Partei für Soziale Gleichheit
Historische Grundlagen der Sozialistischen Gleichheitspartei

Die Gründung des Bunds Sozialistischer Arbeiter

147. In den 1960er Jahren zeigte der Nachkriegsaufschwung deutliche Krisenerscheinungen. Dem amerikanischen Kapitalismus waren in Europa und Japan wirtschaftliche Rivalen erwachsen. Der Dollar geriet unter wachsenden Druck. 1966 erschütterte eine Rezession die Weltwirtschaft. 1971 kündigte die amerikanische Regierung die Gold-Bindung des Dollars auf und entzog damit dem Währungssystem den Boden, das die Grundlage des Nachkriegsbooms gebildet hatte. 1973 stürzte die Weltwirtschaft erneut in eine tiefe Rezession. Die Arbeiterklasse reagierte mit einer internationalen Offensive, die revolutionäre Ausmaße annahm (Frankreich 1968), die stalinistischen Regimes erschütterte (Tschechoslowakei 1969), konservative Regierungen zum Rücktritt zwang (Großbritannien 1974), Diktaturen zu Fall brachte (Griechenland 1974, Portugal 1974, Spanien 1975) und die amerikanische Niederlage in Vietnam besiegelte. 1968 brach in Deutschland, Frankreich, Italien, den USA, Japan, Mexiko und vielen anderen Ländern eine Studentenrevolte aus, die große Teile der jüngeren Generation erfasste. Die historische Krise der proletarischen Führung blieb aber ungelöst. Die stalinistischen, sozialdemokratischen und gewerkschaftlichen Apparate desorientieren und unterdrückten die Massenkämpfe mit Unterstützung der pablistischen Tendenzen. Sie verrieten aussichtsreiche revolutionäre Möglichkeiten und führten sie in die Niederlage. Besonders schrecklich waren die Folgen in Chile, wo die Regierung des „Sozialisten“ Allende mit Hilfe der Kommunistischen Partei die Arbeiterklasse an der Machtübernahme hinderte, bis sich das Militär unter General Augusto Pinochet am 11. September 1973 stark genug fühlte, um zu putschen und Tausende Arbeiter zu ermorden. Auch Allende selbst wurde dabei getötet. Das Unvermögen der Arbeiterklasse, die von ihren alten Organisationen errichteten Hürden zu überwinden, verschafften der Bourgeoisie die notwendige Zeit, die fragile Weltordnung zu stabilisieren und neu zu ordnen. Die Enttäuschung darüber, dass die Arbeiterklasse unfähig war, die Krise auf sozialistische Weise zu lösen, wurde von der internationalen Bourgeoisie ab 1975 für eine Gegenoffensive ausgenutzt.

148. In Deutschland kündigte sich der Wendepunkt im Klassenkampf 1963 mit einem Metallerstreik in Baden-Württemberg an. Die Streikenden forderten nicht nur höhere Löhne, sondern verabschiedeten auch Resolutionen gegen die geplanten Notstandsgesetze. Die Unternehmer reagierten, indem sie zum ersten Mal seit 1928 Hunderttausende Arbeiter aussperrten. Im Ruhrgebiet mobilisierten die Bergarbeiter gleichzeitig gegen das Zechensterben. Die christlich-liberale Koalition Ludwig Erhards erwies sich als unfähig, der Arbeiterklasse ein Sparprogramm („Maß halten“) zu diktieren. Sie wurde 1966 durch die Große Koalition abgelöst. Zum ersten Mal seit Ende der 1920er Jahre sah sich die Bourgeoisie gezwungen, die Sozialdemokratie in die Regierung zu holen, um die Arbeiterklasse unter Kontrolle zu halten. Unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU), einem früheren NSDAP-Mitglied, übernahm Willy Brandt das Amt des Außenministers und Vizekanzlers. Die wichtigste Aufgabe der Großen Koalition bestand in der Verabschiedung der Notstandsgesetze. Dagegen entwickelte sich eine breite außerparlamentarische Opposition, die 1967?68 in die Studentenrevolte mündete. 1969 folgten die Septemberstreiks, eine Welle spontaner Arbeitsniederlegungen in der Stahl – und Metallindustrie, die der Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie zeitweise entglitten.

149. Die politische Elite reagierte, indem sie die Große durch die Kleine Koalition ablöste und Brandt an die Spitze der Regierung stellte. Die FDP, bisher am rechten Rand des politischen Spektrums angesiedelt, wechselte die Seiten und verschaffte ihm die nötige Mehrheit. Das ehemalige SAP-Mitglied Brandt brachte die Lage durch umfangreiche soziale Zugeständnisse unter Kontrolle. In der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst kam es zu hohen Tarifabschlüssen. Die Jugend wurde durch ein Reform – und Bildungsprogramm „von der Straße geholt“. Der Anteil der Abiturienten stieg von 5 Prozent aller Jugendlichen in den 1960er auf 30 Prozent in den 1970er Jahren. Die Zahl der Arbeitsplätze für Mittel – und Hochschulabsolventen an Universitäten, Forschungsinstituten, Krankenhäusern, Schulen, Sozialeinrichtungen und Verwaltung wurde stark vermehrt. Der Einfluss der SPD erreichte in diesen Jahren seinen Zenit: Bei der Bundestagswahl 1972 erhielt sie 46 Prozent der abgegebenen Stimmen, die Mitgliederzahl überschritt die Million. Gleichzeitig grenzte Brandt alle aus, die nicht bereit waren, sich in die bürgerliche Ordnung einzufügen. Der Radikalenerlass von 1972 bedeutete für Tausende Berufsverbot, an deren Eintreten für die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ Zweifel bestanden. Er übte einen ungeheuren Druck aus, sich anzupassen und jeder antikapitalistischen Zielsetzung abzuschwören.

150. Auch in der Außenpolitik leistete Brandt der herrschenden Klasse einen wichtigen Dienst. Er verbesserte die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Osteuropa und beendete die Blockadehaltung gegenüber der DDR. Seine Ostpolitik, die anfangs in konservativen Kreisen auf heftigen Widerstand stieß, verschaffte der deutschen Wirtschaft Zugang zu neuen Absatzmärkten in Osteuropa und der Sowjetunion, die sie dringend benötigte, um die Auswirkungen der Rezession zu überwinden. Langfristig untergrub die Ostpolitik die Stabilität der osteuropäischen Regime.

151. Vor dem Hintergrund der Offensive im Klassenkampf fand die Perspektive des Internationalen Komitees in Deutschland Unterstützung. Am 18. und 19. September 1971 gründeten junge Arbeiter und Studenten in Hannover den Bund Sozialistischer Arbeiter, der vom Internationalen Komitee als deutsche Sektion anerkannt wurde. Die Wiederaufnahme der historischen Kontinuität bedeutete eine gewaltige politische und theoretische Herausforderung. Der Verrat zweier Massenparteien und die daraus resultierenden Katastrophen hatten im Bewusstsein der deutschen Arbeiterklasse tiefe Spuren hinterlassen, ebenso das zentristische Erbe von USPD und SAP, die Verbrechen des Stalinismus und die Wiederbelebung des sozialdemokratischen Reformismus. Hinzu kam, dass das intellektuelle und kulturelle Leben durch die antimarxistischen Theorien der Studentenbewegung geprägt wurde. Diese Herausforderungen konnten nicht allein durch taktische und organisatorische Initiativen gelöst werden, mochten diese für sich betrachtet auch noch so korrekt sein. Der Aufbau einer Sektion des Internationalen Komitees in Deutschland erforderte eine systematische programmatische, historische und theoretische Arbeit. Eine solche Arbeit wurde durch das Anwachsen opportunistischer Tendenzen innerhalb des Internationalen Komitees erschwert. Die französische Organisation Communiste Internationaliste (OCI) hatte sich bereits in den 1960er Jahren vom Kampf gegen den Pablismus abgewandt und 1971 mit dem Internationalen Komitee gebrochen. Die britische Sektion, die Aufgrund ihrer Geschichte über große politische Autorität verfügte, ging in den 1970er Jahren denselben Weg. Sie legte dem BSA große Hindernisse in den Weg und drängte ihn in eine opportunistische Richtung. Der BSA widerstand diesem Druck, doch erst die Spaltung von der WRP im Winter 1985/86 versetzte ihn in die Lage, sich das theoretische und politische Erbe der Vierten Internationale umfassend anzueignen.