EU-Innenminister verabschieden sich von Genfer Flüchtlingskonvention

Die EU-Innenminister haben das Asylrecht für Flüchtende am vergangenen Donnerstag auf ihrer Sitzung in Luxemburg faktisch begraben. Nach dem Willen der EU-Mitgliedsstaaten sollen Flüchtende zukünftig an den EU-Außengrenzen in Haftlagern interniert, ihre Asylanträge im Schnellverfahren entschieden und sie dann in nahezu beliebige Drittstaaten deportiert werden.

Die in Luxemburg verhandelten Gesetzesvorhaben zur Asylverfahrensverordnung (asylum procedure regulation, APR) und zur Asyl- und Migrationsmanagementverordnung (asylum and migration management regulation, AMMR) sind zwar unter der derzeitigen schwedischen Ratspräsidentschaft entworfen worden, wurden aber wesentlich von der deutschen Bundesregierung vorangetrieben.

Flüchtlinge 2018 im Mittelmeer während einer Rettungsaktion von Sea-Watch [Photo by Tim Lüddemann / flickr / CC BY-NC-SA 2.0]

Die deutsche Innenministerin Nancy Faser (SPD) bezeichnete die erzielte Verständigung auf Twitter daher auch als „historischen Erfolg – für die Europäische Union, für eine neue, solidarische Migrationspolitik und für den Schutz von Menschenrechten“. Ins gleiche Horn stieß die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen), die die Ausarbeitung der Gesetzesvorhaben intensiv begleitet hat und jetzt behauptet, dass sich „der Status Quo für viele Flüchtlinge verbessern“ werde.

Das Gegenteil ist der Fall. Die getroffenen Vereinbarungen atmen den Geist rechtsextremer und rassistischer Parteien und bauen die „Festung Europa“ weiter aus. Die schwedische Migrationsministerin Maria Malmer Stenergard setzt damit die flüchtlingsfeindlichen Forderungen der rechtsextremen Schwedendemokraten, auf deren Stimmen sich die Minderheitsregierung von Ulf Kristersson stützt, nahezu eins zu eins um.

Auch die deutsche Regierung hat allen hehren Worten über Menschenrechte zum Trotz die Forderungen der Alternative für Deutschland (AfD) übernommen. Sie hetzt gegen Flüchtende und bedient sich mit dem Verweis auf leere Haushaltskassen und überforderte Städte und Gemeinden der „Das Boot ist voll“-Rhetorik.

Die Heuchelei insbesondere der deutschen Regierung ist dabei atemberaubend. Baerbock erklärte, die Einigung sei seit Jahren überfällig, sie verhindere, „dass es wieder zu Zuständen an den EU-Außengrenzen wie in Moria kommt“. Das völlig überfüllte Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Ägäisinsel Lesbos, in dem Flüchtende unter entsetzlichen Bedingungen monatelang festgehalten wurden, war 2020 abgebrannt und ist ein Sinnbild für die menschenverachtende Flüchtlingspolitik der Europäischen Union.

In Zukunft wird es viele Morias an den EU-Außengrenzen geben. Die neue Asylverfahrensverordnung schreibt den EU-Mitgliedsstaaten vor, dass die Asylprüfung bereits an den Außengrenzen zu erfolgen hat.

Dabei wird sofort ausgesiebt: Nur Flüchtende aus Staaten, deren Anerkennungsquote in der gesamten EU mindestens 20 Prozent beträgt, erhalten die Chance auf ein reguläres Asylverfahren. Für alle anderen wird es Schnellverfahren geben, die in zwölf Wochen erledigt sein sollen. Während dieser Zeit werden die Flüchtenden in Haftlagern interniert. Selbst Familien mit Kindern bleiben von der Internierung nicht verschont, nur unbegleitete minderjährige Schutzsuchende sind hier ausgenommen.

Die Flüchtlingsorganisation ProAsyl weist zurecht darauf hin, dass damit die Haftdauer von Flüchtenden an der Außengrenze massiv ausgeweitet wird und mit Rechtsbehelf bis zu vier Monate betragen wird. Zudem wird es kein faires Asylverfahren geben. Da die Flüchtenden in den Haftlagern an den Außengrenzen rechtlich als „nicht eingereist“ gelten, greifen bislang geltende Standards nicht. Zudem wird der Zugang für Flüchtlingshelfer und Rechtsanwälte in den Haftlagern stark eingeschränkt sein.

Die EU will mindestens 30.000 Internierungsplätze an den Außengrenzen einrichten, so dass bei einer viermonatigen Verfahrensdauer bis zu 120.000 Flüchtende pro Jahr im Schnellverfahren abgewiesen werden dürften. Diesen Menschen droht dann noch eine bis zu 18 Monate dauernde Abschiebehaft, so dass sie bis zu zwei Jahre interniert sein könnten, nur weil sie aus Verzweiflung vor Kriegen, Elend und Not geflohen sind.

Zu den Herkunftsländern mit einer Anerkennungsquote unter 20 Prozent zählen bereits jetzt Russland, Pakistan, Ägypten, Nigeria, Bangladesch und andere Länder. Und selbst Flüchtende aus Syrien und Afghanistan sind von Schnellverfahren bedroht. Etwa wenn sie ohne gültigen Reisepass ankommen und ihnen vorgeworfen wird, diesen absichtlich weggeworfen zu haben.

Andererseits haben sich die Mittelmeerstaaten Griechenland, Italien und Spanien in die Verordnung schreiben lassen, dass Flüchtende, die über so genannte sichere Drittstaaten eingereist sind, ebenfalls in das Schnellverfahren überführt werden. Im Falle Griechenlands betrifft dies alle Flüchtenden, da die griechische Regierung die Türkei als sicheren Drittstaat bezeichnet.

Da die Abschiebung von abgewiesenen Flüchtenden den europäischen Regierungen nicht effektiv genug erscheint, werden hier die Schutzstandards ebenfalls massiv gesenkt. Nach dem Willen der EU-Innenminister sollen zeitnah Übernahmeabkommen mit Drittstaaten geschlossen werden, die sich dazu verpflichten, in der EU nicht willkommene Flüchtende aufzunehmen.

Dafür wird die Definition der „sicheren Drittstaaten“ enorm gedehnt. Zukünftig soll es auch ausreichen, wenn nur Teilgebiete eines Staates als sicher bezeichnet werden. Sie soll auch Staaten umfassen, die die Genfer Flüchtlingskonvention nicht ratifiziert haben.

Die einzige Voraussetzung für die Abschiebung in diese Drittstaaten besteht darin, dass die Flüchtenden eine „Verbindung“ zu diesem Staat haben müssen. Perfide daran ist, dass jeder Mitgliedsstaat, der das Asylverfahren durchführt, selbst darüber entscheiden kann, welche „Verbindung“ als ausreichend gilt. So kann selbst eine Durchreise auf der Fluchtroute als „Verbindung“ definiert werden. Damit ist willkürlichen Deportationen von Griechenland in die Türkei, von Spanien nach Marokko oder von Italien nach Tunesien Tür und Tor geöffnet.

Auch die Verordnung zum Asyl- und Migrationsmanagement hat es in sich. Sie geht zu Lasten der Flüchtenden. Die getroffene Vereinbarung soll das bislang geltende Dublin-Abkommen ersetzen, das in der Praxis gescheitert ist, und es massiv verschärfen.

Nach dem Dublin-Abkommen sind die Mitgliedsstaaten, in denen die Ersteinreise erfolgt ist, für das Asylverfahren und die Aufnahme von Flüchtenden zuständig. Die Rückführung in Ersteinreiseländer ist aber regelmäßig daran gescheitert, dass diese die Rücknahme verweigerten oder Gerichte Rückführungen untersagten, da den Asylsuchenden in Ländern wie Griechenland und Bulgarien menschenunwürdige Lebensbedingungen drohten. Auch unbegleitete Minderjährige sind beim Dublin-Verfahren ausgenommen.

Daher wird es jetzt eine verpflichtende Rücknahme geben, die Rückführung wird auch auf Minderjährige ausgeweitet und der Rechtsschutz – also die Möglichkeit, vor Gericht die Abschiebung erneut zu überprüfen – wird drastisch eingeschränkt. Damit wird auch der Druck auf die EU-Grenzstaaten massiv steigen, Flüchtende mit allen Mitteln so schnell wie möglich loszuwerden.

Der neu eingeführte Solidaritätsmechanismus lässt den EU-Mitgliedsstaaten die Möglichkeit offen, sich von der Aufnahme von Flüchtenden freizukaufen. Die Innenminister haben dabei den Preis pro Flüchtenden zynisch auf 20.000 Euro festgesetzt. Diese Summe kann mit Maßnahmen der Grenzsicherung verrechnet werden. Polnische oder deutsche Grenzpolizisten, die für die EU-Flüchtlingsagentur Frontex in Bulgarien eingesetzt werden, können hier ebenso geltend gemacht werden, wie finanzielle Hilfen bei der Errichtung von Mauern und Zäunen und Zahlungen an Drittstaaten, die die EU bei der Flüchtlingsabwehr unterstützen.

Flüchtende, die über den Solidaritätsmechanismus verteilt werden sollen, können außerdem mit Menschen verrechnet werden, die in das Ersteinreiseland zurückgeführt werden sollen. Die deutsche Regierung kann so, statt Flüchtende aus Griechenland zu übernehmen, auf eine gleiche Anzahl Rücküberstellungen in das Land verzichten.

Die Luxemburger Innenministerkonferenz fasste ihre Beschlüsse mit einer qualifizierten Mehrheit. Opposition gab es nur von rechts. Polen und Ungarn stimmten dagegen, Malta, die Slowakei, Bulgarien und Tschechien enthielten sich. Der polnische Innenminister Bartosz Grodecki erklärte, dass sich sein Land nicht „an absurde Regelungen“ halten werde. Auch die tschechische Regierung machte nach dem Treffen deutlich, dass sie sich nicht an dem ausgehandelten Solidaritätsmechanismus beteiligen wolle.

Trotzdem erklärte die EU-Kommissarin für Migration und Asyl, Ylva Johannson, die Einigung zu einem „historischen Ereignis“. Tatsächlich ist sie nur in dem Sinne historisch, als sich die Europäische Union von der Genfer Flüchtlingskonvention verabschiedet und das Elend der Flüchtenden an den EU-Außengrenzen und auf den Fluchtrouten deutlich vergrößert.

Künftig wird es viele Morias geben, mit dem Unterschied, dass die Flüchtenden in den Elendslagern zwangsweise interniert und auch Kinder nicht verschont werden. Welche Bedingungen in den Lagern herrschen werden, lässt sich bereits jetzt in den so genannten „Closed Controlled Access Centres“ auf den griechischen Ägäisinseln begutachten. Mit EU-Geldern hat die griechische Regierung dort Hochsicherheitsgefängnisse für Flüchtende errichtet, ohne Zugang zu angemessener medizinischer Versorgung oder rechtlicher Beratung. Die Versorgung mit Lebensmitteln ist oftmals völlig unzureichend.

Die stellvertretende Vorsitzende von Ärzte ohne Grenzen in Deutschland, Parnian Parvanta, erklärte, die Entscheidung der EU-Innenminister werde „katastrophale Folgen für schutzbedürftige Menschen haben. Gefängnisartige Camps wie auf den griechischen Inseln werden zum Standard auf europäischem Boden.“

Es wird auch vermehrt zu brutalen Pushbacks, also der gewaltsamen Zurückweisung von Flüchtenden ohne Asylanhörung, kommen. Um den Schnellverfahren in den Internierungslagern zu entgehen, werden Flüchtende risikoreichere und teurere Fluchtwege in Kauf nehmen.

Giorgia Meloni und Ursula von der Leyen mit Präsident Kaïs Saïed (hinter Meloni) in Tunis [Photo by governo-it / CC BY-NC-SA 3.0]

Die Tinte unter den Beschlüssen der Innenminister war noch nicht trocken, da setzte sie Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen bereits in die Tat um. Gemeinsam mit der neofaschistischen italienischen Regierungschefin Giorgia Meloni und dem niederländischen Premier Mark Rutte reiste sie am Sonntag nach Tunesien, um Präsident Kaïs Saïed ihre Aufwartung zu machen.

Vor kurzem hatte das EU-Parlament Saïed noch wegen seines autoritären Regierungsstils gerügt. Er regiert seit seinem Putsch im Juli 2021 mit Präsidialen Dekreten, mehr als 20 Politiker und Journalisten sitzen in Haft. Nun bot ihm die Delegation über eine Milliarde Euro an, damit er Flüchtlinge an der Ausreise hindert und, falls sie es trotzdem schaffen, zurücknimmt und einsperrt.

Brüssel will ihm 100 Millionen Euro für die Abriegelung der Grenzen und die Rückführung von Migranten überweisen. 150 Millionen sollen als Budgethilfe und weitere 900 Millionen Euro als makroökonomische Finanzspritze nach Tunis fließen. Italien will noch einmal 700 Millionen drauflegen, falls sich Tunesien mit dem IWF auf ein Abkommen einigt.

Saïed, der im Februar mit einer rassistischen Hetzrede gewaltsame Ausschreitungen gegen Flüchtlinge provoziert und die Fluchtwelle angeheizt hatte – in diesem Jahr wurden in Italien bereits 53.800 aus Tunesien kommende Migranten registriert –, wird nun dafür bezahlt, dass er Menschen zurücknimmt und inhaftiert, die vor seiner Diktatur und seinem Rassismus geflohen sind.

Aus Tunesien reisten von der Leyen, Meloni und Rutte weiter ins Bürgerkriegsland Libyen, um ein ähnliches Abkommen mit Premier Abdul Hamid Dbeibah zu vereinbaren, dem Stimmenkauf und Geldwäsche vorgeworfen werden und der nur einen Teil des Landes kontrolliert.

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