Perspektive

Unerträgliche soziale Bedingungen schüren den Klassenkampf in den USA

Eine Welle von Streiks und Protesten der Arbeiterklasse hat die Welt im Griff – von landesweiten Streiks der Eisenbahner und Hafenarbeiter in Europa bis zu Massenprotesten in Sri Lanka, Albanien und anderen Ländern gegen die steigende Inflation. Auch wenn sich die unmittelbaren Ursachen der jeweiligen Kämpfe unterscheiden, geht es bei allen um die Forderung nach einer Umverteilung der gesellschaftlichen Ressourcen – weg von den Profitinteressen der Reichen hin zur Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse.

Doch nirgendwo ist der Kontrast zwischen dem hohen Niveau der Technik und Produktion, das die Beseitigung der Not ermöglicht, und der Realität des sozialen Elends so krass wie in den Vereinigten Staaten. Die herrschende Klasse im mächtigsten kapitalistischen Land der Welt hat jahrzehntelang die Löhne und den Lebensstandard der Arbeiter gesenkt. In nur etwas mehr als zwei Jahren Pandemie ist es ihr gelungen, das Land völlig zu zerrütten. Jetzt wälzt sie die Kosten der selbst verursachten Krise auf den Rücken der Arbeiterklasse ab.

Die Szenen von bitterer Armut und Schlachthofgemetzel, die in Upton Sinclairs sozialkritischem Roman Der Dschungel über die Chicagoer Fleischindustrie an der Wende zum 20. Jahrhundert vorkommen, lesen sich wie ein Bericht über das tägliche Leben im Amerika des 21. Jahrhundert. Das Buch, das in den frühen 1900er Jahren einen Skandal auslöste, kann heute kaum noch schockieren.

Tödliche Arbeitsunfälle sind an der Tagesordnung. Letzte Woche wurde der Hafenarbeiter Uriel „Popeye“ Matamoros, ein Einwanderer aus Nicaragua, im Hafen von Newark zu Tode gequetscht, als eine Maschine, die er bediente, auf ihn fiel. Nach Angaben von Kollegen ordnete die Betriebsleitung an, weiter zu arbeiten, auch in der Nähe der Unfallstelle, obwohl sie noch nicht vollständig gereinigt war. „Es stank furchtbar“, sagte ein Arbeiter gegenüber der WSWS.

Ein Arbeiter in der Gießerei von Caterpillar in Mapleton, Illinois (Foto: Caterpillar) [Photo: Caterpillar]

Am selben Tag starb ein Arbeiter in einem Amazon-Lagerhaus in Cartaret, New Jersey. Er brach unter der enormen Arbeitshetze und Belastung am Amazon-Prime-Day zusammen. Im Juni ereignete sich ein tödlicher Arbeitsunfall in einer Caterpillar-Gießerei in Illinois, wo der Arbeiter Steven Dierkes in einen mit geschmolzenem Metall gefüllten Tiegel fiel.

Die immer häufigeren und intensiveren Hitzewellen, ein Ergebnis des menschengemachten Klimawandels, fordern ebenfalls ihren Tribut. Vor zwei Wochen starb der UPS-Fahrer Esteban Chavez an einem Hitzschlag, als er bei fast 38 Grad Celsius seine Route fuhr. Die Lieferwagen von UPS sind nicht klimatisiert. Arbeiter des Autoteileherstellers Ventra in Evart, Michigan, sind am Fließband in Ohnmacht gefallen und mussten wegen der extremen Hitze ins Krankenhaus eingeliefert werden. Gleichzeitig wütet in Europa eine historische Hitzewelle, der Tausende zum Opfer fallen.

Diese schrecklichen Todeszahlen verblassen sogar noch im Vergleich zu dem hohen Blutzoll der Corona-Pandemie, die in den USA mehr als eine Million Menschen getötet hat. Obwohl seit langem bekannt ist, dass Fabriken, andere große Arbeitsstätten und Schulen die Hotspots für Corona-Ausbrüche sind, wurden sie von den Regierungen im Namen der „Wirtschaft“ fast während der gesamten Pandemie offen gehalten.

Außerdem wütet die Pandemie trotz selbstgefälliger Medienberichte weiter. Ventra-Arbeiter berichten von einem Corona-Ausbruch in ihrem Werk in Evart. Die tatsächliche Zahl der Fälle ist jedoch nicht bekannt, da die Ausbrüche in den Betrieben systematisch vertuscht werden. Oft erfahren die Arbeiter nur durch ihre Kollegen und durch Mundpropaganda von den Infektionen.

Die großen Unternehmen versuchen verzweifelt zu improvisieren, um die Lieferketten und die Produktion aufrechtzuerhalten. Deshalb zwingen sie den Arbeitern willkürliche Arbeitszeitregelungen und Strafmaßnahmen auf. Der Achtstundentag und die 40-Stunden-Woche sind schon in weite Ferne gerückt. Die Lage der Autoarbeiter schwankt, oft ohne Vorwarnung, zwischen 70- und 80-Stunden-Wochen und Entlassungen. An den Docks der Westküste stehen jeden Morgen Tausende von „Gelegenheitsarbeitern“– in Wirklichkeit Tagelöhner – Schlange, um einen Arbeitsplatz für den Tag zu ergattern.

Noch schlimmer sind die Bedingungen in der Eisenbahnindustrie, wo 100-Stunden-Wochen keine Seltenheit sind. Die Arbeiter sind rund um die Uhr auf Abruf, so dass sie keine Zeit für ihre Familien oder auch nur für einen Arzttermin haben. Eine Arbeiterin erzählte der WSWS, dass sie so wenig Freizeit hat, dass sie Schlaftabletten nehmen muss, um möglichst gut zu schlafen, und dann noch einmal Tabletten, um am Morgen aufzuwachen.

Zu allem Überfluss werden die Arbeiter von einer galoppierenden Inflation erdrückt, die im letzten Monat zum ersten Mal seit Jahrzehnten über 9 Prozent lag. Der Anstieg der Nominallöhne, der den Börsianern einen Schauer über den Rücken jagte, reicht in Wirklichkeit nicht annähernd aus, um mit der Preisentwicklung Schritt zu halten. Die inflationsbereinigten Löhne sind im vergangenen Jahr um 4 bis 5 Prozent gesunken.

Die Unternehmer und Oligarchen hingegen, denen das Land gehört, scheffeln soviel Geld wie nie. Beide Parteien haben Billionen von Dollar in die Wall Street gepumpt und so die Märkte während der Pandemie versorgt, während Millionen Menschen in Not geraten sind.

Selbst die Eisenbahnindustrie, die am Rande des totalen Zusammenbruchs steht, hat Dutzende von Milliarden Dollar eingestrichen. Dieser kritische Teil der Infrastruktur dient höchstens als Sparschwein für Hedgefonds und Milliardäre wie Warren Buffett und Bill Gates. Laut der Forschungsgruppe Comparisun war die Bahn 2019 die profitabelste Branche Amerikas, mit einer satten Gewinnspanne von 50,93 Prozent, mehr als das Fünffache des nationalen Durchschnitts.

Kein Wunder also, dass es in der amerikanischen Arbeiterklasse brodelt. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass es nicht mehr so weitergehen kann wie bisher und eine grundlegende Veränderung notwendig ist. Das zeigt sich am deutlichsten in der wachsenden Militanz und Streikbeteiligung der Arbeiter. In diesem Monat stimmten die Eisenbahner mit 99,5 Prozent für einen landesweiten Streik.

In einer früheren Periode, als die USA noch eine aufstrebende Industrienation waren, konnte die herrschende Elite den Arbeitern Zugeständnisse machen, um ihren Unmut abzudämpfen. Doch das ist vorbei. Die gesamte Innenpolitik der Biden-Regierung zielt auf die eine oder andere Weise darauf ab, den Klassenkampf zu unterdrücken und die sozialen Bedingungen noch weiter zu verschlechtern.

Die US-Notenbank erhöht mit Bidens Unterstützung die Zinssätze, um eine „Lohn-Preis-Spirale“ zu verhindern, d. h. einen Lohnanstieg, der mit der Inflation Schritt hält. Nach dem Vorbild ähnlicher geldpolitischer Maßnahmen in den späten 1970er und frühen 1980er Jahren, mit denen die Ära der Deindustrialisierung begann, sind sie bereit, eine Rezession auszulösen, indem sie die Zinssätze anheben und die Massenarbeitslosigkeit als Waffe gegen eine widerspenstige Arbeiterklasse hochtreiben.

Das Weiße Haus unter Biden greift auch direkt ein, um Streiks zu blockieren und das Entstehen einer Massenbewegung der Arbeiterklasse zu verhindern. Letzten Freitag, als er auf dem Weg zu einem Treffen mit dem autokratischen Herrscher von Saudi-Arabien war, unterzeichnete Biden eine Verordnung zur Ernennung eines Präsidialausschusses (Presidential Emergency Board, PEB) in der Eisenbahnindustrie und stoppte damit einen Streik, den die Arbeiter fast einstimmig befürwortet hatten. Schon zuvor hatte sich Biden in beispielloser Weise in die Tarifverhandlungen an den Häfen der Westküste und in den US-Raffinerien eingemischt. Biden arbeitete mit den United Steelworkers zusammen, um einen landesweiten Raffineriestreik abzuwenden und einen Vertrag durchzusetzen, der laut dem Gewerkschaftspräsidenten nicht die Inflation befeuern würde.

Biden verfolgt eine Politik, die seit Jahrzehnten als Korporatismus bekannt ist, das heißt, als Zusammenschluss von Staat, Unternehmen und Gewerkschaften gegen die Arbeiterklasse. Die Gewerkschaften, die von einer Bürokratie kontrolliert werden, die durch tausend Fäden mit dem Management verbunden ist, haben diese Politik mit Begeisterung übernommen. Die International Longshore and Warehouse Union hält die Hafenarbeiter seit fast drei Wochen ohne einen Vertrag oder auch nur eine formale Verlängerung auf ihrem Arbeitsplatz. Letzten Monat gab sie eine außerordentliche gemeinsame Erklärung mit den Hafenbetreibern ab, in der es hieß, sie habe nicht die Absicht zu streiken. Die Eisenbahnergewerkschaften hatten Biden unterdessen seit Monaten offen aufgefordert, einen Präsidialausschuss zu ernennen, und damit praktisch ein Eingreifen der Regierung gefordert, um einen Streik ihrer eigenen Mitglieder zu illegalisieren.

Aber wie Leo Trotzki sagte, sind die Gesetze der Geschichte mächtiger als der bürokratische Apparat. Der Versuch, den Klassenkampf bürokratisch zu ersticken, wird nicht nur scheitern, er wird auch alle Beteiligten diskreditieren und die Entwicklung einer Rebellion der Basis gegen die gesamte korporatistische Verschwörung, einschließlich der Unternehmen, der Gewerkschaften und der Regierung sowie der beiden prokapitalistischen Parteien, fördern.

Es gibt viele Anzeichen dafür, dass sich eine solche Bewegung entwickelt. Immer häufiger lehnen Arbeiter mit überwältigender Mehrheit Ausverkaufsverträge ihrer Gewerkschaften ab. Bei der Lebensmittelkette Kroger war kürzlich die Facebook-Seite der örtlichen Gewerkschaft mit einer Welle von negativen Kommentaren der Arbeiter konfrontiert, nachdem ein schlechter Tarifvertrag „verabschiedet“ worden war. Daraufhin löschte die Gewerkschaft ihre gesamte Facebook-Seite.

Die entscheidende Frage ist jedoch, wie diese Bewegung organisiert und ausgerichtet wird. Die in den letzten zwei Jahren entstandenen Aktionskomitees, die sich gegen den Verrat der Gewerkschaftsbürokratie gebildet haben, weisen den Weg nach vorn.

Eine bedeutende Initiative ist auch der Wahlkampf des Mack-Trucks-Arbeiters Will Lehman, der sich auf den Vorsitz der Gewerkschaft United Auto Workers bewirbt. Lehmans Kampagne, die nicht eine Reform, sondern die Abschaffung der Gewerkschaftsbürokratie und die Einführung der Arbeiterkontrolle in den Betrieben fordert, ist der bewussteste Ausdruck des sich anbahnenden Zusammenstoßes zwischen den Arbeitern und dem unternehmensfreundlichen Gewerkschaftsapparat.

Die Arbeiter werden mit der Frage nach der grundlegenden Organisation und Struktur der Gesellschaft konfrontiert. Wer soll den Reichtum der Gesellschaft kontrollieren – die herrschende Kapitalistenklasse oder die Arbeiter?

Die vergangenen zwei Jahre haben gezeigt, dass kein einziges soziales Problem im Rahmen der Profitlogik gelöst werden kann. Vielmehr wurzeln heute alle gesellschaftlichen Probleme im Profitstreben. Aber der Kampf gegen die kapitalistische Ausbeutung erfordert den Kampf der Arbeiterklasse für die sozialistische Umstrukturierung der Gesellschaft und die Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln.

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