Partei für Soziale Gleichheit
Historische Grundlagen der Sozialistischen Gleichheitspartei

Die Gründung der Vierten Internationale

95. Im September 1938 fand in der Nähe von Paris der Gründungskongress der Vierten Internationale statt. Das Gründungsdokument „Der Todeskampf des Kapitalismus und die Aufgaben der Vierten Internationale (Das Übergangsprogramm)“ hatte Trotzki verfasst. Es stellt fest: „Die objektiven Voraussetzungen für die proletarische Revolution nicht nur ‚reif’, sondern beginnen bereits zu verfaulen. Ohne eine sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht der gesamten menschlichen Kultur eine Katastrophe. Alles hängt nunmehr vom Proletariat ab, das heißt vor allem von seiner revolutionären Vorhut. Die geschichtliche Krise der Menschheit läuft auf die Krise der revolutionären Führung hinaus.“ [56]

96. Den Skeptikern und Zentristen, die den Aufbau einer neuen Internationale für verfrüht hielten und meinten, eine solche Organisation müsse aus „großen Ereignissen“ hervorgehen, antwortete das Übergangsprogramm: „Die Vierte Internationale ist bereits aus großen Ereignissen hervorgegangen: den größten Niederlagen des Proletariats in der Geschichte. Verursacht wurden diese Niederlagen durch die Entartung und den Verrat der alten Führung. Der Klassenkampf duldet keine Unterbrechung. Die Dritte Internationale ist nach der Zweiten für die Revolution tot. Es lebe die Vierte Internationale.“ Selbst wenn die Vierte Internationale zahlenmäßig noch schwach sei, so sei „sie doch stark aufgrund ihrer Lehre, ihres Programms, ihrer Tradition und der unvergleichlichen Festigkeit ihres Kaders“. Der „Bürokratie der II. und III. Internationale, der Amsterdamer und der anarchosyndikalistischen Internationale sowie ihren zentristischen Satelliten“ erklärte das Übergangsprogramm „einen unversöhnlichen Krieg“ und stellte fest: „All diese Organisationen sind nicht Bürgen der Zukunft, sondern faulende Überbleibsel der Vergangenheit.“ [57]

97. Um die Kluft zwischen der Reife der objektiven, revolutionären Voraussetzungen und der Unreife des Proletariats und seiner Vorhut zu überwinden, formulierte das Übergangsprogramm eine Reihe von ökonomischen und politischen Forderungen – wie die gleitende Lohnskala, die Verstaatlichung von Industrie, Banken und Landwirtschaft, die Bewaffnung des Proletariats, die Bildung einer Arbeiter – und Bauernregierung. Diese Übergangsforderungen stellen eine Brücke dar, „die von den heutigen Bedingungen und dem heutigen Bewusstsein breiter Schichten der Arbeiterklasse ausgehen und stets zu ein und demselben Schluss führen: zur Machteroberung des Proletariats“. Sie haben die Aufgabe, das revolutionäre Bewusstsein der Arbeiterklasse zu entwickeln, und dienen nicht dazu, sich an das vorherrschende Bewusstsein anzupassen. „Das Programm muss eher die objektiven Aufgaben der Arbeiterklasse als die Rückständigkeit der Arbeiter ausdrücken“, betonte Trotzki. „Es muss die Gesellschaft so widerspiegeln, wie sie ist, und nicht die Rückständigkeit der Arbeiterklasse. Es ist ein Werkzeug, die Rückständigkeit zu überwinden und zu besiegen.“ [58]

98. Revisionistische Strömungen haben seither wiederholt versucht, das Übergangsprogramm in opportunistischer Weise zu interpretieren, indem sie einzelne Forderungen aus dem Zusammenhang rissen. So bezeichnete der amerikanische Revisionist George Novack das Übergangsprogramm als „vielseitig verwendbaren Werkzeugkasten“, aus dem man „wie ein guter Handwerker“ das für eine bestimmte Aufgabe geeignete Werkzeug wählen könne. Auf diese Weise lässt sich jedes opportunistische Manöver rechtfertigen. Aber gerade das ist nicht der Sinn von Übergangsforderungen, die niemals im Gegensatz zur sozialistischen Perspektive stehen dürfen, auf der sie beruhen.

99. Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs im September 1939 verschärfte sich die Verfolgung Trotzkis und der Vierten Internationale. Die revolutionären Folgen des Ersten Weltkriegs waren den imperialistischen Mächten und der Sowjetbürokratie noch frisch im Gedächtnis. Stalin musste fürchten, der Krieg werde eine revolutionäre Bewegung hervorrufen, die Trotzki wieder an die Macht bringen könnte. Um Trotzki zu beseitigen und das Wachsen der Vierten Internationale zu verhindern, drangen stalinistische Agenten in die trotzkistische Bewegung ein und ermordeten enge Mitarbeiter Trotzkis, darunter seinen Sohn Leon Sedow. Am 20. August 1940 wurde Trotzki selbst von dem GPU-Agenten Ramon Mercader in seinem Haus in Coyoacan bei Mexiko-Stadt niedergestreckt. Er starb am folgenden Tag. Der Mord an Trotzki war ein schwerer Schlag für den internationalen Sozialismus. Der neben Lenin wichtigste Führer der Oktoberrevolution, unerschütterliche Gegner des Stalinismus und Gründer der Vierten Internationale war der letzte und größte Vertreter der politischen, intellektuellen, kulturellen und moralischen Tradition des klassischen Marxismus, der Ende des neunzehnten und Anfang des zwanzigsten Jahrhunderts die revolutionäre Arbeitermassenbewegung inspiriert hatte.


[56]

Leo Trotzki, Das Übergangsprogramm, S. 84

[57]

ebd., S. 131, 127

[58]

ebd., S. 86, 140