Türkei bombardiert kurdische Kräfte in Syrien und dem Irak

Das türkische Verteidigungsministerium kündigte am Sonntagmorgen den Beginn der „Luftwaffenoperation Klauenschwert“ gegen kurdisch-nationalistische Milizen im Norden des Iraks und Syriens an. Laut der Erklärung wurden Qandil, Asos und Hakurk im Nordirak und Kobane, Tel Rifaat, Cizire und Derik in Nordsyrien angegriffen. In Nordsyrien kam es Berichten zufolge in vielen Orten zu Massenprotesten gegen die Luftangriffe.

Inspektion eines Geländes am Sonntag, dem 20. November 2022, das von türkischen Luftangriffen beschädigt wurde. Die Angriffe zerstörten ein Elektrizitätswerk im Dorf Taql Baql in der syrischen Provinz Hasakeh (AP Photo/Baderkhan Ahmad) [AP Photo/Baderkhan Ahmad]

Das Ministerium erklärte, die Luftangriffe seien „im Einklang mit dem Recht auf Selbstverteidigung gemäß Artikel 51 der Charta der Vereinten Nationen durchgeführt worden“. Berichten zufolge benutzen die türkischen Kampfflugzeuge den von Russland kontrollierten syrischen Luftraum, wonach die russische Regierung die Luftangriffe stillschweigend zulässt.

Die Operation gegen die von den USA unterstützten Volksverteidigungseinheiten (YPG), den bewaffneten Flügel der Partei der Demokratischen Union (PYD), und die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) erfolgt inmitten des Nato-Kriegs gegen Russland in der Ukraine.

Laut dem türkischen Verteidigungsministerium richteten sich die Luftangriffe gegen „Schutzräume, Bunker, Höhlen, Tunnel, Munitionsdepots und so genannte Hauptquartiere sowie Ausbildungslager“ der PKK und der YPG; Zivilisten kamen angeblich nicht zu Schaden. Die Hawar News Agency (ANHA) meldete jedoch den Tod von elf Zivilisten, darunter des ANHA-Reporters İsam Ebdullah, sowie sechs Verwundete, darunter ein weiterer Journalist. Dem Bericht zufolge wurden auch 14 syrische Soldaten getötet.

Die staatliche syrische Nachrichtenagentur Sana bestätigte den Tod von syrischen Soldaten, nannte aber keine Zahlen.

Das türkische Innenministerium machte die PKK und die YPG für einen Raketenangriff auf den Grenzübergang Öncüpınar verantwortlich, bei dem am Sonntag acht Sicherheitskräfte verwundet wurden. Die Nachrichtenagentur Anadolu berichtete außerdem über den Einschlag von vier Raketen im Bezirk Karkamış in der Provinz Gaziantep, die am Sonntagabend aus Nordsyrien abgefeuert wurden und in unbewohntem Gebiet niedergegangen seien. Der Bericht machte die YPG dafür verantwortlich.

Farhad Shami, Leiter der Medienabteilung der Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF), deren Rückgrat die YPG bildet, erklärte, die Luftangriffe hätten das Corona-Krankenhaus in Kobane, das Kraftwerk in Derik und Getreidespeicher in Dahir al Arab zerstört.

SDF-Generalkommandeur Mazlum Ebdi warnte vor einer Eskalation des Konflikts: „Wir wollen nicht, dass ein großer Krieg ausbricht. Aber wenn der türkische Staat unbedingt einen Krieg gegen uns führen will, sind wir zu starkem Widerstand bereit. Der Krieg ist nicht auf dieses Gebiet beschränkt, er breitet sich überall aus, und jeder ist davon betroffen.“ Die PYD fügte hinzu: „Russland und die internationale Koalition unter Führung der USA sind für die Gräueltaten des türkischen Staats gegen unser Volk verantwortlich.“

Die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdoğan stellte die Operation als Reaktion auf den Terroranschlag vom letzten Sonntag dar, der sich gegen Zivilisten in der Istanbuler Unabhängigkeitsstraße (İstiklal Cadessi), eine der belebtesten Straßen der Stadt, richtete. Das Verteidigungsministerium schrieb zu den Luftangriffen auf Twitter: „Zeit für Vergeltung! Die Schurken werden für ihre heimtückischen Anschläge zur Rechenschaft gezogen.“ Präsidentensprecher Ibrahim Kalin twitterte: „Der Tag der Abrechnung für İstiklal!“

Die türkische Regierung macht die PKK und die YPG für den Terroranschlag verantwortlich, bei dem sechs Menschen, darunter zwei Kinder, ums Leben kamen und weitere 81 verwundet wurden – was beide jedoch bestritten haben. Die mutmaßliche Haupttäterin, Ahlam Albashir, soll ausgesagt haben, sie sei „ein Mitglied der YPG“, allerdings hätte die YPG ihr „gedroht, ihren Geschwistern etwas anzutun“, um sie zu dem Anschlag zu zwingen. Nach dem Anschlag wurden 19 Menschen verhaftet und 29 weitere abgeschoben.

Abgesehen von den Verdächtigungen gegen Albashir, die angeblich eine „Geheimdienstoffizierin der YPG“ ist, haben Enthüllungen über Telefonate zwischen ihr und der faschistischen Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP), die mit Erdoğans Regierung verbündet ist, Zweifel an den offiziellen Erklärungen geweckt. Mehmet Emin İlhan, der MHP-Vorsitzende des Bezirks Güçlükonak in Şırnak, erklärte, der auf ihn registrierte Telefonanschluss sei illegal beschafft worden. Er habe nicht mit Albashir gesprochen.

Daraus ergibt sich die Frage, ob Erdoğans Beschuldigung, die PKK und die YPG seien für den Terroranschlag in Istanbul verantwortlich, Teil von Ankaras Plänen für eine Operation gegen kurdische Milizen in Syrien waren.

Bezeichnenderweise hat das amerikanische Konsulat in Erbil in den letzten Tagen auf seiner Website ebenfalls eine Warnung an US-Staatsbürger herausgegeben, in der es heißt, es beobachte „glaubwürdige Open-Source-Berichte über potenzielle türkische Militäraktionen im Norden Syriens und des Irak in den kommenden Tagen. Die US-Regierung rät US-Staatsbürgern weiterhin eindringlich, diese Gebiete zu meiden.“

Letztlich hat die Erdoğan-Regierung den Terroranschlag als Vorwand für eine neue Operation gegen kurdisch-nationalistische Kräfte in Syrien und dem Irak benutzt. Tatsächlich gehen Ankaras Vorbereitungen auf eine Invasion Syriens bis in den Mai zurück. Am 23. Mai erklärte Erdoğan: „Wir werden bald neue Schritte hinsichtlich der unvollendeten Teile der Arbeit einleiten, die wir begonnen haben, um eine 30 Kilometer tiefe Schutzzone entlang unserer Südgrenze zu schaffen.“

Doch damals erhielt Ankara für seine neue Operation kein grünes Licht aus Washington, das die YPG als Stellvertreter gegen das syrische Regime von Präsident Assad benutzt, und ebenso wenig von Russland und dem Iran, die das Assad-Regime unterstützen.

Die World Socialist Web Site und die Socialist Equality Group in der Türkei rufen Arbeiter auf, den Missbrauch eines Terroranschlags als Vorwand für Militarismus und Krieg abzulehnen, und warnen Arbeiter weltweit vor den Gefahren einer militärischen Eskalation. Die Tatsache, dass bereits Soldaten der syrischen Regierung getötet wurden, verdeutlicht die Möglichkeit einer weiteren Eskalation zwischen türkischen und syrischen Truppen. Bereits im Jahr 2020 waren die zunehmenden Spannungen zwischen Damaskus und Ankara – einem überzeugten Unterstützer des Nato-Kriegs für einen Regimewechsel in Syrien – zu einer direkten Konfrontation eskaliert.

Ankara hat seit 2016 zahlreiche Operationen in Syrien gestartet, um die Entstehung eines kurdischen Staats an seiner Südgrenze zu verhindern, und seine Nato-Verbündeten, vor allem die USA, dazu aufgefordert, die YPG nicht mehr als Stellvertretertruppe in Syrien zu benutzen. Die türkischen Streitkräfte und ihre islamistischen Stellvertreter kontrollieren derzeit etwa zehn Prozent des syrischen Gebiets. Dort leben 4,4 Millionen Menschen.

Die Erdoğan-Regierung ist darüber hinaus mit einer scharfen wirtschaftlichen und sozialen Krise im eigenen Land konfrontiert. Die jährliche Inflationsrate liegt offiziell bei über 85 Prozent, Dutzende Millionen Arbeiter leiden unter beispielloser Verarmung. Während die Unzufriedenheit in der Arbeiterklasse wächst, stehen in der Türkei im Jahr 2023 Präsidentschafts- und Parlamentswahlen bevor.

Unter diesen Umständen versucht Erdoğan, durch das Schüren von türkischem Nationalismus und Militarismus die Klassenspannungen zu unterdrücken und seinen Rückhalt wieder zu festigen. Die Regierung will die YPG außerdem aus Nordsyrien vertreiben, um syrisch-arabische Flüchtlinge aus der Türkei dorthin zu verbringen.

Die einzige progressive Antwort auf diesen Konflikt – ein Nebenprodukt des Kriegs, den die imperialistischen Mächte unter der Führung der USA im Nahen Osten seit 30 Jahren führen – ist die revolutionäre sozialistische Einheit der Arbeiterklasse gegen den Imperialismus und alle seine kapitalistischen Stellvertreter.

Loading