Partei für Soziale Gleichheit
Historische Grundlagen der Sozialistischen Gleichheitspartei

Die deutsche Katastrophe

69. Die Unterstützung der herrschenden Klasse und die brachialen Methoden der Nazis allein hätten nicht gereicht, Hitler zum Durchbruch zu verhelfen. Entscheidend war das völlige Versagen der großen Arbeiterparteien. Noch 1932 waren SPD und KPD weit stärker als Hitlers NSDAP. Bei der letzten Wahl vor Hitlers Machtübernahme eroberten sie zusammen 221 von 584 Reichtagssitzen, die NSDAP nur 196. Dabei war die Reichtagswahl nur ein schwacher Widerschein des wirklichen Kräfteverhältnisses. Die Arbeiter, die hinter der SPD und der KPD standen, hatten ein ganz anderes politisches Gewicht als der gesellschaftliche Bodensatz, den Hitler aufwühlte. Hitlers Sieg war das Ergebnis des Versagens von SPD und KPD.

70. Die SPD hatte 1918 die proletarische Revolution erwürgt, um die bürgerliche Ordnung zu retten. Das Ergebnis war die Weimarer Republik, in der die alten Kräfte der Reaktion hinter einer demokratischen Fassade fortlebten. Als die Weltwirtschaftskrise 1929 das labile gesellschaftliche Gleichgewicht sprengte, „rettete“ die SPD die Republik, indem sie die demokratische Fassade Stein um Stein demontierte. Erst stellte sie sich hinter die Regierung Brüning, die das Parlament ausschaltete und mit Notverordnungen regierte. Dann unterstützte sie die Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten, der kurz danach Hitler zum Kanzler ernannte. Anstatt ihre Mitglieder gegen die faschistische Gefahr zu mobilisieren, vertröstete die SPD sie auf Polizei, Reichswehr und Reichspräsidenten. Selbst als Hindenburg und von Papen 1932 die sozialdemokratisch geführte preußische Regierung gewaltsam absetzten, rührte die SPD keinen Finger. Stattdessen reichte sie Verfassungsklage beim Reichsgericht ein. Trotzki fasste ihre Haltung mit den Worten zusammen: „Eine Massenpartei, die Millionen hinter sich herführt (zum Sozialismus!), behauptet, dass die Frage, welche Klasse im heutigen, bis ins Innerste erschütterten Deutschland an die Macht gelangen werde, nicht von der Kampfkraft des deutschen Proletariats abhängt, nicht von den faschistischen Sturmabteilungen, auch nicht von der Zusammensetzung der Reichswehr, sondern davon, ob der reine Geist der Weimarer Verfassung (mit der notwendigen Menge Kampfer und Naphtalin) sich im Präsidentenpalast niederlasse.“ [36]

71. Die unterwürfige Haltung der SPD entwaffnete nicht nur die Arbeiterklasse, sie stärkte auch die Faschisten, wie Trotzki deutlich machte: „Auf Staatsapparat, Gerichte, Reichswehr, Polizei müssen die Appelle der Sozialdemokratie eine der beabsichtigten entgegengesetzte Wirkung ausüben. Der ‚loyalste’, ‚neutralste’, am wenigsten an die Nationalsozialisten gebundene Bürokrat wird folgendermaßen urteilen müssen: ‚Hinter der Sozialdemokratie stehen Millionen; in ihren Händen hält sie ungeheure Mittel: Presse, Parlament, Gemeindeverwaltungen; es geht um ihre eigene Haut; im Kampf gegen die Faschisten ist ihnen die Unterstützung der Kommunisten gewiss; und nichtsdestoweniger wenden sich die allmächtigen Herren an mich, den Beamten, sie vor dem Angriff einer Millionenpartei zu retten, deren Führer morgen meine Vorgesetzten werden können. Schlecht muss es um die Herren Sozialdemokraten bestellt sein, ganz hoffnungslos... Es ist Zeit für mich, den Beamten, an meine eigene Haut zu denken’. So wird schließlich der bis gestern noch schwankende, ‚loyale’, ‚neutrale‘ Beamte sich für alle Fälle absichern, d.h. mit den Nationalsozialisten verbinden, um seinen morgigen Tag zu sichern. So arbeiten die überlebten Reformisten auch an der bürokratischen Front für die Faschisten.“ [37]

72. Noch unterwürfiger als die SPD verhielten sich die Gewerkschaften. Im Bemühen, den Nationalsozialisten seine Verlässlichkeit und Unentbehrlichkeit zu beweisen, distanzierte sich der ADGB unter dem Vorsitz Theodor Leiparts schon dreieinhalb Monate vor Hitlers Machtübernahme von der SPD. Während die SA nach Hitlers Einzug in die Reichskanzlei gegen bekannte Gewerkschafter, Sozialdemokraten und Kommunisten vorging, erklärte der ADGB seine Bereitschaft, die in jahrzehntelanger Arbeit aufgebauten Gewerkschaften in den Dienst des neuen Staates zu stellen: „Die Gewerkschaftsorganisationen sind Ausdruck einer unbestreitbaren gesellschaftlichen Notwendigkeit, ein unentbehrlicher Teil der bestehenden sozialen Ordnung. ... Als ein Ergebnis der natürlichen Ordnung der Dinge werden sie mehr und mehr in den Staat integriert. ... Gewerkschaftsorganisationen erheben keinen Anspruch darauf, die Staatsmacht direkt zu beeinflussen. Ihre einzige Aufgabe kann hier nur die sein, die Erfahrung und das Wissen, das sie auf diesem Gebiet erworben haben, der Regierung und dem Parlament zur Verfügung zu stellen.“ Am 1. Mai marschierte der ADGB unter dem Hakenkreuz. Die Nazis ließen sich davon nicht beeindrucken. Am 2. Mai stürmten sie die Gewerkschaftshäuser, verhafteten und ermordeten zahlreiche Gewerkschaftsführer und lösten den ADGB auf.

73. Die KPD war als Antwort auf den Verrat der Sozialdemokratie gegründet worden. Doch sie erwies sich als ebenso unfähig, die Arbeiterklasse gegen die Nazis zusammenzuschweißen und in den Kampf zu führen, wie die SPD. Eine zehnjährige Kampagne gegen den „Trotzkismus“ hatte die Partei politisch zersetzt und die Führung in ein williges Werkzeug Stalins verwandelt. Sie wiederholte alle opportunistischen und ultralinken Fehler, um deren Überwindung sich Lenin und Trotzki zehn Jahre zuvor bemüht hatten, und verbarg ihre Lähmung und ihren Fatalismus hinter radikalem Geschrei. Trotzki versuchte bis 1933 unentwegt, den falschen Kurs der KPD zu berichtigen. Seine Schriften über Deutschland aus diesen Jahren, die zusammen zwei dicke Bände füllen, beweisen sein Genie als Marxist und politischer Führer. Verbannt auf eine abgelegene türkische Insel, angewiesen auf Zeitungen und Berichte politischer Freunde, zeigte Trotzki ein Verständnis der deutschen Ereignisse und ihrer inneren Mechanismen, das bis heute seinesgleichen sucht. Er sah die Ereignisse klar und präzise voraus und entwickelte eine überzeugende Alternative zum verheerenden Kurs der KPD. Diese antwortete ihm nicht mit Argumenten, sondern mit Verleumdungen, mit Gewalt und mit dem gesamten Gewicht des Moskauer Apparats.

74. Im Mittelpunkt der Politik der KPD stand die Sozialfaschismusthese. Aus dem Umstand, dass sowohl Faschismus wie bürgerliche Demokratie Formen der kapitalistischen Herrschaft sind, zog die Kommunistische Internationale den Schluss, dass es überhaupt keinen Gegensatz zwischen ihnen gebe, auch keinen relativen. Faschismus und Sozialdemokratie seien dasselbe – in den Worten Stalins: „keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder“ -, die Sozialdemokraten demnach „Sozialfaschisten“. Die KPD lehnte jede Zusammenarbeit mit der SPD gegen die rechte Gefahr ab und ging in einigen Fällen sogar so weit, gemeinsame Sache mit den Nazis zu machen – so, als sie 1931 einen von den Nazis initiierten Volksentscheid zum Sturz der SPD-geführten preußischen Regierung unterstützte. Von Zeit zu Zeit rief sie zwar zur „Einheitsfront von unten“ auf. Doch das war kein Angebot zur Zusammenarbeit, sondern ein Ultimatum an die SPD-Mitglieder, mit ihrer Partei zu brechen.

75. Trotzki wandte sich entschieden gegen diese Form des Vulgärradikalismus. Er erinnerte daran, dass schon Marx und Engels heftig protestiert hatten, als Lassalle feudale Konterrevolution und liberale Bourgeoisie als „eine reaktionäre Masse“ bezeichnet hatte. Denselben Fehler wiederholten nun Stalin und die KPD. „Der Sozialdemokratie die Verantwortung für Brünings Notverordnungssystem und die drohende faschistische Barbarei aufzuerlegen, ist vollkommen richtig. Die Sozialdemokratie mit dem Faschismus zu identifizieren, vollkommen unsinnig“, schrieb er. „Die Sozialdemokratie, jetzt Hauptvertreterin des parlamentarisch-bürgerlichen Regimes, stützt sich auf die Arbeiter. Der Faschismus auf das Kleinbürgertum. Die Sozialdemokratie kann ohne Arbeitermassenorganisationen keinen Einfluss ausüben, der Faschismus seine Macht nicht anders befestigen als durch Zerschlagung der Arbeiterorganisationen. Hauptarena der Sozialdemokratie ist das Parlament. Das System des Faschismus fußt auf der Vernichtung des Parlamentarismus. Für die monopolistische Bourgeoisie stellen parlamentarisches und faschistisches System bloß verschiedene Werkzeuge ihrer Herrschaft dar. Sie nimmt in Abhängigkeit von den historischen Bedingungen zu diesem oder jenem Zuflucht. Jedoch für die Sozialdemokratie wie für den Faschismus ist die Wahl des einen oder des andern Werkzeugs von selbständiger Bedeutung, noch mehr, die Frage ihres politischen Lebens oder Todes.“ [38]

76. Trotzki kämpfte unermüdlich für eine Politik der Einheitsfront. Sie hätte es der KPD ermöglicht, den Gegensatz zwischen Sozialdemokratie und Faschismus zu nutzen, um die Arbeiterklasse zusammenzuschließen, das Vertrauen der sozialdemokratischen Arbeiter zu gewinnen und die sozialdemokratischen Führer bloßzustellen. In dem Ende 1931 verfassten Artikel „Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen?“ erklärte er: „Heute gerät die Sozialdemokratie als Ganzes, bei all ihren inneren Widersprüchen, in scharfen Konflikt mit den Faschisten. Unsere Aufgabe besteht darin, diesen Konflikt auszunützen, und nicht darin, die Widersacher gegen uns zu vereinigen.“ Man müsse „in der Tat die völlige Bereitschaft zeigen, mit den Sozialdemokraten einen Block gegen die Faschisten zu schließen“, und „verstehen, die Arbeiter in der Wirklichkeit von den Führern loszulösen. Die Wirklichkeit aber ist jetzt – der Kampf gegen den Faschismus.“ Es gelte den sozialdemokratischen Arbeitern zu helfen, „in der Praxis – in der neuen, außergewöhnlichen Situation – zu überprüfen, was ihre Organisationen und Führer wert sind, wenn es um Leben und Tod der Arbeiterklasse geht“. [39]

77. Die Weigerung der KPD, sich auf eine solche Politik einzulassen, führte in die deutsche Katastrophe. Ihre Sozialfaschismus-Politik spaltete die Arbeiterklasse, demoralisierte die KPD-Mitglieder und trieb das Kleinbürgertum in die Arme Hitlers. Trotzki zog im Mai 1933 folgende Bilanz der Politik der KPD: „Keinerlei Politik der Kommunistischen Partei hätte die Sozialdemokratie in eine Partei der Revolution verwandeln können. Aber das war auch nicht beabsichtigt. Nötig war es, bis ans Ende den Gegensatz von Reformismus und Faschismus zur Schwächung des Faschismus auszunutzen und gleichzeitig vor den Arbeitern die Untauglichkeit der sozialdemokratischen Führung aufzudecken, um den Reformismus zu schwächen. Beide Aufgaben verschmolzen naturgemäß in eins. Die Politik der Kominternbürokratie aber führte zum umgekehrten Resultat: Die Kapitulation der Reformisten kam den Faschisten und nicht den Kommunisten zugute, die sozialdemokratischen Arbeiter hielten sich an ihre Führer, die kommunistischen Arbeiter verloren den Glauben an sich und ihre Führung.“ [40]

78. Auch der Übergang der verzweifelten kleinbürgerlichen Massen ins Lager des Faschismus war nicht unvermeidlich. Viele hätten sich auf die Seite der Arbeiterklasse gestellt, wenn diese einen Ausweg aus der gesellschaftlichen Sackgasse gezeigt hätte. Die Voraussetzung dafür wäre eine mutige und entschlossene Politik der Kommunistischen Partei gewesen. Die Kleinbourgeoisie, schrieb Trotzki, „ist durchaus fähig, ihr Schicksal mit dem des Proletariats zu verknüpfen. Hierzu ist nur eines erforderlich: Das Kleinbürgertum muss die Überzeugung gewinnen, dass das Proletariat fähig ist, die Gesellschaft auf einen neuen Weg zu führen. Ihm diesen Glauben einzuflößen, vermag das Proletariat nur durch seine Kraft, durch die Sicherheit seiner Handlungen, durch geschickten Angriff auf die Feinde, durch die Erfolge seiner revolutionären Politik. Doch wehe, wenn die revolutionäre Partei sich als unfähig erweist! Der tägliche Kampf des Proletariats verschärft die Unbeständigkeit der bürgerlichen Gesellschaft. Streiks und politische Unruhen verschlechtern die Wirtschaftslage des Landes. Das Kleinbürgertum wäre bereit, sich vorübergehend mit den wachsenden Entbehrungen abzufinden, wenn es durch die Erfahrung zur Überzeugung käme, dass das Proletariat imstande ist, es auf einen neuen Weg zu führen. Erweist sich aber die revolutionäre Partei trotz des ununterbrochen zunehmenden Klassenkampfs immer wieder von neuem als unfähig, die Arbeiterklasse um sich zu scharen, schwankt sie, ist sie verwirrt, widerspricht sie sich selbst, dann verliert das Kleinbürgertum die Geduld und beginnt in den revolutionären Arbeitern die Urheber seines eigenen Elends zu sehen.“ [41]

79. 1921 hatte Lenin den linken Radikalismus als „Kinderkrankheit im Kommunismus“ bezeichnet. Zehn Jahre später war die ultralinke Politik der KPD keine Kinderkrankheit mehr. Sie wurzelte in der gesellschaftlichen Stellung der stalinistischen Bürokratie, die sich über die Arbeiterklasse erhoben und die Sektionen der Komintern ihrem Kommando unterstellt hatte. „Die herrschende und unkontrollierte Stellung der Sowjetbürokratie züchtet eine Psychologie hoch, die in vielem der Psychologie des proletarischen Revolutionärs direkt entgegengesetzt ist“, schrieb Trotzki. „Die Bürokratie stellt ihre Berechnungen und Kombinationen in der inneren und der internationalen Politik höher als die Aufgaben der revolutionären Massenerziehung und praktiziert sie ohne jede Verbindung mit den Aufgaben der internationalen Revolution.“ [42] Die Bürokratie war gewohnt, Ultimaten zu stellen und zu kommandieren. Sie sah nichts voraus und reagierte auf die katastrophalen Folgen ihrer eigenen Politik mit einem erratischen Zickzackkurs, der sowohl ultralinke wie ultrarechte Formen annahm. Hatte die Komintern zwischen 1924 und 1928 einen rechten Kurs verfolgt (Großbritannien, China), so reagierte sie 1928 auf eine Krise in der Sowjetunion mit einem scharfen Linksschwenk, den sie auf alle Sektionen übertrug. Sie verkündete die so genannte „dritte Periode“, die den Kampf um die Macht in allen Ländern auf die Tagesordnung stelle. Die Sozialfaschismusthese war ein Ergebnis dieses Schwenks.


[36]

Leo Trotzki, Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats, in Porträt des Nationalsozialismus, Essen 1999, S. 73

[37]

ebd., S. 74-75

[38]

ebd., S. 70, 80-81

[39]

Leo Trotzki, Wie wird der Nationalsozialismus geschlagen? Brief an einen deutschen Arbeiter-Kommunisten, Mitglied der KPD, in: Porträt des Nationalsozialismus, S. 61-62

[40]

Leo Trotzki, Die deutsche Katastrophe, in: Schriften über Deutschland, S. 548-549

[41]

Leo Trotzki, Der einzige Weg, in: Porträt des Nationalsozialismus, S. 214-15

[42]

Leo Trotzki, Was nun? Schicksalsfragen des deutschen Proletariats, in: ebd., S. 145