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Socialist Equality Party
Die historischen und internationalen Grundlagen der Socialist Equality Party

Die Ursprünge des Stalinismus und die Gründung der Linken Opposition

40. Die Niederlage der deutschen Revolution 1923 trug dazu bei, die konservativen Strömungen zu stärken, die sich innerhalb des Sowjetstaats und der Parteibürokratie entwickelten. Diese Strömungen waren verstärkt aufgetreten, nachdem das Sowjetregime im Frühjahr 1921 die Neue Ökonomische Politik (NEP) eingeführt hatte. Die NEP ließ eine Wiederbelebung des kapitalistischen Marktes zu und machte bedeutende wirtschaftliche Zugeständnisse an kapitalistische Schichten in den Städten und auf dem Lande. Zweck dieser Zugeständnisse war es, die wirtschaftlichen Aktivitäten wiederzubeleben, die durch Revolutions- und Kriegsjahre weitgehend zum Erliegen gekommen waren. Während Lenin und Trotzki gehofft hatten, die Periode der Neuen Ökonomischen Politik würde von relativ kurzer Dauer sein – und der Sowjetunion helfen, die Zeit zu überbrücken, bis erneut international revolutionäre Kämpfe ausbrächen –, stärkte diese Politik konservative soziale Kräfte und veränderte die wirtschaftliche und politische Dynamik des sowjetischen Lebens. Diese Prozesse fanden ihren Widerhall in der Bolschewistischen Partei und untergruben Trotzkis Stellung in der Führung. In der herrschenden Schicht und der rasch wachsenden Partei- und Staatsbürokratie machten sich eine konservative Haltung und Selbstzufriedenheit breit, die immer offener politischen Ausdruck fand. Wie sich Trotzki in seiner Autobiografie erinnerte:

„,Aber doch nicht immer und nicht alles nur für die Revolution, man muss auch an sich denken‘ – diese Stimmung wurde übersetzt mit: ,Nieder mit der permanenten Revolution‘. Der Widerstand gegen die theoretischen Ansprüche des Marxismus und die politischen Ansprüche der Revolution nahm für diese Menschen allmählich die Form des Kampfes gegen den ,Trotzkismus‘ an. Unter dieser Flagge vollzog sich die Entfesselung des Kleinbürgers im Bolschewik. Darin eben bestand mein Verlust der Macht, und das ergab die Form, in der dieser Verlust erfolgte.“[29]

41. Die Angriffe auf Trotzki und die Theorie der Permanenten Revolution – die mit der Lüge begannen, „Trotzki unterschätzt die Bauernschaft“ – waren die politische Widerspiegelung der Feindschaft der Staats- und Parteibürokratie gegen das internationalistische Programm der Oktoberrevolution. Die wachsende politische Macht Stalins und die bürokratische Diktatur, die mit seinem Namen verbunden ist, war kein unvermeidliches Ergebnis der sozialistischen Revolution, sondern entwickelte sich aus den besonderen Widersprüchen eines Arbeiterstaates, der in einem rückständigen Land entstanden und durch das Scheitern der internationalen Revolution isoliert geblieben war. Die vom zaristischen Russland ererbte wirtschaftliche Rückständigkeit wurde durch die verheerenden Folgen von sieben Jahren imperialistischen Krieges (1914-17) und Bürgerkrieges (1918-21) verschärft. Diese Bedingungen bedeuteten eine enorme Belastung für den Aufbau der Sowjetwirtschaft. Auch hatte der Bürgerkrieg von der Arbeiterklasse und der Bolschewistischen Partei selbst einen enormen Tribut an Menschenleben gefordert. Zehntausende klassenbewusste Arbeiter, die hauptsächlich die Machteroberung der Bolschewiki unterstützt hatten, waren getötet worden. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Degeneration der Bolschewistischen Partei war die Einbindung eines großen Teils ihrer Kader in die wuchernde Staats- und Parteibürokratie. Langjährige Revolutionäre wurden zu Verwaltungsbeamten, und diese Veränderung wirkte sich mit der Zeit auf ihre politische Orientierung aus. Hinzu kam, dass die Nachfrage des neuen Staates nach ausgebildeten Verwaltungskräften die Rekrutierung vieler Menschen mit sich brachte, die in der Bürokratie des alten Regimes gearbeitet hatten. Diese Veränderungen in der staatlichen Struktur, der sozialen Funktion vieler „Altbolschewiki“ und der generellen Lage der Arbeiterklasse fanden schließlich einen politischen Ausdruck.

42. Wie Trotzki erklärte, war der aus Revolution und Bürgerkrieg hervorgegangene Sowjetstaat ein höchst widersprüchliches Phänomen. Als Produkt einer wirklichen Revolution der Arbeiterklasse, die die alte staatliche Struktur zerschlagen und die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse weitgehend abgeschafft hatte, gründete sich der neue Staat auf neue Eigentumsverhältnisse, die auf staatlicher Kontrolle über das Finanzwesen und dem Staatseigentum an den Produktionsmitteln beruhten. In dieser Hinsicht war das neue Regime, das aus der Oktoberrevolution hervorgegangen war, ein Arbeiterstaat. Aber es gab auch eine andere Seite: Bedingt durch den niedrigen Stand der Produktivkräfte und des vorherrschenden „allgemeinen Mangels“ war dieser neue Staat durch eine bürgerliche – d.h. ungleiche – Verteilung der Güter geprägt. Dieser grundlegende Widerspruch zwischen der sozialistischen Form der Eigentumsverhältnisse und der bürgerlichen Form der Verteilung verlieh dem Sowjetregime seine besondere und zunehmend repressive Gestalt.

43. Trotzki und seine Anhänger – darunter viele der wichtigsten Führer der russischen Revolution – bildeten 1923 die Linke Opposition, um die Politik der Kommunistischen Partei in der Sowjetunion zu reformieren und für eine richtige Linie in der Kommunistischen Internationale zu kämpfen. Anhänger der Linken Opposition prangerten den Verfall der innerparteilichen Demokratie an und befürworteten eine Wirtschaftspolitik, die ein größeres Gewicht auf die Entwicklung der staatlichen Industrie legte, um die sozialistische Planung zu stärken und die Preise für Industriegüter zu senken. Die Stalin-Fraktion dagegen trieb die Marktliberalisierung voran, wobei sie die Bedürfnisse der besser gestellten Bauernschaft (Kulaken) im Auge hatte, und begrenzte die Entwicklung des staatlichen Sektors und der wirtschaftlichen Planung. Mit Lenins Erkrankung und seinem Tod im Januar 1924 nahm der Einfluss der von Stalin geführten Fraktion zu. In seinen letzten schriftlichen Äußerungen hatte Lenin vor der wachsenden Bürokratisierung der Kommunistischen Partei gewarnt und die Ablösung Stalins als Generalsekretär gefordert.


[29]

Leo Trotzki, Mein Leben, Fischer Taschenbuch Verlag, Berlin 1974, S. 434