie dies im Versuch, sich als die wahre Partei der nationalen Interessen darzustellen. Am Sonntag veröffentlichte Lucy Powell, Labour-Schattenministerin für Kultur, im Observer einen Artikel, der aus Anlass des Jubiläums Labour zur Partei der „patriotischen Prinzipien“ erklärte, die „Großbritannien an erste Stelle setzt“. Um die nationalen Verdienste von Labour zu bewerben, schreibt Powell: „Hätten wir vor zehn Jahren in unsere eigenen Kapazitäten für 5G-Technologie investiert, wären wir heute nicht der Gnade von Huawei und der Kommunistischen Partei Chinas ausgeliefert. Hätten die Tories die Onshore-Windkraft in Großbritannien nicht de facto verboten, würden wir mehr zusätzliche Energie produzieren als wir aus Russland importieren.“

Um diese Agenda durchzusetzen, sind Labour und die Tories gleichermaßen auf die Gewerkschaften angewiesen, die den Klassenkampf unterdrücken und die Arbeiterklasse aus der politischen Arena heraushalten sollen. Doch es zeichnet sich das Potenzial ab, diese Situation zu ändern. Im Eisenbahnnetz, bei British Telecommunications und andernorts bereiten sich wichtige Teile der Arbeiterklasse auf Streiks gegen die Versuche vor, inmitten der eskalierenden Inflation die Löhne zu drücken. Dies schafft die Grundlage für eine Bewegung, die die Tory-Regierung beseitigen wird – egal, welcher politische Verbrecher sie anführt.

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