Rechtzeitig zum Regierungswechsel sind in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung zwei Studien über die sozialen Auswirkungen des VW-Modells erschienen.
Die eine, "Weniger Geld, kürzere Arbeitzeit, sichere Jobs?", wurde 1997 veröffentlicht und untersucht die Ergebnisse der seit 1994 bei VW praktizierten Vier-Tage-, bzw. 28,8-Stunden-Woche. Die zweite, "Kommunale Zeitpolitik", stammt aus diesem Jahr und vergleicht das soziale Leben in der VW-Stadt Wolfsburg mit jenem in Karlsruhe, Bonn oder Münster.
Beide Studien werfen ein verheerendes Licht auf ein Modell, das von SPD und Gewerkschaften stets als ideale Lösung zur Sicherung von Arbeitsplätzen gepriesen wurde, und das auch der künftigen Bundesregierung als Vorbild dient, gehören doch Kanzler Schröder und Arbeitsminister Riester zu seinen Vätern. Schröder hatte als niedersächsischer Ministerpräsident im VW-Aufsichtsrat den Ton angegeben, Riester jahrelang für die Tarifpolitik der IG Metall verantwortlich gezeichnet.
Für den Konzern war die Verkürzung der Arbeitszeit ohne Lohnausgleich ein durchschlagender Erfolg. Schon ein halbes Jahr nach ihrer Einführung zogen die Gewinne wieder an, die Produktion stieg auf zwei Millionen Fahrzeuge pro Semester. Bis 1998 konnte die Produktion auf 3,5 Millionen Fahrzeuge gesteigert werden, und in den letzten zwei Jahren konnte Volkswagen seine Rückstellungen um acht Milliarden - von 28 auf 36 Milliarden DM - erhöhen.
Durch die weitgehende Flexibilisierung, die mit der Arbeitszeitverkürzung einherging, erhielt der Konzern eine rund um die Uhr verfügbare Belegschaft, deren Arbeitszeiten paßgenau den Schwankungen des Arbeitsanfalls folgen. Volkswagen wurde zur "atmenden Fabrik". So ließen sich Kosten für Lagerhaltung und Leerzeiten nahezu vermeiden.
Aber je besser die Fabrik "atmen" konnte, desto mehr wurde den Arbeiterfamilien die Luft abgeschnürt. Dies gilt auch für die Beschäftigten der Zulieferbetriebe und der Dienstleistungsfirmen rings um die Volkswagenwerke. Eine Befragungen, die anderthalb Jahre nach Einführung der Vier-Tage-Woche durchgeführt wurde, ergab, daß 86 Prozent der Beschäftigten der Ansicht waren, die Arbeitszeitverkürzung habe zu einer Leistungsverdichtung geführt. Besonders die Angestellten sprachen von einer Zunahme von Streß und Leistungsdruck. ("Weniger Geld, kürzere Arbeitszeit, sichere Jobs?")
Parallel zur Arbeitszeitverkürzung waren auch noch umfangreiche Rationalisierungsmaßnahmen eingeführt worden, werksintern "KVP-Quadrat" ("Kontinuierlicher Verbesserungsprozeß hoch zwei") genannt. Typisch für die zunehmende Arbeitshetze ist hier die Aussage eines Meisters: "Diese Hektik, die gab's früher nicht so... Ich weiß nicht, ob das [die Rationalisierungen] immer der richtige Weg ist... Es darf nicht so ausarten, daß man nur unter Streß steht, ne... Streß ist für keinen von uns gut. Wir wollen alle mal unsere Rente bekommen." (S.156)
Soziale Auswirkungen
Die Verbindung von mehr Streß, unregelmäßigen Arbeitszeiten und niedrigeren Löhnen hatte weitreichende Konsequenzen für das Leben der Familien und das soziale Gefüge der Kommunen.
Das zeigt sich besonders deutlich in Wolfsburg, wo der VW-Betrieb dominanter Arbeitgeber ist. Der einheitliche Rhythmus der Normal- und Wechselschichten, der früher das Leben der Stadt weitgehend geprägt hatte, wurde in über 150 unterschiedliche Arbeitszeitmodelle aufgelöst. Es gibt Beschäftigte, die vier Tage die Woche, dreimal vier Tage und einmal fünf Tage, Gleitzeit, Normalschicht oder im Zwei-Schicht-Rhythmus arbeiten, es wird Feiertags, an Wochenenden und nachts gearbeitet.
Die Studie "Kommunale Zeitpolitik" zeigt auf, daß der einzige Vorteil des VW-Modells für die Beschäftigten, der größere Zeitgewinn, vielen von ihnen unter den Händen zerrinnt. Zunächst führt die Leistungsverdichtung am Arbeitsplatz dazu, daß nach Schicht- oder Dienstende mehr Zeit für die Erholung benötigt wird. Zudem stellen häufig wechselnde Schichtpläne größere Anforderungen an die Koordinierung des Zusammenlebens: Die Freizeit von Familienmitgliedern, Freunden und Bekannten stimmt nicht überein. Außerdem kann ein Teil der durch Arbeitszeitverkürzung gewonnen Zeit nur schlecht genutzt werden, da er als "tote Zeit" gilt: Wartezeiten, durch unterschiedliche Schichten zerstückelte Zeiten oder Freizeit, über die man nicht verfügen kann, weil sie wieder mit Sonderschichten belegt wird.
Der Spiegel machte in einem Artikel Ende September ("Turbulenzen in Wolfsburg") darauf aufmerksam, daß die Scheidungsrate in Wolfsburg seit Einführung der Vier-Tage-Woche stark angestiegen ist. Obwohl Der Spiegel zu hohe Zahlen anführt, zeigen auch die vom niedersächsischen Landesamt für Statistik offiziell bestätigten Zahlen, daß nach Einführung der "atmenden Fabrik" überdurchschnittlich viele Ehen in die Brüche gingen: Waren es 1994 noch 256 Scheidungen, so stieg die Zahl 1996 auf 344 geschiedene Ehen - eine Zunahme um über dreißig Prozent in zwei Jahren.
Familien mit mehreren berufstätigen Mitgliedern stehen vor dem Problem, ihre unterschiedlichen Arbeitszeiten zu koordinieren. Dabei sind besonders kleine Kinder die Leidtragenden. So heißt es in der Studie "Kommunale Zeitpolitik": "Die Zeiten einer mehrköpfigen Familie sind immer seltener deckungsgleich. ,Pinnbrett-Familien‘ sind ein Phänomen dieser Entwicklung... Beispiel Kinderbetreuung: Je flexibler und damit unplanbarer Zeit für die Eltern wird, desto schwieriger ist die Erhaltung einer konstanten Betreuung. Kinder brauchen feste Zeiten, so wie sie einen festen Kreis von Bezugspersonen brauchen... Je weiter sich die Zeiten ausdifferenzieren, desto schwieriger wird es auch, einen Betreuungsplatz zu finden. Wer nach 18 Uhr arbeiten muß, steht vor dem Problem, diese Betreuungszeiten kindgerecht abzudecken. Wenn dies nicht in Familie, Nachbarschaft und Freundeskreis möglich ist, müssen Betreuungsleistungen am Markt eingekauft werden - ein Beispiel für die Externalisierung von Zeitkosten." (Externalisierung - Verschiebung der Zeitkosten aus dem Werk heraus auf die Schultern der Beschäftigten; S. 194)
Auffällig ist auch, daß in Wolfsburg das Bildungsangebot in der Freizeit nicht mehr, sondern weniger genutzt wird. Obwohl die Volkshochschule ihr Angebot ausgeweitet hat und mehr Themen anbietet, klagt sie über abnehmende Teilnehmerzahlen und unregelmäßige Besuche. Auch die Besucherzahlen der Bibliothek sind rückläufig (was jedoch auch auf Sparmaßnahmen der Stadt Wolfsburg zurückzuführen ist). Wie die Bibliothekare berichten, waren "nach Einführung des ,VW-Modells‘ zunächst auch häufiger ganze Familien in die Kinderbibliothek gekommen... Dieser Trend ist inzwischen jedoch wieder rückläufig. Der Samstag weist nun eine andere Nutzerstruktur auf als zuvor: Es dominieren die Berufstätigen mit speziellen Recherchewünschen (z.B. Rechts- oder Steuerfragen) und die Stellensuchenden, die hier die überregionalen Stellenangebote studieren." (S.90-91).
Die einzige Sparte, die einen Boom zu verzeichnen hat, sind Baumärkte und Hobbyzentren für Heimwerker. Wenn mehr Freizeit zur Verfügung steht, aber das Geld immer knapper wird, stehen Renovierungen und handwerkliche Nebentätigkeiten hoch im Kurs. Dafür verzeichnen Sport- und andere Vereine ständig rückläufige Zahlen, vor allem weil die regelmäßigen Zeiten für Training und Versammlungen nicht eingehalten werden können. Nur die privaten Fitneß-Studios freuen sich über mehr Zulauf. "Es ist, ausgelöst durch die Aufhebung fester Schichtarbeitsblöcke und die gesunkene Planbarkeit von Freizeit, schwieriger geworden, etwa elf Fußballer auf einem Trainigsplatz oder 22 Spieler auf einem Spielfeld in zeitlicher Hinsicht zu koordinieren - nicht zu sprechen vom Schiedsrichter, den Trainern und Ersatzspielern." (S.89)
Trotz der zusätzlichen Freizeit gehen die Automobilarbeiter weniger ins Restaurant, sie schränken Konzert- und Theaterbesuche ein und unternehmen weniger Reisen als vorher. Ein Angestellter von VW erklärte, warum: "Denn Freizeit kostet Geld, effektiv. Nur dann nicht, wenn ich sie verschlafe oder im Garten Unkraut rupfe. Das sind die einzigen Möglichkeiten... Aber sonst kostet mehr Freizeit immer Geld." ("Weniger Geld, kürzere Arbeitszeit, sichere Jobs?" S.83)
Die Auswirkungen im öffentlichen Bereich fallen besonders im Straßenverkehr ins Auge: Nicht nur haben sich die meisten PKW-Fahrgemeinschaften aufgelöst, sondern auch der öffentliche Personennahverkehr hat drastische Einbussen zu verzeichnen: "Die ,Fahrgemeinschaft Bus‘ zerbrach ebenso wie viele private Fahrgemeinschaften. Die Zahl der Abonnenten sank nach Einführung des ,VW-Modells‘ von 7.000 (1992) auf 3.000 (1996), ganze Berufsverkehrslinien wurden eingestellt, 25 Busfahrer mußten umgesetzt werden." (S. 195) Die Stadtwerke hätten den gesamten Busbetrieb umstellen und zahlreiche Kleinbusse häufiger einsetzen müssen, aber das Geld fehlte, um den Fuhrpark entsprechen zu erweitern. Heute fahren 71 Prozent der VW-Beschäftigten wieder im Privat-PKW zur Arbeit. Wer kein Auto besitzt, muß lange und beschwerliche Wege in Kauf nehmen.
Finanzielle Auswirkungen
Die Studie "Weniger Geld, kürzere Arbeitszeit, sichere Jobs?" vermittelt unter anderem ein konkreteres Bild der finanziellen Auswirkungen des VW-Modells. Sie wertet schriftliche Fragebogen und mündliche Interviews aus. Die Befragung fand anderthalb Jahre nach Einführung der Vier-Tage-Woche statt.
Wie zu erwarten war, sank mit der 16-prozentigen jährlichen Lohn- und Gehaltseinbuße bei der überwältigenden Mehrheit, nämlich bei 87 Prozent der Familien, auch das Haushaltseinkommen; nur zwölf Prozent konnten den Verlust durch Überstunden oder Berufstätigkeit anderer Familienmitglieder wettmachen; gerade mal jeder fünfzigste Haushalt war in der Lage, das Einkommen 1994 oder 1995 zu steigern. Von den VW-Beschäftigten, die den tariflichen Einkommensverlust kompensieren konnten, gaben 45 Prozent an, deutlich häufiger als früher Mehrarbeit oder Sonderschichten zu leisten.
43 Prozent der VW-Beschäftigten hielten den aus der Arbeitszeitverkürzung resultierenden finanziellen Aderlaß als "schwer verkraftbar" oder "sehr schwer verkraftbar", 51 Prozent antworteten mit "teils/teils" und nur sechs Prozent gaben an, sie könnten die finanziellen Einschränkungen leicht verkraften. Bei den Arbeitern, deren Einkommen unter 3500 DM liegt, fanden 51 Prozent die Einbuße "schwer", bzw. "sehr schwer verkraftbar", wobei die finanziellen Einschränkungen desto schwerer wiegen, je mehr Kinder im Haushalt leben. Die Antwort eines VW-Angestellten kann hier für viele gelten: "Ich bezeichne mein Gehalt als gesicherte Armut - bei meinen drei Kindern." (S. 78)
Wie unhaltbar die Situation auf Dauer ist, zeigte die Aussage eines guten Viertels aller Befragten, daß sie die Einkommensverluste durch Rückgriff auf Erspartes überbrückten. 1995 war es offensichtlich für einige noch möglich, auf die hohe Kante zurückzugreifen. Andere äußerten große finanzielle Sorgen, da sie ein eigenes Haus hätten und dieses noch abzahlen müßten. Fast alle antworteten auf die Frage, wie sie mit dem Einkommensverzicht umgingen, als erstes mit "Reduzierung der Ausgaben" - in erster Linie für Urlaub, Auto oder Freizeit - zweitens dadurch, daß sie darauf verzichteten, etwas anzusparen, und drittens gaben sie an, den Lohnausfall durch vermehrte Eigenarbeit zu kompensieren.
Zehn Prozent der Befragten gaben an, daß sie Schulden machen mußten. Die AWO-Schuldnerberatung in Wolfsburg erklärte dazu, daß sie "im Zuge der Einführung der 28,8-Stunden-Woche bei VW in Wolfsburg einen steigenden Beratungsbedarf" habe. Die durchschnittliche Pro-Kopf-Verschuldung lag bei ca. 20.000 DM. Die Klienten der AWO-Schuldnerberatung sind "im Schnitt in einer Höhe zwischen 50.000 und 100.000 DM verschuldet. Die Zahl der stark Verschuldeten, die Beratung nachfragen, steigt kontinuierlich... Das Hauptklientel der Schuldnerberatung rekrutierte sich aus den VW-Beschäftigten... Auf die Forderung der Schuldenberatung, einen eigenen Berater einzustellen, hat das Werk bisher nicht reagiert." (S.185-86)
Bei den Befragungen, die 1995 durchgeführt wurden, mag zunächst die relativ große Akzeptanz des VW-Modells bei den Beschäftigten ins Auge fallen: Fast jeder zweite (49 Prozent) äußerte sich "zufrieden" oder "sehr zufrieden" mit der neuen Regelung. Der Grund dafür wird jedoch schnell sichtbar: Angesichts dem über VW hängenden Damoklesschwert von drohenden 30.000 Entlassungen hofften die Arbeiter, durch solidarischen Lohnverzicht die Arbeitsplätze der ganzen Belegschaft auf Dauer erhalten zu können. Fast drei Viertel aller Volkswagen-Beschäftigten erklärten, für sie bestehe der wichtigste Vorteil des neuen Zeitmodells darin, daß "Arbeitsplätze gesichert werden". Zudem gingen sie im allgemeinen davon aus, daß die Regelung vorübergehend sei und sie spätestens nach zwei Jahren mindestens ihr altes Einkommen wieder zurückbekommen würden. Eine Ausnahme bildeten die alleinerziehenden Mütter, die die Arbeitszeitverkürzung zu hundert Prozent begrüßten - aber gewiß nicht, weil sie besser mit dem Lohnverzicht zurechtkommen, sondern weil sie durchwegs "mehr Zeit" als ihr wichtigstes Bedürfnis sahen.
Eine heutige Umfrage könnte ziemlich andere Ergebnisse hervorbringen. Es wird immer deutlicher, daß es der Volkswagen AG und der IG Metall mit ihrem VW-Modell der "atmenden Fabrik" nicht darum ging, Arbeitsplätze auf Dauer zu sichern, sondern die vorhandenen und ausgebildeten Arbeitskräfte rund um die Uhr den Erfordernissen des Marktes unterzuordnen und gleichzeitig soziale Konflikte zu vermeiden. Die garantierte Regelarbeitszeit wird wesentlich schlechter bezahlt, ist aber rund um die Uhr verfügbar. Immer mehr Sozialleistungen fallen weg. Während Arbeitszeitverkürzung schon zur normalen Dauereinrichtung geworden ist, kombiniert man sie zunehmend mit Überstunden (ohne Zuschläge) und Sonderschichten, wodurch Volkswagen Neueinstellungen vermeiden kann. Die Arbeitslosigkeit liegt in Wolfsburg seit fünf Jahren zwischen 18 und zwanzig Prozent. Inzwischen gibt es sogar eine VW-interne Beschäftigungsgesellschaft, die GIZ (Gründungs- und Innovationszentrum Wolfsburg GmbH), die sich an keine Tarife halten muß, und die ihre Beschäftigten beliebig von Werk zu Werk in der ganzen Bundesrepublik herumschieben kann. Sie gehört der Volkswagen AG, dem Land Niedersachsen und der IG Metall und zahlt für werksinterne Arbeiten um ein Drittel niedrigere Löhne.