75. Berlinale - Teil 7

„Erinnerung heißt Handeln“ – Publikumspreis für „Die Möllner Briefe“ und der Dokumentarfilm „Das falsche Wort“

Wie bereits der Film „Das deutsche Volk“ stießen die thematisch ähnlichen Dokumentarfilme „Das falsche Wort“ (Katrin Seybold, Melanie Spitta) und „Die Möllner Briefe“ (Regie/Buch: Martina Priessner) auf großes Interesse beim Berlinale-Publikum. Letzterer Film gewann den Panorama-Publikumspreis.

Die Möllner Briefe

Im November 1992 zerstörten Brandanschläge durch Neonazis in der schleswig-holsteinischen Kleinstadt Mölln das Leben von İbrahim Arslans Familie. Der 7-jährige Junge überlebte das Feuer, verlor aber seine Schwester, seine Cousine und seine Großmutter. Anders als die rassistischen Ausschreitungen im selben Jahr im ostdeutschen Rostock-Lichtenhagen richteten sich diese Anschläge nicht gegen Flüchtlinge, sondern gezielt gegen deutsch-türkische Familien, die lange in Deutschland lebten.

Die Möllner Briefe erreichen nach fast 30 Jahren ihr Ziel [Photo by © inselfilm produktion]

Dieses Ereignis löste damals weltweites Entsetzen aus und führte im ganzen Bundesgebiet zu Massendemonstrationen und Lichterketten gegen Rechtsradikalismus.

27 Jahre später, 2019, erfuhr Ibrahim Arslan zufällig, dass es unzählige an die Familien gerichtete Briefe der Solidarität aus dem ganzen Bundesgebiet gab, die ihnen Trost und Mut zusprachen, die Stadtverwaltung ihnen jedoch vorenthalten hatte. Sie blieben im Ordnungs- und Sozialamt und dann im Stadtarchiv liegen. Der verantwortliche Bürgermeister damals war der Rechtsanwalt Joachim H. Dörfler (CDU).

In ihrem Rückblick auf die Ereignisse in Mölln arbeitet die Regisseurin den Kontrast zwischen der offiziellen Haltung und der der Opfer und ihrer Unterstützer heraus. Der Film begleitet İbrahim und seine Geschwister und zeichnet ein sensibles Porträt des anhaltenden Traumas, das ihr Leben bis heute prägt.

Ibrahim, leidet unter Flashbacks. Seitdem er in die Öffentlichkeit gegangen ist und auf Schulveranstaltungen spricht, sind die Symptome zurückgegangen. Auch sein Bruder Namik, der als Säugling aus dem brennenden Haus gerettet wurde, hat mit Angstattacken zu kämpfen, ist in psychotherapeutischer Behandlung.

Regisseurin Martina Priessner, die Ibrahim Arslan 2020 traf und erstmals von den Solidaritätsbriefen erfuhr, sagt in ihrem Director’s Statement zur Berlinale, dieses Gespräch habe bei ihr „einen bleibenden Eindruck“ hinterlassen. „Wie konnte es sein, dass diese so wichtigen solidarischen Botschaften nie bei den Opfern des rassistischen Anschlags ankamen? Und was sagt das eigentlich über den Umgang dieser Gesellschaft mit Opfern von rechtem Terror aus?“

Sie half den Angehörigen der Opfer, Zugang zu den Briefen zu erhalten und Kontakte zu den Briefeschreibern herzustellen. So kommt es im Film zu einer herzlichen Begegnung zwischen Ibrahim und Sonja, die 1992 als 12jährige einen Brief und einen Glücksstein geschickt hatte.

„Erinnern heißt Handeln“ heißt es beim jährlichen offiziellen Gedenken der Stadt an die Anschläge. Aber diese sind spürbar nur auf passive Betroffenheit ausgerichtet. Sie hätten sich mit der Zeit wie Statisten gefühlt, so Ibrahim, und organisieren seit längerem ihrer eigene jährliche Gedenkveranstaltung.

Der ehemalige CDU-Bürgermeister Dörfler weigert sich mit Ibrahim zu sprechen. Auch der spätere Bürgermeister Jan Wiegels von der SPD schweigt zu dem damaligen Verhalten, das mit demokratischen Grundsätzen unvereinbar ist. Die Stadtverwaltung hatte damals die Briefe nicht nur einfach beschlagnahmt und archiviert, sondern sie teilweise geöffnet und beantwortet.

Ibrahim liest als Beispiel die amtliche Antwort auf einen Brief vor, der angeblich an die Angehörigen weitergeleitet worden sei, „die hieraus hoffentlich Trost schöpfen.” Allerdings kam er wie auch die anderen Briefe nicht bei diesen an. Die Angehörigen erinnern sich, dass der Bürgermeister sie allein gelassen hatte, sie nicht persönlich aufsuchte. Sie selbst hätten sich um die durch den Brand obdachlos gewordenen Menschen kümmern müssen.

Der amtliche Hinweis, die Familien hätten die Briefe jederzeit abholen können, macht Ibrahim besonders wütend. Wie hätten sie etwas abholen können, von dessen Existenz sie keine Ahnung gehabt hatten. Der Film begleitet die Familien ins Archiv, um die Briefe in Empfang zu nehmen, die sie jetzt ins “Dokumentationszenrum und Museum über die Migration in Deutschland” (DOMiD) Köln überführen wollen. In das Möllner Archiv ist das Vertrauen zerstört. Auch der Archivar ist noch derselbe wie 1992.

Während einer Autofahrt macht Ibrahim seiner Frustration über ständige Verzögerungen bei der Übergabe Luft. Es sei die „institutionelle Herangehensweise“, ein „weißdeutscher Mensch“, der nicht vom “Alltagsrassismus” betroffen sei, könne sich nie in sie hineinversetzen. An anderer Stelle erinnert er daran, dass die Polizei 1992 (sie hatte die Arslans offenbar schon vorher als sogenannte Problemfamilie abgestempelt) zunächst gegen die Betroffenen ermittelte, statt die rechten Täter zu suchen. Am Ende des Films berichtet er von seinen Bemühungen, Migranten mit unterschiedlichem Hintergrund gegen den Rassismus zu organisieren, der für sie scheinbar ein deutsches Gesicht hat.

Hier passt sich der Film an identitätspolitische Vorstellungen an, die den Rassismus nicht als Politik einer herrschenden Klasse sieht, die in der einen oder anderen Form versucht, die Arbeiter gegeneinander auszuspielen und zu spalten, sondern als Eigenschaft von “weißen Politikern” oder einer “weißen Dominanzgesellschaft”.

Ambivalente Filmbilder von schnellen Verwaltungshänden, beschriftend, vermessend, akribisch, scheinen dies auch anzudeuten. Sie verwandeln einen kleinen Koran mit Brandspuren, der einem im Haus getöteten Mädchen gehörte, in ein unpersönliches Objekt, das man mit Handschuhen anfasst. Typisch deutsche Bürokratie?

Das Bild vom hohen Kartonstapel im Archiv weist allerdings in eine andere Richtung, und auch Ibrahim ist ein Mensch, der im Alltag offen auf alle Menschen zugeht. Er ist wie die anderen Betroffenen tief berührt über das Ausmaß der Anteilnahme von 1992.

Immer wieder blendet der Film Briefe ein, geschrieben von Kindern, Erwachsenen, Jugendlichen, Schulklassen, oft liebevoll bemalt, aus ganz Deutschland und anderen Ländern. Ein Brief, der den Familien Trost und Kraft spenden will, kommt aus den USA.

Der Panorama-Publikumspreis für „Die Möllner Briefe“ ist Ausdruck der großen Opposition in der Bevölkerung gegen rechtsradikalen Terror, einer weit verbreiteten Solidarität mit Migranten und der zunehmenden Empörung über die staatlichen Vertreter, die in Sonntagsreden das 'wir', beschwören, das sie in Wirklichkeit fürchten und sabotieren.

Die deutsche Bürokratie hat ihre spezielle Geschichte. Seit ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert unter Bismarck war sie ein Hauptinstrument des deutschen Kapitalismus, um jede demokratische Regung von unten, aus der Bevölkerung, zu unterdrücken. Das änderte sich auch nach 1945 nicht. An erster Stelle stand „Ruhe und Ordnung“ und nicht die Demokratie.

Das falsche Wort

Der Dokumentarfilm entstand 1987 in Zusammenarbeit von Katrin Seybold und Melanie Spitta. Der selten gezeigte Film wurde vor kurzem digital restauriert und im Forum Special der Berlinale gezeigt. Er wird hoffentlich bald größere Verbreitung finden.

Das falsche Wort [Photo by © Filmmuseum München]

Das „falsche Wort“ gilt dem zynischen Wort „Wiedergutmachung“, mit dem die westdeutschen Behörden nach dem Krieg einen Teil der überlebenden KZ-Opfer mit staatlichen Almosen bedachten. Als sie nach dem Krieg in die Gesellschaft zurückkehrten, um die erlebten Verbrechen öffentlich zu machen, befürchtete der Staat die Solidarität in der Bevölkerung. Er machte die Opfer weitgehend mundtot und schürte politisch und sozial rückständige Stimmungen.

Sinti und Roma wollte der Staat für die an ihnen begangenen Verbrechen - Zwangsarbeit, Sterilisation und Vernichtung - von vornherein nicht entschädigen und verlangte Nachweise, dass sie überhaupt Deutsche waren. Unter den Nazis war ihnen, obwohl sie seit Jahrhunderten in Deutschland leben, die deutsche Staatsbürgerschaft entzogen worden.

Nach dem Krieg händigten die Behörden den ‚Staatenlosen‘ die Pässe nicht wieder aus. Als es doch zu Entschädigungsanträgen kam, waren die Gutachter oft ehemalige Nazis, die unmögliche Nachweise der Verfolgung, des KZ-Aufenthalts usw. verlangten. Die amtlichen Dokumente darüber lagen bei ihnen selbst und wurden unter Verschluss gehalten.

Der Film schildert den Fall einer an Tuberkulose erkrankten Frau, die nachweisen sollte, dass ihre Krankheit eine Folge der Lagerhaft war und nicht einer Ansteckung durch eine Verwandte. Das von den Behörden verheimlichte Nazi-Formular, das der Film zeigt, belegt, dass auch die Tbc-Erkrankung der Verwandten eine Folge des KZs war.

Besonders heimtückisch war die Behauptung, Sinti und Roma seien nicht rassistisch verfolgt worden bzw. erst ab 1943, dem Jahr des Auschwitz-Erlasses. Bis dahin wären sie einfach Kriminelle, Asoziale und Arbeitsscheue gewesen und zu Recht eingesperrt worden.

Der Film widerlegt das gründlich. Bereits früher hatten Nazi-Rasseforscher ihnen einen rassebedingten „Wandertrieb“ und Hang zur Kriminalität unterstellt, der sie für gesellschaftliche Integration, für normale Schulbildung, Ausbildung, disziplinierte Arbeit, angeblich unfähig mache.

Betroffene berichten im Film, wie Sinti und Roma in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre systematisch isoliert und kriminalisiert wurden. Denen, die ein Wandergewerbe hatten, wurde es entzogen. Allen wurde verboten, ihre Wohnorte zu verlassen. Dann mussten sie die Wohnungen verlassen und wurden in polizeibewachte ghettoartige Lager gesperrt, wo sie als Zwangsarbeiter und Objekte der NS-Rassenforschung zur Verfügung stehen mussten.

Eine, die von der staatlichen Zwangsarbeit profitierte, war die Nazi-Propagandafilmerin Leni Riefenstahl, die Sinti und Roma als Statisten für ihren Film „Tiefland“ ausbeutete. Eine bekannte „Forscherin“ war Eva Justin, die nach dem Krieg als Psychologin in einem Gesundheitsamt weiterarbeiten konnte.

Der Zuschauer erfährt vom Interesse der Rassenforscher an „Mischlingen“, zu denen sie 90 Prozent der deutschen Sinti und Roma zählten und akribisch in Kategorien teilten. Ein sogenannter Mischling konnte in normalen bürgerlichen Verhältnissen leben. Nach Auffassung der Rassenforschung tarnte er so seine wahre asoziale Natur.

Es wird über Sinti berichtet, die ohne jede kriminelle Vorgeschichte als arbeitsscheue Kriminelle in ein KZ eingeliefert wurden und dort umkamen. Schon die geringste Unzufriedenheit des Arbeitgebers bei schwerster Zwangsarbeit, etwa beim Kanalbau, konnte KZ-Einweisung bedeuten.

Auch wenn der Film nicht speziell darauf eingeht, liegt auf der Hand, dass dieser Rassismus genauso als Druckmittel gegen Nicht-Sintis eingesetzt werden konnte.

Opferbereitschaft galt als herausragendes Merkmal deutscher Rassereinheit – auch am Arbeitsplatz: bereitwillige Unterordnung unter Arbeitshetze, niedrige Löhne und Überstunden. Diese deutsche „Volksgemeinschaft“ musste gewaltsam durchgesetzt werden.

Dieser wichtige soziale und politische Aspekt von Rassismus ist lange unter dem Einfluss von Identitätspolitik zugunsten ethnischer Aspekte in den Hintergrund gedrängt worden.

In der Zeit des sogenannten Wirtschaftswunders der 50er Jahren setzte sich die rassistische Verfolgung von Sinti und Roma nahtlos fort. Der Film zitiert das Dokument des Bundesgerichtshofs von 1956, das sie mit „primitiven Urmenschen“ vergleicht.

Ein Beispiel dieses Rassismus gibt im Film die abgelehnte Entschädigungsforderung eines Sinto, der seine Ausbildung wegen des KZs abbrechen musste. Die Begründung lautete, er hätte diese nur angefangen, weil er die Stadt nicht verlassen durfte. Sonst hätte er gemäß seiner Zigeunernatur gelebt und hätte die Ausbildung gar nicht erst angefangen.

Bis heute würde sich die Kriminalpolizei auf die „Zigeunerakten“ der Kriminalpolizei des Dritten Reichs stützen, hätte dem die Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma Anfang der 80er Jahre nicht durch eine intensive öffentliche Kampagne ein Ende bereitet, die internationales Aufsehen erregte.

Sehr bewegend sind neben Archivfotos, alten Filmaufnahmen und Interviews mit KZ-Überlebenden, die nicht selten ihre ganze Familie verloren hatten, und die unzähligen privaten Fotos, die Sinti-Familien bereit waren, für den Film zur Verfügung zu stellen.

Zum ersten Mal kamen sie selbst in einem Film über die Naziverbrechen an ihren Familien und über die Fortsetzung der Verfolgung nach dem Krieg zu Wort. Die Stimme, die durch den Film führt, gehört Mitautorin Melanie Spitta (1946-2005), ein Kind überlebender Sinti.

Es war nicht Hitlers fanatische SS, hebt der Film hervor, es waren deutsche zivile Einrichtungen - Polizei, Krankenhäuser, Wohlfahrtsämter, Gesundheitsämter (letztere überwachten die Sterilisation) und andere staatliche Behörden -, die die Verbrechen organisierten. Ein Teil der Wissenschaft war zutiefst verstrickt in die Vernichtung. Nicht wenige Sinti, erfährt das Kinopublikum, weigerten sich nach den traumatischen Erfahrungen, je wieder im Leben einen Arzt aufzusuchen.

Keiner der Verantwortlichen wurde bestraft. „Glaubhaft waren diejenigen, die uns nach Auschwitz gebracht haben“, ist das bittere Fazit von Melanie Spitta im Film.

Als Gutachter in Wiedergutmachungsprozessen trat Leo Karsten auf, ehemaliger Leiter der polizeilichen „Dienststelle für Zigeunerfragen” in Berlin, der nach dem Krieg als Kriminalrat arbeitete. Ein gefragter „Fachmann“ war der Rassenforscher Robert Ritter, der als Arzt im Gesundheitsamt Frankfurt/Main unterkam. Selbst ein „Vater der Wiedergutmachung“ wie Otto Küster, vermerkt der Film, sei davon überzeugt gewesen, dass Sinti und Roma vor 1943 nicht rassisch verfolgt wurden. Die Gegenbeweise in den Ämtern wurden sorgfältig geheim gehalten.

Der Film deutet an, dass die fortgesetzte Diskriminierung in den angeblich tief verwurzelten rassistischen Vorurteilen des ganzen deutschen Volkes liege.

In Wirklichkeit ist es jedoch die herrschende Klasse, die solche Vorurteile gegen Sinti und Roma immer wieder geschürt hat, um ein Klima rückständiger Verdächtigungen und Denunziation zu schaffen und die Arbeiter zu spalten.

Das dämonische Bild vom „Zigeuner“ als unsteten Wanderer und arbeitsscheuen Parasiten, der eine Gefahr für die deutsche Gesellschaft darstellt, ist in der Flüchtlingshetze der letzten Jahrzehnte immer wieder belebt worden. Seit dem Aufsteigen der AfD und der anhaltenden Kriminalisierung von Roma-Flüchtlingen aus Osteuropa fürchten viele deutsche Roma und Sinti, dass sich die Geschichte wiederholen könnte.

Der Film ist eine eindringliche Anklage der Bundesrepublik, die nie wirklich mit der Nazivergangenheit abgerechnet hat. Hinzugefügt sei an der Stelle, dass der langjährige Widerstand hochrangiger deutscher Politiker gegen die Errichtung der zentralen Gedenkstätte für die von den Nazis ermordeten europäischen Sinti und Roma Europas, die 2012 in Berlin eingeweiht wurde und jetzt durch ein Projekt der Deutschen Bahn gefährdet ist, auch damit begründet wurde, diese seien wegen krimineller Delikte und nicht aus Rassismus verfolgt worden.