Erneuter Generalstreik in Griechenland nach dem Tempi-Zugunglück

Millionen Arbeiter in Griechenland traten am Donnerstag in den Streik und beteiligten sich an Protesten in mehreren Städten. Dies war die bisher größte Mobilisierung in Reaktion auf das Zugunglück von Tempi, bei dem am 28. Februar 57 Menschen ums Leben kamen.

Demonstranten während des 24-stündigen Generalstreiks im Athener Zentrum am 16. März 2023 [AP Photo/Michael Varaklas]

Der Generalstreik wurde von den beiden Gewerkschaftsverbänden, dem Allgemeinen Gewerkschaftsbund (GSEE) und dem Dachverband der Beschäftigten des öffentlichen Sektors (ADEDY), ausgerufen. Unterstützt wurde er auch von PAME, dem Gewerkschaftsverband der stalinistischen Kommunistischen Partei Griechenlands (KKE), und der Panhellenischen Seemannsföderation.

Der Streik legte alle Verkehrsnetze lahm. Der Bahnverkehr ist seit der Zugkatastrophe eingestellt, bei der ein Hochgeschwindigkeitszug mit 350 Passagieren auf dem Weg von Athen nach Thessaloniki frontal mit einem Richtung Süden fahrenden Güterzug zusammengestoßen war. Mitglieder der Eisenbahnergewerkschaft schlossen sich den Streiks und Protesten am Donnerstag an.

In der Hauptstadt Athen fuhren die U-Bahn und Straßenbahnen nur einige Stunden lang, um den Teilnehmern die An- und Abreise zu den Demonstrationen zu ermöglichen. Zwischen den griechischen Inseln verkehrten keine Schiffe, und viele Flüge fielen wegen einer 24-stündigen Unterbrechung der Luftverkehrskontrolle aus. Die öffentlichen Krankenhäuser arbeiteten mit Notbesetzung, und die staatlichen Schulen blieben geschlossen.

Wie schon während des Generalstreiks, zu dem ADEDY am 8. März aufgerufen hatte, sperrte die Polizei die U-Bahnhöfe Syntagma, Panepistemio und Omonoia – alle in der Nähe wichtiger öffentlicher Plätze und Versammlungsorte –, um die Zahl der Demonstrationsteilnehmer im Zentrum Athens zu begrenzen.

Trotzdem demonstrierten Zehntausende in Athen (siehe Video unten mit Demonstranten in der Panepistimiou-Straße), Thessaloniki und anderen Städten. Am Athener Hauptbahnhof wurden zum Gedenken an die Toten Blumen niedergelegt und Kerzen angezündet.

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An der Spitze der Proteste stand erneut die Jugend. Darunter waren viele Studenten und Schüler, die seit dem Unglück ihre Schulen und Universitäten besetzen. Die meisten Opfer waren junge Menschen, besonders viele Studierende – allein zwölf hatten an der Athener Aristoteles-Universität studiert. Eine Gruppe Jugendlicher auf einer Großdemonstration in Athen hielt ein Transparent hoch mit den Worten: „Wir werden zur Stimme aller Toten! Das Leben wird auf den Straßen des Kampfs gewonnen.“

Während eines 24-stündigen Generalstreiks im Zentrum Athens am 16. März 2023 halten Schüler ein Transparent mit der Aufschrift „Wir werden zur Stimme aller Toten! Das Leben wird auf den Straßen des Kampfs gewonnen.“ [AP Photo/Michael Varaklas]

Auf den Demonstrationen dominierten regierungsfeindliche Parolen und Sprechchöre, die sich gegen die Behauptung des Ministerpräsidenten der Nea Dimokratia (ND), Kyriakos Mitsotakis, wandten, dass ein einzelner Bahnhofsvorsteher in Larisa, der letzten Haltestelle des Zugs vor dem Zusammenprall, für die Katastrophe verantwortlich sei. Auf einigen Transparenten auf dem Syntagma-Platz vor dem Parlament war zu lesen: „Es war kein menschliches Versagen, es war ein Verbrechen“ und „Unsere Toten, eure Profite“.

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Auch der Satz „Melde Dich, wenn Du da bist“, der von Eltern häufig verwendet wird und seit dem Unglück viral gegangen ist, stand auf mehreren Plakaten. Jugendliche riefen: „Die neue Generation verzeiht euch nicht; die Tränen sind versiegt und haben sich in Wut verwandelt.“

Bei vielen Tempi-Demonstrationen ist die Bereitschaftspolizei mit Tränengas, Betäubungsgranaten und Schlagstöcken brutal gegen Teilnehmer vorgegangen. Am Donnerstag kam es zu weiteren Angriffen in Athen.

Der Journalist Nikos Sverkos von der Zeitung Avgi, die der pseudolinken Partei Syriza (Koalition der radikalen Linken) nahesteht, postete ein Video eines „unprovozierten Polizeiangriffs auf die Demonstration am 16. März“ und kommentierte: „So viel Respekt haben sie vor den Toten in #Tempi.“

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Angesichts der gewaltigen Wut, die auch knapp drei Wochen nach dem Unglück nicht abflaut, könnte die ND-Regierung möglicherweise nicht mehr lange überleben. Die Regierung sah sich gezwungen, eine Entschuldigung für die Opfer zu veröffentlichen. Sie versprach, dass sie das Schienennetz sichern werde, das durch Haushaltskürzungen und chronischen Personalmangel dezimiert worden war, besonders nach der Privatisierung der staatlichen Bahngesellschaft TrainOSE unter Syriza im Jahr 2017. Damals hatte Syriza im Koalitionsbündnis mit den rechtsextremen Unabhängigen Griechen auf Geheiß der „Troika“ aus Europäischer Union, Internationalem Währungsfonds und Europäischer Zentralbank noch drastischere Sparmaßnahmen durchgesetzt als zuvor die sozialdemokratische PASOK und die ND seit 2008.

Nach dem Zugunglück musste die ND die geplanten Wahlen absagen; der erste und zweite Wahlgang sollten ursprünglich im April und Mai stattfinden. Noch hat sie keinen neuen Termin genannt. Die Wahlen müssen vor Ablauf der Amtszeit der ND im Juli abgehalten werden, was jedoch mit einer 40-tägigen Gedenkzeit für die Opfer zusammenfällt. Die Regierung kündigte an, dass sie beabsichtigt, den nationalen Bahnverkehr am 22. März wieder aufzunehmen, mit zusätzlichem Personal zur Überwachung der Sicherheit und obligatorischen Geschwindigkeitsreduzierungen entlang der Streckenabschnitte, wobei der volle Betrieb schrittweise bis zum 11. April wiederhergestellt werden soll.

Syriza war nicht in der Lage, von dem Unmut über die Regierung zu profitieren und mehr Unterstützung zu gewinnen. Ihre Umfragewerte sind stabil geblieben. Das liegt daran, dass Millionen von Menschen – einschließlich der jüngeren Generation, die nichts anderes als Armut und einen Mindestlohn von 700 Euro kennt – verstanden haben, dass die Partei von Alexis Tsipras genauso viel Verantwortung für die Todesfälle trägt wie die anderen Austeritätsparteien.

Am Dienstagabend versuchte Tsipras im Fernsehsender Mega TV, die Rolle der Syriza-Regierung zu beschönigen, insbesondere die Privatisierung der staatlichen Eisenbahn. Dies sei nur unter Zwang geschehen, log er. Die Privatisierung der Bahn durch die Syriza-Regierung „war erzwungen, weil wir aufgrund der Memoranden keine andere Wahl hatten“. Tatsächlich hatte Tsipras 2015 die Wahlen gewonnen, weil er versprochen hatte, die Sparmemoranden zurückzuweisen. Nach der Machtübernahme stimmte Syriza zu, die bestehenden Sparmaßnahmen fortzusetzen, und traf weitere Abkommen mit der Troika, die sogar über die von PASOK und ND auferlegten brutalen Kürzungen hinausgingen. Griechenland wurde zu einem Versuchslabor für die Zerstörung des Lebensstandards der Arbeiter in ganz Europa.

Alexis Tsipras im Interview auf Mega TV, 14. März 2023 [Photo: screenshot of video atsipras/Twitter]

In dem Interview sagte Tsipras weiter: „Die Regierung der Nea Dimokratia versteht unter Sicherheit nur die Ernennung und Einstellung von Polizisten. Wir haben keine Ärzte, wir haben keine Krankenpfleger, wir haben keine Lehrer, wir haben keine Bahnhofsvorsteher.“ Die gleiche Kritik muss er aber gegen sich selbst richten. Seine Regierung hat nichts unternommen, um die Haushaltskürzungen und den Personalmangel im öffentlichen Sektor und im Eisenbahnnetz rückgängig zu machen.

Laut offiziellen Zahlen von TrainOSE beschäftigte das Unternehmen am 31. Dezember 2017 gerade einmal 637 Mitarbeiter im gesamten Schienennetz – also in dem Jahr, in dem Syriza das Unternehmen für nur 45 Millionen Euro an die Ferrovie Dello Stato Italiana, die staatliche italienische Eisenbahnholding, verkaufte. Die Neueinstellungen bei TrainOSE (93) überstiegen kaum die Zahl der Beschäftigten, die in diesem Jahr in den Ruhestand gingen (71). Das Unternehmen sollte so schlank und profitabel wie möglich für die neuen Eigentümer gemacht werden. Ferrovie musste so gut wie nichts ändern und brüstete sich mit massiven Gewinnen im Rahmen ihrer „strategischen Expansionsoperation“. Ein Jahr später beschäftigte die Eisenbahngesellschaft nur noch 659 Mitarbeiter.

Tsipras räumte ein, dass Syriza ihre Umfragewerte nicht erhöhen konnte, seit die Zugkatastrophe die ND-Regierung erschüttert hat. Die Proteste bezeichnete er als einen „Aufstand“ junger Menschen im Alter von bis zu 30 Jahren, der sich von der Opposition gegen die Sparmaßnahmen im vergangenen Jahrzehnt unterscheide. Er befürchte, dass die Demonstrationen wegen des Zugunglücks eine „spontane Reaktion… auf das gesamte politische System“ seien. Sie „werden das Ergebnis der Wahlen beeinflussen“.

Diese Äußerung aus dem Mund von Tsipras, einem zuverlässigen Vertreter der griechischen Kapitalistenklasse und des Staats, muss als Warnung an die Arbeiterklasse verstanden werden. Tsipras weiß, dass sich die Opposition gegen das gesamte politische System richtet und infolge des Tempi-Unglücks enorm zunimmt. Aus Sicht des Syriza-Führers muss dieser Widerstand unterdrückt und kontrolliert werden – und seine Partei steht bereit, diese Aufgabe zu erfüllen.

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