Partei für Soziale Gleichheit
Historische Grundlagen der Sozialistischen Gleichheitspartei

Der Bankrott der reformistischen und nationalen Organisationen

217. Die Liquidation der Sowjetunion durch die stalinistische Bürokratie war Ausdruck eines internationalen Phänomens. Zwei Wochen nach der formellen Auflösung der UdSSR am 25. Dezember 1991 erklärte David North: „Überall auf der Welt ist die Arbeiterklasse mit der Tatsache konfrontiert, dass die Gewerkschaften, Parteien und sogar Staaten, die sie in einer früheren Periode geschaffen hat, in direkte Instrumente des Imperialismus verwandelt worden sind. Vorbei sind die Tage, in denen die Bürokratien den Klassenkampf ‚vermittelten‘ und die Rolle eines Puffers zwischen den Klassen spielten. Obwohl die Bürokratien die historischen Interessen der Arbeiterklasse generell verrieten, dienten sie in beschränktem Sinne doch immer noch ihren praktischen Tagesbedürfnissen und ‚rechtfertigten‘ in diesem Maße ihre Existenz als Führer von Arbeiterorganisationen. Diese Periode gehört jetzt der Vergangenheit an. Die Bürokratie kann in der heutigen Periode keine solche unabhängige Rolle mehr spielen.“ [124]

218. Das galt sowohl für die stalinistischen wie für die reformistischen Parteien und Gewerkschaften. Ihr Programm, die Dämpfung des Klassengegensatzes mittels sozialer Reformen, versagte angesichts der Globalisierung, und sie stellten sich offen gegen die elementaren Interessen der Arbeiterklasse. Die Gewerkschaften waren selbst im weitesten Sinne des Wortes keine „Arbeiterorganisationen“ mehr. Sie trotzten den Unternehmern und der Regierung keine Zugeständnisse mehr ab, sondern zwangen die Arbeiter zu Zugeständnissen an die Unternehmer, um deren Wettbewerbsfähigkeit zu stärken und Kapital anzulocken. In Deutschland erstickten der DGB und seine Einzelgewerkschaften während der Wiedervereinigung jeden Widerstand gegen die Privatisierung und die Stilllegung von Betrieben und arbeiteten dabei aufs Engste mit der Treuhandanstalt zusammen. „Die Gewerkschaften sorgten zusammen mit den Kirchen dafür, dass sich der Protest nicht radikalisiert“, brüstete sich der Vorsitzende der IG Metall Franz Steinkühler später. Sein Stellvertreter Klaus Zwickel sprach von einem „gefährlichen Drahtseilakt“, den die Gewerkschaft übernommen habe. „Wenn wir’s nicht tun, davon bin ich überzeugt, hätten längst Aggression oder politischer Extremismus überhandgenommen.“ [125] Später halfen die Gewerkschaften, die Niedriglöhne aus dem Osten auf Westdeutschland zu übertragen. Mittlerweile gibt es keinen Plan über Rationalisierungen und Stellenabbau mehr, der nicht – wie beim Autobauer Opel – die Unterschriften der Gewerkschaften und ihrer Betriebsräte trägt.

219. Auch die SPD, allen voran ihr Vorsitzender Willy Brandt, unterstützte die Wiedervereinigung ohne Vorbehalt. In den Jahren danach wetteiferte sie in den Ländern und Kommunen mit Union und FDP, den Lebensstandard der Arbeiter zu senken. Und als sie 1998 erstmals seit 16 Jahren wieder den Bundeskanzler stellte, leitete sie mit der Agenda 2010 den umfassendsten Sozialabbau seit Bestehen der Bundesrepublik ein. Kanzler Schröder hatte die Unterstützung großer Teile der Bourgeoisie, die der Kohl-Regierung nicht mehr zutrauten, erfolgreich einen solchen Frontalangriff gegen die Arbeiterklasse zu führen. Auch in der Außenpolitik vollzog die rot-grüne Koalition einen radikalen Kurswechsel, indem sie erstmals seit der Kriegsniederlage wieder deutsche Truppen in internationale Kriegseinsätze schickte.

220. 1990 brach der Bund Sozialistischer Arbeiter endgültig mit der Taktik, bei den Wahlen zur Stimmabgabe für die SPD aufzurufen oder sozialistische Forderungen an diese zu stellen. In dem 1993 verabschiedeten Parteiprogramm erklärte er dazu: „Der BSA hat es immer als seine erstrangige Aufgabe betrachtet, den Einfluss zu durchbrechen, den die SPD auf die Arbeiterklasse ausübt und der über lange Zeit der wichtigste Mechanismus zur Sicherung der bürgerlichen Herrschaft in der Bundesrepublik war. ... Bei der Ausarbeitung seiner Taktik musste der BSA aber berücksichtigen, dass die SPD nach wie vor in der Arbeiterklasse verankert war und mit sozialen Reformen identifiziert wurde. ... Heute wäre das Festhalten an einer solchen Taktik verfehlt. Die SPD hat sich aus einer bürgerlichen Reformpartei vollkommen in eine rechte bürgerliche Partei verwandelt. Ein Aufruf zur Stimmabgabe für die SPD oder Forderungen an die SPD, die Macht zu übernehmen, würden unter diesen Umständen lediglich dazu beitragen, die Agonie dieser bankrotten Partei zu verlängern und die Arbeiterklasse daran hindern, die notwendige politische Neuorientierung durchzuführen.“ [126]

221. Zu den Gewerkschaften heißt es im selben Programm: „Die Zerstörung der Gewerkschaften durch die Bürokratie ist weit fortgeschritten, und jede Vorstellung, der Weg der Arbeiterklasse müsse sich durch die alten reformistischen Organisationen hindurch entwickeln, führt dazu, die Arbeiter an die Dreiviertelleiche der Gewerkschaften zu ketten.“ [127] In der jüngsten Wirtschaftskrise ist der reaktionäre Charakter der Gewerkschaften noch deutlicher in Erscheinung getreten. Während die Banken versuchen, die Folgen ihrer hemmungslosen Spekulationsgeschäfte auf die Arbeiterklasse abwälzen, stellen sich die Gewerkschaften offen auf ihre Seite und unterdrücken jede ernsthafte Mobilisierung der Arbeiterklasse. Sowohl die Rettungspakete für die Banken wie die Sparprogramme der Regierungen haben den Rückhalt der überwiegenden Mehrheit der Gewerkschaften gefunden. Die Offensive gegen diese Angriffe kann nur in einem systematischen Kampf gegen die gewerkschaftliche Bevormundung und Unterdrückung weiterentwickelt werden.

222. Nach der Auflösung der Sowjetunion unterzog das Internationale Komitee auch seine Haltung zu den nationalen Bewegungen und zum Selbstbestimmungsrecht der Nationen einer gründlichen Überprüfung. In dieser Zeit entwickelten sich zahlreiche nationalistische und separatistische Bewegungen, die einen eigenen Staat forderten. Multinationale Staaten, die unter den Bedingungen der Nachkriegsperiode relativ stabil gewesen waren, wurden von nationalen, ethnischen und religiösen Spannungen zerrissen, die die imperialistischen Mächte in der Regel im eigenen Interesse anheizten. So unterstützten Deutschland und die USA in den frühen 1990er Jahren die Auflösung Jugoslawiens, und die USA betrachteten die Aufteilung der Sowjetunion als Chance, ihren Einfluss in den Kaukasus und nach Zentralasien auszudehnen. Das Aufflammen separatistischer Bewegungen hatte aber auch objektive Gründe. Die Globalisierung gab „den objektiven Anstoß für einen neuen Typ nationalistischer Bewegungen, die die Zerstückelung bestehender Staaten anstreben. Das global mobile Kapital hat kleineren Regionen die Möglichkeit verschafft, sich direkt an den Weltmarkt anzubinden. Hongkong, Singapur und Taiwan sind zu einem neuen Entwicklungsmodell geworden. Eine kleine Küstenenklave, die über die entsprechenden Transportverbindungen, die Infrastruktur und ein Angebot an billigen Arbeitskräften verfügt, kann sich als attraktiver für das multinationale Kapital erweisen als ein großes Land mit einem weniger attraktiven Hinterland.“ [128]

223. Das Internationale Komitee nahm gegenüber diesen separatistischen Bewegungen eine äußerst kritische und ablehnende Haltung ein und stellte ihnen die internationale Einheit der Arbeiterklasse entgegen. Das Ziel dieser Bewegungen war nicht die Vereinigung verschiedener Völker in einem gemeinsamen Kampf gegen den Imperialismus, wie dies einst bei fortschrittlichen nationalen Bewegungen in Indien und China der Fall gewesen war, sondern die Aufspaltung bestehender Staaten im Interesse lokaler Ausbeuter. Sie verkörperten nicht die demokratischen Bestrebungen der unterdrückten Massen, sondern dienten dazu, die Arbeiterklasse zu spalten. Die stereotype Wiederholung der Losung „Für das Selbstbestimmungsrecht der Nationen“ konnte eine konkrete Analyse dieser Bewegungen nicht ersetzen. Das Internationale Komitee betonte: „In der Geschichte der marxistischen Bewegung ist es schon oft vorgekommen, dass Formulierungen und Losungen, die in einer Periode einen fortschrittlichen und revolutionären Inhalt hatten, in einer anderen Epoche eine völlig andere Bedeutung bekamen. Die nationale Selbstbestimmung ist so ein Fall. Das Recht auf Selbstbestimmung hat eine völlig neue Bedeutung bekommen im Vergleich zu der Definition, die Lenin ihm vor mehr als achtzig Jahren gab. Nicht nur die Marxisten fordern nun das Recht auf Selbstbestimmung, sondern auch die nationale Bourgeoisie in den rückständigen Ländern und die Imperialisten selbst.“ [129]

224. Die Klärung der Selbstbestimmungsforderung und der damit verbundene Kampf gegen den kleinbürgerlichen Nationalismus stärkten die internationalistischen Grundlagen der Vierten Internationale. Das Internationale Komitee grenzte sich damit deutlich von den zahlreichen ex-Linken und ex-Radikalen ab, die – wie auch die Grünen – im Namen des Selbstbestimmungsrechts das imperialistische Gemetzel auf dem Balkan und in anderen Weltregionen unterstützten. Die Analyse des Internationalen Komitees bestätigte, dass ein wirklich internationalistisches Programm für die Arbeiterklasse nur auf der Grundlage der Theorie der permanenten Revolution entwickelt werden kann.


[124]

David North, Das Ende der Sowjetunion und die Zukunft des Sozialismus, in: Vierte Internationale, Jg. 19, Nr. 1, S. 133

[125]

Sozialistische Perspektiven nach dem Zusammenbruch des Stalinismus. Programm des BSA, Arbeiterpresse Verlag Essen 1993, S. 88

[126]

Zitiert in: ebd., S. 83-84

[127]

ebd., S. 91-92

[128]

Globalisierung und internationale Arbeiterklasse. Eine marxistische Einschätzung. Erklärung des Internationalen Komitees der Vierten Internationale, 7. Nov. 1998, http://www.wsws.org/de/1998/nov1998/glob-n07.shtml

[129]

ebd.