Frieren für den Krieg?

Regierungsmitglieder, Wirtschaftsvertreter und Medien stimmen die deutsche Öffentlichkeit auf eine massive Energiekrise im kommenden Winter ein. Sollten die Gasimporte aus Russland völlig versiegen, wären die deutschen Gasspeicher laut einer Berechnung des Brüsseler Thinktanks Bruegel im kommenden Februar leer.

Gasspeicher „Bierwang“ des Energieunternehmens „Uniper“ in Unterreit bei München (AP Photo/Matthias Schrader)

Schon jetzt zirkulieren zahlreiche Pläne, die Temperaturen in Privatwohnungen und öffentlichen Gebäuden empfindlich zu senken und große Teile der öffentlichen Infrastruktur – Schwimmbäder, Bibliotheken, Sportstätten – stillzulegen. Selbst das Abschalten von Luftreinigern in Schulen, die das Corona-Ansteckungsrisiko reduzieren, ist im Gespräch.

Vertreter der Wirtschaft warnen vor dem Kollaps großer Betriebe in energieintensiven Branchen wie der Chemieindustrie. Auch viele Kleinunternehmen, wie Bäckereien, fürchten um ihre Existenz. Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger sagte der Süddeutschen Zeitung: „Wir stehen vor der größten Krise, die das Land je hatte. … Wir werden den Wohlstand, den wir jahrelang hatten, erst einmal verlieren.“

Nach deutschem und europäischem Recht werden private Haushalte und kritische Infrastruktur wie Krankenhäuser, Altenheime und Pflegeeinrichtungen zwar vorrangig geschützt. Doch das wird bereits in Frage gestellt. Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) schlug vor, ihre Priorisierung bei der Zuteilung von Gas zugunsten der Industrie zu überdenken.

Die entsprechende Regelung sei für kurzfristige Störungen vorgesehen, sagte er bei einem Besuch in Wien. Sie ergebe bei monatelangen Unterbrechungen der Gasversorgung keinen Sinn. Die Industrie könne nicht automatisch nachgereiht sein, darüber müsse man „nachdenken“.

Auch der Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI), Siegfried Russwurm, erklärte, die aktuellen Priorisierungsregeln in einer Gasmangellage seien „nur für eine kurzfristige Unterbrechung einzelner Leitungen geschaffen“. Für die harte neue Energierealität müsse „die Politik in Berlin und Brüssel eine neue Regelung schaffen“.

Doch selbst wenn kritische Einrichtungen und Privathaushalte ihre Priorität bei der Gaszuteilung behalten, werden sich viele die teuren Preise für Gas und Strom nicht mehr leisten können. Laut dem Statistischen Bundesamt sind die Preise für Energieprodukte bereits im Juni im Vergleich zum Vorjahresmonat um satte 38 Prozent gestiegen. Für Erdgas wird sogar ein Plus von 60,7 Prozent verzeichnet, und auch für Strom sind 22 Prozent mehr fällig.

Vergangene Woche verdeutlichte Klaus Müller, Präsident der Bundesnetzagentur und ehemaliger Grünen-Politiker, gegenüber RND das Ausmaß der finanziellen Mehrbelastung: „Bei denen, die jetzt ihre Heizkostenabrechnung bekommen, verdoppeln sich die Abschläge bereits – und da sind die Folgen des Ukraine-Krieges noch gar nicht berücksichtigt.“

Weiter erklärte er: „Ab 2023 müssen sich Gaskunden auf eine Verdreifachung der Abschläge einstellen, mindestens.“ Es sei „absolut realistisch“, dass Kunden, die derzeit 1500 Euro im Jahr für Gas bezahlen, künftig mit 4500 Euro und mehr zur Kasse gebeten werden.

Neben den Rekordpreisen für Energie stellt auch die weiterhin hohe Inflationsrate eine massive Belastung dar. Laut Statistischem Bundesamt lag das durchschnittliche Preisniveau im Juni um 7,6 Prozent höher als vor einem Jahr. Nahrungsmittel waren sogar 12,7 Prozent teurer und Kraftstoffe verzeichneten ein Plus von 33,2 Prozent – trotz „Tankrabatt“ in Form gesenkter Mineralölsteuern, der zum größten Teil in die Taschen der Mineralölkonzerne fließt.

Die Energiekrise ist weitgehend hausgemacht. Sie ist der Preis, den die Bevölkerung für den Krieg zahlen muss, den die Nato in der Ukraine gegen Russland führt. Der Versuch, Russland durch Wirtschaftssanktionen und Waffenlieferungen im Wert von Milliarden in die Knie zu zwingen, hat die Energiekrise ausgelöst.

Bundeskanzler Olaf Scholz hat erst am Montag in einem Gastbeitrag für die Frankfurter Allgemeine Zeitung deutlich gemacht, dass die Regierung unter keinen Umständen bereit ist, zurückzustecken und eine Verhandlungslösung anzustreben. Mit den historischen Entscheidungen der letzten Monate habe die Europäische Union einen großen Schritt getan, „zum geopolitischen Akteur“ zu werden, brüstet er sich.

Diese Weltmachtpläne, die mit der größten Aufrüstungskampagne seit Hitler verbunden sind, will die Regierung nicht aufgeben. Der Weg sei „nicht leicht, auch nicht für ein so starkes, wohlhabendes Land wie unseres,“ schreibt Scholz. „Wir werden einen langen Atem brauchen.“ Schon jetzt litten viele Bürgerinnen und Bürger unter den Auswirkungen des Krieges und blickten mit Sorge auf ihre nächsten Rechnungen für Strom, Öl oder Gas. Doch er sei überzeugt, dass „wir stärker und unabhängiger aus der Krise hervorgehen, als wir hineingegangen sind“.

Seit Anfang der 1970er Jahre bezog Deutschland zuverlässig und günstig Gas aus der Sowjetunion und dann aus Russland. Noch unmittelbar vor dem reaktionären Angriff Russlands auf die Ukraine, den die Nato durch ihr ständiges Vorrücken nach Osten gezielt provoziert hat, bezog Deutschland über 50 Prozent seines Gases aus Russland.

Seither gingen die Gaslieferungen als Folge der Sanktionen und des Kriegs auf 30 Prozent des Bedarfs zurück. Die fertige Pipeline Nord Stream 2 wurde überhaupt nicht in Betrieb genommen. Die Jamal-Pipeline, die durch Weißrussland und Polen verläuft, hat den Betrieb eingestellt. Nord Stream 1 lieferte am Schluss wegen einer in Kanada reparierten Gasturbine, die den Sanktionen zum Opfer fiel, nur noch 40 Prozent der möglichen Kapazität.

Derzeit finden die jährlichen Wartungsarbeiten von Nord Stream 1 statt, die bis zum kommenden Donnerstag abgeschlossen sein sollen. Es ist allerdings unklar, ob anschließend wieder russisches Gas nach Deutschland fließt. Ein vollständiger Ausfall wäre nicht auszugleichen.

Die EU-Kommission hat ausgerechnet, dass bei einem vollständigen Lieferstopp noch in diesem Monat nur knapp 15 Prozent des Gases, das Russland bisher im Jahr nach Europa lieferte, durch andere Lieferanten ausgeglichen werden könnte. Die EU werde ihr Ziel verfehlen, die Gasspeicher bis Anfang November zu 80 Prozent zu füllen, möglich seien höchstens 65 bis 71 Prozent.

In der ersten Hälfte dieses Jahres hat die EU zwar mehr Erdgas importiert als im ersten Halbjahr 2021, obwohl die Importe aus Russland um 30 Milliarden Kubikmeter zurückgingen. Aber inzwischen sind die alternativen Importmöglichkeiten weitgehend ausgereizt. Norwegen und die Niederlande, die Pipelinegas nach Deutschland liefern, haben das Maximum ihrer Kapazität erreicht.

Auch das weltweite Angebot von Flüssiggas (LNG) lässt sich momentan kaum noch steigern. Es wird erwartet, dass der Bedarf Chinas, des weltweiten größten LNG-Importeurs, in den kommenden Monaten wieder deutlich steigt. Hinzu kommt ein Brand in Freeport, dem zweitgrößten Exportterminal der USA, das erst Ende des Jahres wieder voll in Betrieb gehen kann.

Deutschland verfügt zudem über keine eigenen LNG-Terminals. Die beiden schwimmenden Terminals, die derzeit im Bau sind, könnten höchstens eine Milliarde Kubikmeter Erdgas pro Monat entladen, etwa 10 Prozent des Verbrauchs in einem Wintermonat.

LNG ist zudem extrem teuer. An den Börsen hat sich der Preis zum Teil versiebenfacht. Das bringt auch Zwischenhändler wie Deutschlands größten Gashändler Uniper in Schwierigkeiten, die langfristige Lieferverträge zu festen Preisen vereinbart haben. Die Bundesregierung unterstützt sie mit Milliardensummen und hat im Mai das Energiesicherungsgesetz neu gefasst, damit sie die höheren Preise auf die Endkunden abwälzen können.

Regierungsvertreter verhöhnen die Opfer mit zynischen Ratschlägen. Klaus Müller, der grüne Chef der Bundesnetzagentur, mahnte, angesichts der massiven Preissteigerungen technisch vorzusorgen: „Redet mit eurem Vermieter oder einem Handwerker, wenn er noch verfügbar ist. Was kann man tun, um die Heizung zu optimieren?“

Er schlug außerdem vor: „Erhöht freiwillig euren Abschlag oder legt jeden Monat etwas Geld zurück, etwa auf ein Sonderkonto.“ Wen will der damit zum Narren damit halten?

Laut einer Anfrage der Linkspartei vom September 2021 beziehen 12 Prozent der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten einen monatlichen Bruttolohn unter 2000 Euro. Und wie steht es erst um Erwerbslose, Rentner oder Studierende? Es ist für diese Menschen schlicht unmöglich, umzurüsten oder Rücklagen zu bilden – sofern das monatlich zur Verfügung stehende Geld überhaupt noch für das Notwendigste reicht.

Um die massiven Preiserhöhungen auszugleichen, ist derzeit eine einmalige Energiepreispauschale in Höhe von 300 Euro vorgesehen, die im September ausgezahlt wird und versteuert werden muss – ein Tropfen auf den heißen Stein. Empfänger von Arbeitslosengeld I und II erhalten noch weniger. Rentner, die keine Einkommenssteuer bezahlen, werden leer ausgehen.

Während für die Bundeswehr innerhalb kürzester Zeit ein Sondervermögen in Höhe von 100 Milliarden Euro bereitgestellt wird, lässt die Ampelkoalition Arbeiter ins offene Messer rennen. Bereits jetzt wird über Wärmestuben und Mietmoratorien diskutiert, weil klar ist, dass viele Menschen sich die steigenden Energiekosten nicht mehr werden leisten können.

Frieren und Hungern für den Krieg – das ist der Preis, den die Regierung der Bevölkerung aufbürdet, um wieder zur führenden Militärmacht Europas zu werden.

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