Flutkatastrophe Mitte Juli 2021 in Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz und Belgien

Große Wut bei den Flutopfern ein Jahr danach: „Bei uns ist nichts angekommen“

Bald wird es ein Jahr her sein, dass die Flutkatastrophe Mitte Juli 2021 mehrere Regionen Westeuropas heimsuchte. „Wie in einem Kriegsgebiet“, so schilderten damals Bewohner all dieser überfluteten Gebiete ihre Lage. Auch heute, ein Jahr danach, trifft diese Einschätzung immer noch auf große Teile der betroffenen Gebiete zu.

In der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 lösten Unwetter und Starkregen in Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen und in Belgien heftige Flutwellen aus. Mehr als 220 Menschen verloren ihr Leben. Die Wassermassen zerstörten und beschädigten Tausende Häuser, Straßen, Brücken, große Teile der Infrastruktur, Schulen, Krankenhäuser, Arztpraxen, Geschäfte, Hotels und Pensionen, Läden und Betriebe, kurz: das Leben und die Existenzgrundlage von Tausenden von Menschen.

Altenahr ein Jahr danach, im Juni 2022 (Foto: WSWS)

Am schlimmsten waren die Schäden im Ahrtal in Rheinland-Pfalz, wo das Hochwasser der Ahr absolute Rekord-Pegelstände erreichte. 134 Menschen verloren allein hier ihr Leben. Hunderte wurden verletzt, 9000 Gebäude zerstört oder schwer beschädigt. Das Wasser stand in vielen Häusern bis über den ersten Stock hinaus. Zehntausende Menschen waren tage-, viele wochenlang ohne Strom- und Trinkwasserversorgung und ohne Telefonverbindung.

Auch in Nordrhein-Westfalen führte das Hochwasser von Ahr, Erft und Rur sowie der Ruhr und Wupper zu enormen Schäden. 49 Menschen verloren hier ihr Leben. Auch in der belgischen Wallonie forderte die Flut 38 Todesopfer.

Fast alle Flutopfer machten eine weitere gemeinsame Erfahrung: Als die Flut kam, gab es von Seiten der zuständigen Bundes-, Landes- und kommunalen Behörden keinen Alarm, keine Vorwarnungen, keine vorsorglichen Evakuierungen. Dabei hatten Meteorologen und andere Wissenschaftler schon Tage zuvor vor der Gefahr gewarnt. Auch während und nach der Flut ließen die Behörden es an koordinierter staatlicher Hilfe fehlen.

Überragend war dagegen die Hilfe der betroffenen Menschen untereinander, wie auch von freiwilligen Helfern, die teilweise den Flutopfern von weither zu Hilfe eilten, und deren Unterstützung bis heute anhält. „Ohne die vielen freiwilligen Helfer hätten wir das nicht geschafft“, heißt es auf einer Facebook-Seite aus dem Ahrtal.

Wenige Tage nach der Flutkatastrophe publizierte die World Socialist Web Site ihre Erklärung, „Die Flutkatastrophe und der Bankrott des Kapitalismus“. Darin benannte sie die doppelten Ursachen der Hochwasserkatastrophe:

„Erstens ist sie ein direktes Ergebnis der vom kapitalistischen Profitsystem verursachten Klimakrise, die zu immer heftigeren Extremwetterereignissen führt“, heißt es dort. Hochwasserkatastrophen und Dürren seien als Folgen der Klimakrise seit langem bekannt und erforscht. Aber obwohl sie letztendlich „das Überleben des Planeten und der gesamten Menschheit“ gefährdeten, sei „die herrschende Klasse unfähig und unwillig, ernsthafte Klimaschutzmaßnahmen zu ergreifen, weil dies ihr Profitstreben und ihre geostrategischen Interessen unterminieren würde.“

Zweitens wies die WSWS auf die „seit Jahrzehnten vernachlässigte und kaputt gesparte Infrastruktur“ hin. Sie schrieb: „Dazu gehören neben notwendigen Hochwasserschutzmaßnahmen ein funktionierendes Frühwarnsystem und ein gut ausgestatteter und effektiver Katastrophenschutz. Internationale Experten wiesen darauf hin, dass die hohen Todeszahlen direkt auf Mängel in diesen Bereichen zurückzuführen seien.“

Die kriminelle Nachlässigkeit wurde in der Flutkatastrophe deutlich sichtbar. Zwar besuchten im Bundestagswahlkampf die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel und die Kanzlerkandidaten Armin Laschet (CDU) und Olaf Scholz (SPD) die Flutgebiete und versprachen schnelle Soforthilfen und „unbürokratische Hilfe“. Ein 30 Milliarden Euro-Wiederaufbau-Fonds, finanziert jeweils zur Hälfte vom Bund und den Landesregierungen von NRW und Rheinland-Pfalz, wurde eingerichtet.

Nur die unmittelbare Soforthilfe – bis zu 3500 Euro pro Haushalt und damit nicht einmal der sprichwörtliche Tropfen auf den heißen Stein – wurde tatsächlich unkompliziert zur Verfügung gestellt und ist relativ schnell eingetroffen. Aber auf die so dringend notwendigen höheren Hilfen aus dem Aufbaufonds warten die meisten Menschen noch immer vergeblich.

Das ARD-Magazin reportmainz berichtete in seiner Sendung vom 17. Mai 2022 über „Die Angst nach der Ahrflut“. Wie sich zeigt, haben bei den komplizierten Antragsverfahren für die Wiederaufbauhilfe erst ganz wenige die ihnen zustehende finanzielle Unterstützung erhalten. Fast ein Jahr nach der Flut sind die Zerstörungen noch immer allgegenwärtig. Aber obwohl die Politik schnelle Hilfe zusagte, kommen die versprochenen Gelder bei denen, die sie dringend brauchen, nicht an.

Viele Flutopfer konnten aufgrund der komplizierten Anträge für Wiederaufbauhilfe bisher ihre Anträge gar nicht stellen, oder sie warten seit Monaten auf eine Bewilligung und Auszahlung. Viele haben auch einfach resigniert. Laut dem reportmainz-Bericht rechneten die Behörden in Rheinland-Pfalz mit 10.000 Anträgen. Ganze 700 hätten bisher Geld aus der zuständigen Investitions- und Strukturbank ISB erhalten. Gerade mal fünf Anträge seien voll ausgezahlt worden.

Fast ein Jahr nach der Flut warten also nahezu 10.000 Betroffene allein in Rheinland-Pfalz noch immer auf Unterstützung. Und nicht mehr als fünf (!) haben ihr ganzes, dringend benötigtes Geld auch wirklich erhalten!

Viele Häuser stehen noch immer als Ruine da (Foto: WSWS)

Hinzu kommt die große Befürchtung, dass der Wiederaufbau nicht aufgrund wissenschaftlicher Analysen der Flutursachen erfolgen könnte. Nach wie vor ist unklar, wo Häuser, die sehr nah an der Ahr standen und von der Flut hinweggeschwemmt wurden, wieder aufgebaut werden sollen. Ein neues Hochwasserkonzept liegt noch immer nicht vor, und nach Aussagen eines Verantwortlichen kann das noch mindestens zwei bis drei Jahre dauern.

Die kriminelle Untätigkeit der Behörden hält bis heute an und ruft unter Flutopfern große Wut hervor.

„Die Gelder werden nicht ausgezahlt“, sagte eine Anwohnerin, Gastronomin in Ahrweiler, der WSWS. „Durch Spenden für die Flutopfer sind mehrere Millionen Euro reingekommen. Die Hälfte dieser Gelder sollen bisher ausbezahlt worden sein – und wo bleibt die andere Hälfte? Bei uns ist nichts angekommen. Die Regierung ist in der Lage, 100 Milliarden für die Bundeswehr aufzubringen und Waffen in die Ukraine zu schaffen, die viele weitere Milliarden Euro kosten. Aber was ist mit uns?!“

Am 12. Mai demonstrierten etwa 150 – 200 Betroffene der Flut in Ahrweiler. Dazu aufgerufen hatte die Initiative „Ahrtal – Wir stehen auf“. Auf Facebook schreiben die Betroffenen, sie seien „wütend, traurig, enttäuscht und schockiert“.

Sie fordern die Aufrechterhaltung von Versorgungszelten und -stationen: „Diese müssen so lange bleiben, wie sie gebraucht werden. Von Betroffenen – die noch immer ohne Küchen sind – sowie für die Helfer, die wir immer noch im Tal brauchen.“ Eine weitere Forderung besteht in der Offenhaltung von Mülldeponien, wo die Anwohner und freiwilligen Helfer weiter kostenlos den Müll aus beschädigten Häusern entsorgen können. Auch diese Initiative beklagt die Dauer und den Bürokratismus bei der Beantragung der Gelder, wie auch die nach wie vor zerstörte Landschaft und Infrastruktur.

Im Mai haben neue Pläne der Landes- und Bundespolitiker die Wut und Empörung in den Flutgebieten aufs Neue angefacht. Die Pläne machen erneut deutlich, wie tief der Graben klafft zwischen den Betroffenen und einer abgehobenen Politikerschicht. Im April hatte der Landkreis Bad Neuenahr-Ahrweiler beschlossen, eine Gedenkfeier zum Jahrestag der Flutkatastrophe am 14. Juli im Kurpark Bad Neuenahr zu organisieren. Dort sollen Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und die Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz Malu Dreyer (beide SPD) sprechen.

Der Umwelt- und Kreisausschuss erfuhr davon erst am 16. Mai und sollte den Mehrausgaben für die Durchführung der Veranstaltung in Höhe von 155.000 Euro zustimmen. Ein großer Teil dieser Ausgaben sei für Sicherheitsmaßnahmen angeblich nötig. Da man davon ausging, dass das Land einen großen Teil der Ausgaben übernehmen würde, sollte der Landkreis einen Betrag von 50.000 Euro tragen. Das Geld sei gegebenenfalls aus einem Spendentopf für Flutopfer beizusteuern! Dem stimmte der Umwelt- und Kreisausschuss nach einigen kontroversen Diskussionen zunächst zu.

Als diese Pläne und die hohen Kosten bekannt wurden, regte sich ein solcher Sturm von Empörung und Wut aus der Bevölkerung, dass der Kreis Bad Neuenahr-Ahrweiler Ende Mai seine Zustimmung zu einer so teuren Gedenkveranstaltung schleunigst zurückzog. Zuletzt einigten sich die verantwortlichen Politiker auf eine Veranstaltung in einer Größenordnung, die nicht mehr als 30.000 Euro aus der Kreiskasse kosten dürfe.

Noch immer völlig zerstörte Brücke bei Altenahr (Foto: WSWS)

Bezeichnend war während der Flut das Verhalten zweier Politikerinnen, Anne Spiegel (Grüne, Rheinland-Pfalz) und Ursula Heinen-Esser (CDU, NRW), als damals verantwortliche Umweltministerin ihres jeweiligen Landes. Beide mussten Monate später zurücktreten.

Als Anne Spiegel bereits Bundesfamilienministerin der Ampelkoalition war, enthüllte der parlamentarische Untersuchungsausschuss von Rheinland-Pfalz, dass sie kurz nach der Flut einen vierwöchigen Familienurlaub angetreten hatte. Auch ihre CDU-Kollegin aus NRW hatte ihren Mallorca-Urlaub trotz der tödlichen Flutwelle fortgesetzt und später dazu falsche Angaben gemacht. Beide Politikerinnen verkörperten die Gleichgültigkeit und Verachtung, die in dieser abgehobenen Schicht für die arbeitende Bevölkerung vorherrscht.

Bezeichnend ist auch der unwürdige Umgang mit dem Parlamentarischen Untersuchungsausschuss (PUA) in Nordrhein-Westfalen. Die neue NRW-Landesregierung, der neben der CDU jetzt auch die Grünen angehören, wollte ihn stillschweigend abwickeln, obwohl bisher noch kein Abschlussbericht vorliegt. SPD und FDP haben sich jedoch zuletzt auf eine Fortsetzung des Ausschusses verständigt - hauptsächlich als Reaktion auf die Wut und Opposition in der Öffentlichkeit. Auch die SPD war offenbar zunächst gewillt, den Untersuchungsausschuss einfach auslaufen zu lassen.

Das Vorgehen zeigt, wie unwichtig diesen Politikern aller Couleurs eine wirkliche Aufklärung der Flutkatastrophe ist: wie es dazu kommen konnte, wer dafür verantwortlich ist, und wie derartige Katastrophen in Zukunft verhindert werden können.

Die Arbeiterklasse muss daraus die notwendigen Schlussfolgerungen ziehen. Sie kann sich im Kampf gegen die Klimakatastrophe und deren Auswirkungen – Hochwasser, Überflutungen, Dürren, Waldbrände, etc. – nicht auf die kapitalistischen Politiker stützen, sondern braucht eine unabhängige Perspektive.

Millionen von Menschen sind weltweit seit Jahren von Flut- oder Hitzekatastrophen betroffen. Heftige Brände werden aus Griechenland und Spanien, Überflutungen aus der Türkei, den USA, Asien und Australien gemeldet, um nur einige Länder zu nennen. In Afrika leiden Millionen Menschen unter den Dürreperioden. In Indien und Bangladesch haben gerade wieder Tausende durch besonders starke Regenfälle und Überschwemmungen ihr Leben und Millionen ihre Wohnungen und Unterkünfte verloren.

Die Profite-vor-Leben-Politik und menschenverachtende Gleichgültigkeit der herrschenden Klasse, die die Corona-Pandemie prägt – mit weltweit 20 Millionen und in Deutschland offiziell über 140.000 Corona-Toten – zeigt sich auch in der Flutkatastrophe.

Hunderte von Milliarden Euros und Dollars wurden während der Pandemie den Konzernen und Banken in den Rachen geschüttet. Die Reichen und Superreichen haben sich auf Kosten der Arbeiterklasse weltweit bereichert. Weitere Hunderte Milliarden werden jetzt in die Anheizung des Kriegs zwischen der Nato und Russland in der Ukraine gesteckt, mit der ständigen Gefahr, dass dieser Krieg zu einem nuklearen Schlagabtausch und der Vernichtung der Menschheit führt. Gleichzeitig zwingt man die Arbeiterklasse, durch steigende Inflation und explodierende Lebenshaltungskosten dafür zu bezahlen.

Weltweit entwickelt sich die Opposition gegen diese unerträglichen Bedingungen. Der Kampf gegen den Klimawandel und die damit verbundenen Gefahren und Katastrophen ist Bestandteil dieser Kämpfe gegen soziale Ungleichheit, Pandemie, Faschismus und Krieg. Er erfordert die revolutionäre Mobilisierung der Arbeiterklasse gegen den Kapitalismus. Nur durch eine weltweite sozialistische Reorganisation der Gesellschaft, in der die Bedürfnisse der großen Mehrheit der Bevölkerung an erster Stelle stehen, kann auch der Kampf gegen den Klimawandel gewonnen werden und sichergestellt werden, dass sich Flutkatastrophen wie die vom Juli 2021 nicht wiederholen.

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