Die Ukraine setzt die von den USA gelieferten ATACMS-Raketen ein, um Russland zu bombardieren, und die europäischen Regierungsvertreter geben dieser Politik ihre uneingeschränkte Unterstützung. Die Bedeutung dieser atemberaubend skrupellosen Entscheidung ist unmissverständlich. Der Kreml hatte zuvor gewarnt, dass der Einsatz von US-Raketen, die von US-Streitkräften in der Ukraine auf der Grundlage von US-Zieldaten abgefeuert wurden, einen direkten Krieg zwischen der Nato und Russland bedeuten würde. In Wirklichkeit ist es die Nato, die einen totalen Krieg zwischen den großen Atommächten riskiert.
Die europäischen Regierungen setzen diesen Kurs unter eklatanter Missachtung des Willens ihrer Bevölkerungen durch. Nachdem der französische Präsident Emmanuel Macron gefordert hatte, in diesem Winter Nato-Truppen zum Kampf gegen Russland in die Ukraine zu schicken, ergab eine Umfrage der Eurasia Group, dass 90 Prozent der westeuropäischen Bevölkerung diesen Kurs ablehnen, der auch von anderen europäischen Regierungschefs kritisiert wurde. Nun aber setzen sie eine Eskalation des Konflikts mit Russland in Gang, die zum Atomkrieg führen könnte.
Am Dienstag hat Präsident Wladimir Putin eine schärfere russische Nukleardoktrin erlassen als die, die er Anfang Herbst angekündigt hatte. Er hatte damit auf die Drohungen der USA und Großbritanniens reagiert, die Ukraine mit Langstreckenraketen für Angriffe auf Russland zu bewaffnen. In der Doktrin heißt es: „Aggression gegen die Russische Föderation und/oder ihre Verbündeten durch einen nicht atomar bewaffneten Staat mit Unterstützung oder Beteiligung eines atomar bewaffneten Staates wird als gemeinsamer Angriff erachtet.“ Das bedeutet, wenn die Ukraine Nato-Raketen auf Russland abfeuert, sind die Nato-Staaten legitime Ziele für russische Gegenangriffe, auch mit Atomwaffen.
Mit extremer Skrupellosigkeit signalisieren die europäischen Regierungen, dass sie bereit sind, einen Atomkrieg zu riskieren, um ihre Intervention in der Ukraine zu eskalieren.
Bundesaußenministerin Annalena Baerbock sprach sich am Montag bei einem Treffen der EU-Außenminister für den Einsatz von US-Raketen zur Bombardierung Russlands aus. Sie erklärte, Berlin unterstütze die „Entscheidung der amerikanischen Seite“ und betonte, dass sei „kein Umdenken ... sondern eine Intensivierung dessen, was bereits auch von anderen Partnern geliefert worden ist“.
Der französische Außenminister Jean-Noël Barrot erklärte während des Gipfels in Brüssel auf die Frage nach dem Einsatz von Nato-Raketen für Angriffe auf Russland, Frankreich unterstütze dies bereits: „Nun, Sie haben Präsident Macron am 25. Mai in Meseberg gehört. Wir haben offen erklärt, dies sei eine Option, die wir in Betracht ziehen würden, wenn es darum ginge, Angriffe auf Ziele in den Bereichen zu ermöglichen, von denen die Russen derzeit ukrainisches Staatsgebiet angreifen. Das ist also nichts Neues.“
Baerbock bekräftigte diese Position am Dienstag, nachdem Russland bestätigt hatte, dass Kiew und Washington ATACMS-Raketen zur Bombardierung Russlands eingesetzt haben. Beim Treffen der EU-Außenminister in Warschau wies sie die russischen Drohungen mit einer massiven Reaktion zurück, die auch den Einsatz von Atomwaffen beinhalten könnte. Die Frage, wie die Bundesregierung die Änderung der russischen Nukleardoktrin einschätze, tat sie dies mit der Bemerkung ab: „Wir lassen uns nicht einschüchtern, egal, was immer wieder Neues herumposaunt wird.“
Mitten im Bundestagswahlkampf haben Vertreter der Regierungs- und der offiziellen Oppositionsparteien ähnliche Positionen bezogen. Die Vorsitzende des Verteidigungsausschusses im Europäischen Parlament, Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), kommentierte auf X: „Lieber spät als nie. Es ist sehr gut, dass zum Ende seiner Amtszeit Joe Biden nun diese wichtige Entscheidung trifft.“
Norbert Röttgen, ein führender CDU-Außenpolitiker, schrieb ebenfalls auf X: „Die USA tun, was moralisch und politisch richtig ist. Ein überfälliger Schritt, der der Ukraine endlich ermöglicht, sich gegen russische Waffen zu wehren, bevor sie Zivilisten in der Ukraine töten.“ Die „Fähigkeit der Ukraine sich selbst zu verteidigen, zu stärken“ sei „völkerrechtlich erlaubt und moralisch wie politisch geboten. Es ist die einzige Sprache, die Putin versteht.“
Niemand stellt die notwendigen Fragen, um die enormen Konsequenzen aus dieser Politik zu erklären. Wenn das russische Militär auf Nato-Angriffe auf seinen Boden mit der Bombardierung europäischer Militärbasen oder europäischer Städte reagiert, was wollen die europäischen Mächte dann tun? Glauben sie, sie könnten einen umfassenden Krieg gegen Russland führen, ohne einen Atomkrieg auszulösen? Wie viele Millionen Menschenleben sind die europäischen Mächte bereit, ihren Kriegszielen zu opfern?
Beim G20-Gipfel in Rio de Janeiro am Dienstag reagierte Macron auf die Bombenangriffe auf Russland, indem er den Kreml für die Änderung seiner Nukleardoktrin verurteilte: „Ich möchte Russland wirklich auffordern, sich verantwortungsbewusst zu verhalten. Als ständiges Mitglied des UN-Sicherheitsrats hat es Verantwortlichkeiten.“ Er beklagte, Moskau nehme eine „eskalierende“ Haltung ein. Er fügte hinzu: „Heute ist Russland dabei, eine global destabilisierende Macht zu werden.“
Der britische Premierminister Sir Keir Starmer äußerte sich ähnlich. Er tat Putins Änderung der russischen Nukleardoktrin als „verantwortungslose Rhetorik“ ab, und versprach, dass dies „uns nicht von unserer Unterstützung für die Ukraine abbringen wird“.
Seit dem ersten Golfkrieg 1990–1991 führen die Vereinigten Staaten ununterbrochen Krieg. Gestützt auf ein marxistisches Verständnis der Widersprüche des US- und des Weltimperialismus analysiert David North die Militärinterventionen und geopolitischen Krisen der letzten 30 Jahre.
Russlands Drohungen als „verantwortungslose Rhetorik“ abzutun, bedeutet Russisch Roulette zu spielen, allerdings mit Atomwaffen. Vertreter der Nato haben erklärt, sie wollten Russland eine umfassende strategische Niederlage zufügen, den russischen Staat zerstören und das Land aufteilen. Zweifellos steht Putin unter großem Druck, auf die eskalierenden Angriffe auf Russland zu reagieren. Wenn der Kreml bisher beschlossen hat, nicht massiv auf die früheren Provokationen der Nato zu reagieren, so bedeutet dies nicht, dass er das auch in Zukunft vermeiden kann.
Tatsächlich sind es die Nato-Mächte, die sich völlig skrupellos verhalten, Russland bombardieren und erklären, sie würden sich nicht einmal von der Gefahr eines atomaren Armageddon abschrecken lassen. Ihre Argumente sind von schreienden Widersprüchen durchsetzt. Einerseits behaupten sie, die Ukraine und Europa müssten Krieg führen, um die Demokratie vor der gnadenlosen, Hitler-artigen Bedrohung durch Putin zu schützen. Andererseits unterstellen sie, Putin sei so „verantwortungsbewusst“, dass er ihnen geduldig erlauben wird, Russland zu bombardieren.
Das ist die Art und Weise, wie die Zeit über die Ukraine-Krise berichtet. Sie räumt ein: „Streng genommen könnte Russland gemäß der eigenen Doktrin bereits jetzt einen Atomkrieg beginnen.“ Sie fügt hinzu: „Tatsächlich haben solche Dokumente jedoch kaum einen Wert. Sie sind mehr eine Drohung, eine aggressive Kommunikation nach außen, als eine tatsächliche Richtlinie für den internen Gebrauch.“
Die Zeit weiß, dass sie lügt, wenn sie Russlands Nukleardoktrin als hohles Gerede abtut, also widerspricht sie sich selbst: „Das Problem jedoch ist, dass die russischen Drohungen, sei es nun in Gestalt einer Doktrin, durch Übungen seiner Atomstreitkräfte oder durch demonstrative und für Geheimdienste sichtbare Planspiele, nicht folgenlos bleiben können. [...] Experten können sich noch so einig darin sein, dass Wladimir Putin seine Massenvernichtungswaffen nicht einsetzen wird – die Regierungen in westlichen Staaten können das Risiko nicht ignorieren. Auch dann nicht, wenn sie überzeugt sind, dass Putin blufft. Zumindest solange die technische Möglichkeit für einen russischen Atomschlag bestehen bleibt.“
In Wirklichkeit ignorieren die Nato-Mächte faktisch die Gefahr eines atomaren Holocausts, um Russland eine „strategische Niederlage“ beizubringen. Die Verfolgung dieses Ziels hat eine unerbittliche militärische Logik. Da ihre ukrainischen Stellvertretertruppen am Rande einer Niederlage stehen und angesichts der Befürchtungen, dass der künftige US-Präsident Donald Trump die US-Militärhilfe für Kiew kürzen könnte, planen die europäischen Mächte eine noch stärkere und direktere Intervention in ihrem Krieg gegen Russland.
In der Bevölkerung herrscht tief verwurzelter Widerstand gegen die Kriegspläne des europäischen Imperialismus, doch die Arbeiterklasse muss auf die Gefahr aufmerksam gemacht und dagegen mobilisiert werden. Arbeiter dürfen keine Illusionen haben. Die herrschende Klasse plant die Militarisierung Europas, die weitreichende Folgen haben wird: die Wiedereinführung der Wehrpflicht, die Stationierung von Kampftruppen in der Ukraine, eine massive Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf Kosten der Löhne und lebenswichtiger Sozialprogramme und die Errichtung faschistischer Polizeistaatsregime, um den Widerstand der Arbeiterklasse zu unterdrücken.