Am Mittwochmorgen nahm die Polizei Ekrem İmamoğlu fest, den Bürgermeister von Istanbul, der größten Stadt der Türkei mit 16 Millionen Einwohnern. İmamoğlus Verhaftung markiert eine neue Etappe auf dem Weg von Präsident Recep Tayyip Erdoğan zur Errichtung einer Präsidialdiktatur.
Die Sosyalist Eşitlik Grubu (Sozialistische Gleichheitsgruppe), die türkische Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, und die World Socialist Web Site fordern die sofortige Freilassung von İmamoğlu und den zahllosen anderen politischen Gefangenen. Diejenigen, die des „Terrorismus“ angeklagt sind, sind in Wirklichkeit inhaftiert, weil sie ihre grundlegenden demokratischen Rechte, einschließlich des Rechts auf freie Meinungsäußerung und politische Betätigung, wahrgenommen haben.
Es ist ein offenes Geheimnis, dass die Erdoğan-Regierung die Justiz als Waffe zur Unterdrückung ihrer politischen Gegner einsetzt. Dass die Methoden, mit denen vor allem kurdische Politiker und Linke verfolgt werden, nun auch gegen die Republikanische Volkspartei (CHP), die größte bürgerliche Oppositionspartei, eingesetzt werden, stellt eine massive Eskalation dar. Die CHP ist die Partei, die die türkische Republik gegründet und nach zwei Jahrzehnten in der Opposition bei den Kommunalwahlen 2024 die AKP von Erdoğan überholt hat. Sie ist mittlerweile zur führenden Partei geworden, mit İmamoglu als einem ihrer wichtigsten Vertreter.
Die mögliche Verhaftung von İmamoğlu war von Erdoğan selbst schon seit einiger Zeit angedeutet worden. Der unmittelbare Anlass waren wachsende Anzeichen in Umfragen, dass İmamoğlu Erdoğan bei den nächsten Wahlen, die für 2028 angesetzt sind, als Präsidentschaftskandidat der CHP besiegen könnte. Um das zu verhindern, wurde İmamoğlu am Dienstag zunächst das Universitätsdiplom entzogen und am Mittwochmorgen wurde er von der Polizei für mindestens vier Tage in Gewahrsam genommen. Dies war ein „präventiver Putsch“ gegen einen zukünftigen Präsidenten, der wahrscheinlich von mehr als 50 Prozent gewählt werden würde.
Die Regierung wusste, dass diese unrechtmäßige Maßnahme Massenproteste auslösen würde, doch der Versuch des Istanbuler Gouvernements, die breite soziale Opposition zu unterdrücken, scheiterte schnell. Ein viertägiges Demonstrationsverbot, das verfassungswidrig war, wurde durch Massenproteste von Arbeitern und Studenten außer Kraft gesetzt. Im ganzen Land gingen Massen auf die Straße, um gegen diesen antidemokratischen Angriff zu protestieren. Am Mittwochabend füllten Zehntausende von Menschen den Platz vor der Stadtverwaltung in Istanbul. Am Donnerstag gingen die Massendemonstrationen in Istanbul und vielen anderen Provinzen weiter, insbesondere an den Universitäten.
Die Verhaftung von İmamoğlu folgt auf umfassende staatliche Repressionen in den letzten Monaten. Ins Visier gerieten gewählte Bürgermeister der CHP und der kurdisch-nationalistischen Partei für Gleichheit und Demokratie der Völker (DEM), die bei den Kommunalwahlen 2024 mit der CHP im Bündnis war, sowie Führer verschiedener „linker“ Gruppen, die mit diesen Parteien verbündet sind. Ermittlungen gegen rund 6.000 Personen wurden bekannt. Der Wille von Millionen von Wählern wurde missachtet, als das Innenministerium in vielen Gemeinden Zwangsverwalter ernannte, die gewählte Bürgermeister ersetzen sollten.
Das Bestreben der Erdoğan-Regierung, sich ihrer bürgerlichen Opposition zu entledigen, ist auf zwei Hauptfaktoren zurückzuführen, die die sich vertiefende Krise des globalen kapitalistischen Systems widerspiegeln. Der erste ist die wachsende soziale Ungleichheit und die Klassenspannungen.
Laut dem Bericht der Credit Suisse 2023 ist die Türkei in Europa führend bei der Vermögensungleichheit, wobei das oberste 1 Prozent der Bevölkerung 40 Prozent des Vermögens kontrolliert und die reichsten 10 Prozent 70 Prozent. Laut Daten von Eurostat steht die Türkei, wo 32 Millionen Menschen beschäftigt sind, bei der Einkommensungleichheit in Europa an der Spitze. 43 Prozent der Arbeiter, d. h. etwa 14 Millionen Menschen, erhalten einen Mindestlohn, der nur etwa einem Viertel des Betrags entspricht, der als Armutsgrenze für eine vierköpfige Familie gilt.
Diese Bedingungen, zusammen mit den enorm gestiegenen Lebenshaltungskosten, führen zu anwachsenden Kämpfen der Arbeiter. Die Erdoğan-Regierung reagiert darauf, indem sie Streiks mit der Begründung verbietet, sie seien „schädlich für die nationale Sicherheit“. Mehmet Türkmen, der Vorsitzende der unabhängigen Gewerkschaft BİRTEK-SEN, der wegen eines spontanen Streiks der Textilarbeiter in Gaziantep ins Visier genommen wurde, befindet sich seit Februar im Gefängnis.
Der zweite Faktor sind die eskalierenden imperialistischen Kriege in der Region, in die die türkische Bourgeoisie tief verwickelt ist. Die Folgen des Kriegs für einen Regimewechsel in Syrien, der seit 2011 von den USA und der Nato geführt wird, und des rechtsextremen Putsches in der Ukraine im Jahr 2014, der schließlich zum Krieg mit Russland führte, haben die Entwicklung der Türkei in Richtung Diktatur beschleunigt.
Ankara beteiligte sich enthusiastisch an dem von den USA geführten reaktionären Krieg in Syrien und setzte islamistische Milizen als Stellvertreter ein. Später, als sich kurdische Milizen als wichtigste Stellvertreter des Pentagons entpuppten und die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) bildeten, reagierte Ankara mit einer Stärkung der Beziehungen zu Moskau. Die Spannungen, die dazu führten, dass die Türkei im Westen als „unzuverlässiger Verbündeter“ bezeichnet wurde, gipfelten schließlich 2016 in einem versuchten Militärputsch, der Erdoğan stürzen sollte.
Nachdem er den von der Nato unterstützten Putsch dank massiven Widerstands in der Bevölkerung niedergeschlagen hatte, begann Erdoğan einen harten Gegenangriff, indem er den Ausnahmezustand verhängte, der fast zwei Jahre andauerte. Das Verfassungsreferendum von 2017, dessen Ausgang umstritten war, verlieh Erdoğan weitreichende Befugnisse.
Die Offensive der Regierung Erdoğan gegen die kurdische nationalistische Bewegung sowohl in Syrien als auch innerhalb der Türkei wurde von der CHP unterstützt. Die kurdischen Abgeordneten der Demokratischen Volkspartei (HDP), der Vorgängerin der DEM-Partei, wurden wegen erfundener „Terrorismus“-Anschuldigungen inhaftiert, nachdem ihre Immunität mit Unterstützung der CHP aufgehoben worden war. Mehrere militärische Invasionen in Syrien, die gegen die SDF gerichtet waren, wurden ebenfalls mit Stimmen der CHP ermächtigt. Massenproteste, die wegen Unregelmäßigkeiten beim Referendum 2017 ausbrachen, wurden von der CHP schnell unter Kontrolle gebracht.
Der Übergang der Türkei in eine neue Phase der Präsidialdiktatur ist eng mit der Verschärfung des Kriegs im Nahen Osten und der Orientierung auf autoritäre Herrschaftsformen weltweit verbunden, angetrieben durch die zweite Präsidentschaft von Donald Trump.
Trump hat damit begonnen, vom ersten Tag an als Diktator zu regieren, indem er praktisch deutlich machte, dass er die Verfassung oder Gerichtsentscheidungen nicht anerkennen werde. Als Oberbefehlshaber der zweitgrößten Nato-Armee wird Erdoğan von seinem Verbündeten im Weißen Haus nicht nur für den Aufbau einer Präsidialdiktatur gelobt, die jede Art von Opposition unterdrückt, sondern auch für seine gesetzlose Außenpolitik.
In einer Erklärung von Anfang Januar sagte Trump: „Präsident Erdoğan ist ein Freund von mir. Ich mag ihn und respektiere ihn. Ich denke, er respektiert mich auch.“ Er fügte hinzu: „Wenn man sich ansieht, was mit Syrien passiert ist, wurde Russland geschwächt, der Iran wurde geschwächt, und er ist ein sehr kluger Mann. Und er schickte seine Leute in verschiedenen Formen und unter verschiedenen Namen dorthin, und sie gingen rein und übernahmen die Macht in Damaskus.“
Erdoğan telefonierte nur drei Tage vor der Verhaftung von İmamoğlu mit Trump, es war ihr erstes Gespräch seit November. Berichten zufolge äußerte Erdoğan seine Unterstützung für Trumps Bemühungen um eine Verhandlungslösung im Ukrainekrieg mit Russland. Die beiden Staatsoberhäupter sollen auch über Syrien gesprochen haben, wo al-Qaida nahe Gruppen, die von den Vereinigten Staaten und der Türkei unterstützt werden, im Dezember die Macht übernommen haben.
Es wurden zwar keine Einzelheiten genannt, aber sicherlich wurden der von den USA unterstützte israelische Völkermord im Gazastreifen und die Pläne gegen den Iran und seine Verbündeten, einschließlich der Houthis im Jemen, erörtert. Am Montag erklärte US-Finanzminister Scott Bessent gegenüber seinem türkischen Amtskollegen Mehmet Şimsek, dass die Trump-Regierung entschlossen sei, „den maximalen Druck auf den Iran wiederherzustellen“.
Der Sturz von Präsident Bashar al-Assad in Syrien und die israelische Offensive gegen die Hisbollah im Libanon haben dem iranischen Einfluss in der Region einen schweren Schlag versetzt, während der Völkermord im Gazastreifen weiter eskaliert. Seit letzter Woche hat Washington Luftangriffe auf den Jemen geflogen und bereitet sich damit an der Seite seines zionistischen Kampfhundes auf einen Krieg gegen Teheran vor. Die Haltung der Türkei ist für Washingtons Pläne von entscheidender Bedeutung, da dort zahlreiche US- und Nato-Stützpunkte liegen, darunter eine Radarbasis zur Überwachung Teherans. Zudem teilt die Türkei eine lange Grenze mit dem Iran.
Die jüngste Verschärfung der Spannungen zwischen der Türkei und dem Iran geht mit dem Streben der USA nach einem „neuen Nahen Osten“ unter ihrer vollständigen Kontrolle einher. In einem Interview mit Al Jazeera Ende Februar antwortete der türkische Außenminister Hakan Fidan auf Anschuldigungen, der Iran könnte die kurdischen SDF in Syrien unterstützen, mit den Worten: „Wenn Sie eine Gruppe in einem anderen Land unterstützen, um Unruhe zu stiften, könnte ein anderes Land eine Gruppe in Ihrem Land unterstützen, um Unruhe zu stiften.“ Er bezog sich dabei auf die große türkisch-azerische Bevölkerung im Iran. Auf dieses Interview folgte die gegenseitige Einbestellung von Botschaftern.
Die Erdoğan-Regierung hat Verhandlungen mit Abdullah Öcalan, dem inhaftierten Führer der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), aufgenommen, um zu versuchen, die PKK und die ihr angeschlossenen Organisationen im Irak und in Syrien zu zerschlagen. Die SDF, die Öcalan als ihren Anführer betrachten, erklärten sich vor kurzem bereit, in das neue, von Ankara unterstützte Regime in Damaskus integriert zu werden.
Mit dieser Initiative, die von Parlamentsfraktionen wie der DEM und der CHP unterstützt wird, hofft Erdoğan, einen wichtigen Konflikt mit Washington zu lösen, das die SDF in Syrien unterstützt. Sie könnte auch den Weg ebnen, um die Türkei, das neue Regime in Damaskus und die kurdische Bewegung in einer US-geführten anti-iranischen Achse zusammenzubringen. Erdoğan macht seine Innenpolitik in dem Bewusstsein, dass er für die Trump-Regierung ein wichtiger Verbündeter im Nahen Osten ist.
Er beschleunigt die staatliche Unterdrückung im eigenen Land auch aus außenpolitischen Gründen. In Bezug auf den sich verschärfenden Nahostkrieg forderte Erdoğan im September letzten Jahres, „die innere Front zu stärken“. Er behauptete, dass Israel – dessen Kriegsmaschinerie er weiterhin füttert, insbesondere durch die Vermittlung aserbaidschanischer Öllieferungen – nach Palästina und Libanon auch die Türkei ins Visier nehmen könnte.
Für den Fall eines solchen Konflikts oder eines Kriegs gegen den Iran spielt das Ziel, die kurdische nationalistische Bewegung als Bedrohung für die Interessen der türkischen Bourgeoisie zu neutralisieren und sie möglicherweise zu einem Verbündeten im Sinne der türkischen Ambitionen in Syrien und im Irak zu machen, eine wichtige Rolle bei der Wiederaufnahme der Verhandlungen mit der PKK.
Die Erdoğan-Regierung ist bestrebt, die Beziehungen zu Washington zu stärken und gleichzeitig die wachsenden Spannungen zwischen den USA und den europäischen Mächten auszunutzen, um ihr Ziel eines Beitritts zur Europäischen Union voranzutreiben.
Nach Trumps einseitigem Schritt in Richtung eines Abkommens mit Russland hat Ankara erklärt, die Türkei sei für die „europäische Sicherheit“ unverzichtbar, und gehört zu den Ländern, die die Entsendung von Truppen in die Ukraine erwägen. Die Erdoğan-Regierung spielt auch weiterhin ihre reaktionäre Rolle, indem sie Millionen von Flüchtlingen in der Türkei an der Überfahrt nach Europa hindert und dies als Druckmittel einsetzt.
Erdoğan rechnet damit, dass seine europäischen Verbündeten über eine symbolische Kritik an den Entwicklungen in der Türkei nicht hinausgehen werden. Sie führen selbst massive soziale Angriffe durch, um unpopuläre Kriege und Militarismus zu finanzieren, und fördern den Aufstieg rechtsextremer Kräfte.
Dies zeigt, dass der Kampf gegen die Diktatur und für demokratische Rechte nicht vom Kampf gegen die herrschende Klasse und den imperialistischen Krieg getrennt werden kann. Genau aus diesem Grund ist die CHP, die eine traditionelle Fraktion der herrschenden Eliten ist und sich am Nato- und EU-Imperialismus orientiert, völlig unfähig, diesen Kampf zu führen.
Das erste, was die CHP nach ihrem Sieg bei den Kommunalwahlen im vergangenen Jahr tat, war, einen Prozess der „Normalisierung“ mit Erdoğan einzuleiten. Gleichzeitig wurden junge Menschen und Arbeiter, die gegen die Mitschuld der Regierung am israelischen Völkermord in Gaza protestierten oder ihr Recht auf Demonstrationen am 1. Mai wahrnahmen, von der Polizei gewaltsam angegriffen und verhaftet. İmamoğlu selbst war die erste führende Persönlichkeit, die nach dem Regimewechsel in Syrien Damaskus besuchen wollte.
In seiner Botschaft aus der Haft spricht İmamoğlu davon, „diese ungleiche, ungerechte und korrupte Ordnung zu ändern“, aber dies ist im kapitalistischen Gesellschaftssystem nicht möglich. Die einzige gesellschaftliche Kraft, die für Gleichheit und Gerechtigkeit sorgen und ein demokratisches Regime errichten kann, ist die Arbeiterklasse, die mit einem internationalen sozialistischen Programm bewaffnet sein muss, um die Macht zu übernehmen. Das ist die Perspektive, für die die Sosyalist Eşitlik Grubu kämpft.
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