Dies ist der Bericht von Eduardo Parati, einem IYSSE-Mitglied in Brasilien, auf der internationalen Online-Kundgebung zum 1. Mai 2023. Sämtliche Reden können unter wsws.org/mayday abgerufen werden.
An diesem Ersten Mai sind die Arbeiter und Jugendlichen in Lateinamerika, wie auf der ganzen Welt, mit zwei gegensätzlichen, aber miteinander verknüpften Prozessen konfrontiert: der Entwicklung der kapitalistischen Krise und der sozialen Revolution. Dies zeigt sich am deutlichsten im Ausbruch des weltweiten Krieges und in der Verschärfung des internationalen Klassenkampfs.
In den letzten Jahren haben Arbeiter auf der ganzen Welt in unzähligen Formen erlebt, was die kapitalistische Herrschaft für katastrophale Folgen für die ganze Gesellschaft hat: eine verheerende Pandemie, eine steigende Inflation, zunehmende staatliche Unterdrückung, das Wiederaufleben des Faschismus und jetzt die Gefahr der nuklearen Vernichtung.
Der Krieg in der Ukraine hat direkte Auswirkungen auf Lateinamerika. In dieser Region, wie auch anderswo, verschärft die Finanzierung der imperialistischen Aufrüstung und der Bailouts für die Finanzkrise die Ausbeutung der Arbeiterklasse. Dies erfordert die Unterdrückung jeglicher sozialer Opposition und deren Umleitung in die reaktionären Kanäle des Nationalismus. In Lateinamerika haben sämtliche vermeintlich linke Regierungen der „Rosa Welle“ [Pink Tide] dieses Programm angenommen. Das gilt auch für Brasiliens Präsident Lula von der Arbeiterpartei (PT).
Lateinamerika wird zunehmend zum Schauplatz für diplomatische, wirtschaftliche und militärische Auseinandersetzungen. Dies zeigt sich auch in Lulas Versuch, ein Gleichgewicht zwischen den imperialistischen Mächten USA und Nato einerseits und dem wachsenden Einfluss Chinas und – in geringerem Maße – Russlands in der Hemisphäre herzustellen.
Während seiner jüngsten Reise nach China verärgerte Lula seine imperialistischen Freunde – und einen Teil der brasilianischen Bourgeoisie - indem er die Hegemonie des US-Dollars lautstark in Frage stellte. Er fragte: „Warum sollte jedes Land für den Handel an den Dollar gebunden sein?“
Aber derselbe Lula hatte bei seinem Besuch in den USA vor nur zwei Monaten erklärt, dass er „Brasilien in der neuen Weltgeopolitik neu positionieren“ wolle. Er gab eine gemeinsame Erklärung mit US-Präsident Biden ab, in der er Russland für die „Verletzung der territorialen Integrität“ der Ukraine verurteilte.
Von einer Perspektive der „diplomatischen Neutralität“ oder einem Weg zum „Weltfrieden“ ist Lula weit entfernt. Stattdessen manövriert er prinzipienlos auf der Weltbühne. Das zeigt, dass die schwache lateinamerikanische Bourgeoisie nicht in der Lage ist, eine echte Unabhängigkeit von den imperialistischen Bestrebungen zur Neuaufteilung der Welt herzustellen.
Dies zeigt sich auch beim chilenischen Präsidenten der „Rosa Welle“, Gabriel Boric. Er begreift den imperialistischen Krieg gegen Russland als Chance für die chilenische Bourgeoisie, ihre Profite zu steigern. Boric erklärte im staatlichen Fernsehen, dass der Stopp der russischen Energie- und Mineralienexporte, also das Ergebnis des Kriegs und der Sanktionen, „uns eine sehr vielversprechende Position gegenüber dem verschafft, was aus der Welt kommt“. Er fügte hinzu:
Der Krieg in der Ukraine hat dazu geführt, dass sich viele Industrieländer aus der Abhängigkeit von russischen Energiequellen befreien müssen. Grüner Wasserstoff erscheint zum Beispiel als eine enorm wichtige Energie für die Zukunft der Welt, für deren Entwicklung Chile unvergleichliche Voraussetzungen und damit eine Reihe anderer Chancen hat. Das gilt übrigens auch für Kupfer und Lithium und nicht-konventionelle erneuerbare Energien.
Der venezolanische Präsidenten Nicolás Maduro schwankt zwischen Anprangerung der gegen das Land verhängten US-Sanktionen und der Bemühung um eine Annäherung an die US-Regierung, die ihrerseits weiterhin seinen Sturz anstrebt. Darin drückt sich unmittelbar die Krise aus, in der sich die bürgerlichen Regierungen in allen lateinamerikanischen Ländern befinden.
Illusionen in eine so genannte „neue multipolare Weltordnung“ werden auch von Teilen der kleinbürgerlichen nationalistischen Pseudolinken Lateinamerikas geteilt. Aber die USA werden ihre Hegemonie über eine Region, die sie historisch als ihren Hinterhof betrachten, nicht einfach aufgeben.
Die Chefin des US-Südkommandos, Generalin Laura Richardson, äußerte sich vor dem Streitkräfteausschuss des Senats zu Lateinamerika wie folgt: „Die Welt befindet sich an einem Wendepunkt. China hat seine Fähigkeit erweitert, Ressourcen abzubauen, Häfen zu errichten, Regierungen durch räuberische Investitionspraktiken zu manipulieren und Anlagen mit doppeltem Verwendungszweck zu bauen. In keiner militarisierten Region ist dies stärker ausgeprägt.“
Mit anderen Worten: Lateinamerika wird, genau wie der Rest des Planeten, zum Schlachtfeld auf dem Weg in den dritten Weltkrieg. Aber in Lateinamerika, wie auf dem gesamten Globus, treibt die kapitalistische Krise die Arbeiterklasse zu großen revolutionären Kämpfen.
Teil dieser Welle von weltweiten Arbeitskämpfen sind die Lehrkräfte. Im März traten 140.000 bolivianische Lehrkräfte in einen landesweiten Streik, der sich im April fortgesetzt hat. Ähnliche Aktionen sind im Bildungssektor in der gesamten Region ausgebrochen.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Im Februar gab es in Brasilien spontane Arbeitsniederlegungen von Vertragsarbeitern der staatlichen Erdölgesellschaft Petrobras. Die Drohung mit der erneuten Abschaltung größerer Raffinerien und Offshore-Plattformen bedeutet eine direkte Konfrontation mit Lulas neuer PT-Regierung.
Die Regierungen der „Rosa Welle“ in Lateinamerika sind nicht in der Lage, sich an die Arbeiterklasse zu wenden. Sie stehen den aufkommenden Kämpfen äußerst feindselig gegenüber. Sie reagieren darauf, indem sie den repressiven Staatsapparat stärken und den Wirtschaftsnationalismus fördern. Unterstützt werden sie darin durch die korporatistischen Gewerkschaften.
In jedem dieser Kämpfe gerät die Arbeiterklasse direkt in Konflikt nicht nur mit den Unternehmen, sondern auch mit dem kapitalistischen Staat und den Gewerkschaften. Letztere arbeiten daran, jede Form des Widerstands zu unterdrücken und die Arbeiter voneinander zu isolieren.
Brasilianische und andere lateinamerikanische Arbeiter kämpfen gegen die massiven Kürzungen bei Löhnen und Sozialleistungen und für die Verteidigung ihrer Interessen. Dabei finden sie ihre unverzichtbaren Verbündeten unter Arbeitern in den Vereinigten Staaten, in Europa und auf der ganzen Welt.
Unabhängige Aktionskomitees – über nationale Grenzen hinweg durch die Internationale Arbeiterallianz der Aktionskomitees vereint – sind der organisatorische Ausdruck der Arbeiterklasse in diesem neuen historischen revolutionären Moment.
Alle, die diese Maikundgebung verfolgen, müssen sich an die einzige soziale Kraft wenden, die Krieg, Diktatur und soziale Ungleichheit beenden kann: die internationale Arbeiterklasse.
Die Arbeiter Lateinamerikas haben in unzähligen Kämpfen ihre Entschlossenheit und Fähigkeit zur Selbstaufopferung unter Beweis gestellt. Sie müssen sich politisch wappnen, indem sie die Lehren aus dem langen Kampf der trotzkistischen Bewegung gegen all jene opportunistischen und revisionistischen Tendenzen ziehen, die die Arbeiterklasse – mit katastrophalen Folgen - dem bürgerlichen Nationalismus unterordnen.
Auf diesem prinzipiellen Fundament wird eine neue revolutionäre Führung aufgebaut, und in jedem Land werden neue Sektionen des Internationalen Komitees der Vierten Internationale gegründet werden.