Lehren aus der Geschichte

Die amerikanischen Wahlen und der neue, "unüberbrückbare Konflikt"

Folgender Vortrag wurde von David North, dem Chefredakteur des World Socialist Web Site und nationalen Sekretär der amerikanischen Socialist Equality Party, im Dezember 2000 auf einer Versammlung der australischen SEP in Sydney gehalten.

Wie ihr wisst, war diese Versammlung ursprünglich dazu bestimmt, den sechzigsten Jahrestag von Trotzkis Ermordung zu begehen. Die Entscheidung, das Thema zu wechseln, wurde nicht leichtfertig getroffen. Ich wollte diese Gelegenheit nicht nur dazu benutzen, die nachhaltige Bedeutung von Trotzkis theoretischem und politischem Vermächtnis herauszustreichen, sondern gleichzeitig die These vertreten, dass die Geschichte am Ende die Rolle Trotzkis als größter revolutionärer Führer und Denker des zwanzigsten Jahrhunderts bestätigen wird.

Der Themenwechsel sollte in keiner Weise nahe legen, dass das Internationale Komitee der Vierten Internationale die Bedeutung der historischen Grundlagen unserer Bewegung geringer bewertet sehen möchte - am wenigsten die zentrale Bedeutung seines ständigen Kampfes zur Klärung der großen strategischen Lehren des Jahrhundert, das bald seinen letzten Monat vollendet haben wird.

Aber das, was ich über Trotzkis Leben und Vermächtnis sagen wollte, kann verschoben werden. Die Ereignisse, die sich jetzt in den Vereinigten Staaten entfalten, sind dagegen von so ungeheurer, internationaler politischer Bedeutung, dass es unserer Meinung nach ein ernster Fehler wäre, die Gelegenheit dieses Treffens nicht zu nutzen um die Krise zu diskutieren, die sich aus den Wahlen vom 7. November 2000 entwickelt hat. Ich glaube, dass Trotzki dem auch zugestimmt hätte. Es war charakteristisch für seine Arbeitsweise, dass er die Ereignisse, in denen die Widersprüche des Weltkapitalismus ihren entwickeltsten Ausdruck fanden, stets identifizierte und die Aufmerksamkeit der Marxisten und politisch fortgeschrittenen Teile der Arbeiterklasse auf sie richtete.

Im November 1931 bezeichnete Trotzki die Ereignisse in Deutschland, wo der Kampf zwischen der Arbeiterklasse und dem aufsteigenden Faschismus in sein entscheidendes Stadium eintrat, als "Schlüssel zur internationalen Lage". Er schrieb: "In welche Richtung sich die Lösung der deutschen Krise entwickeln wird, davon wird auf viele, viele Jahre hinaus nicht nur das Schicksal Deutschlands selbst, sondern das Schicksal Europas, das Schicksal der ganzen Welt abhängen." (Leo Trotzki, Porträt des Nationalsozialismus, Essen 1999, S. 44)

Ohne in irgend einer Weise eine einfache Analogie zwischen den Bedingungen in Deutschland von 1931 und denen, die heute in den Vereinigten Staaten existieren, ziehen zu wollen, ist es notwendig, die enorme Bedeutung der amerikanischen Krise in das Bewusstsein der internationalen Arbeiterklasse zu rücken. Schließlich gibt es in keinem Land der Welt größere Illusionen in die Stabilität und Macht des Kapitalismus.

Die Illusionen über die Dauerhaftigkeit des Systems, die in den Vereinigten Staaten existieren, finden auf der ganzen Welt einen Wiederhall. Kein Land wird so sehr als Modell für die Macht des Markts und die Macht des Kapitals angesehen. Die USA sind im Kopf von Millionen von Menschen immer noch das Land der Demokratie, das Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Und wie viele, die sich als Kritiker des amerikanischen Imperialismus betrachten, glauben ernsthaft, dass es in dieser Bastion des Weltkapitalismus jemals eine Krise geben könnte, die die Stabilität des gesamten Systems in Frage stellt?

Ich will euch nicht zu nahe treten, aber wer von euch - selbst wenn ihr großes Vertrauen in die Arbeit des IKVI setzt - hätte mir vor wenigen Monaten geglaubt, dass die Vereinigten Staaten in eine derart enorme, derart grundlegende politische Krise geworfen werden, die ihr gesamtes Regierungssystem in Frage stellt? Und dennoch, nur ein Monat nach einer Wahl, die sich so gründlich von jenen des zwanzigsten Jahrhunderts unterschied, ist es nicht mehr undenkbar, dass das politische System der Vereinigten Staaten einen dramatischen und völlig unerwarteten Wandel erlebt.

Der Beginn einer revolutionären Krise in der stärksten Bastion des Weltkapitalismus - und das ist die wesentliche Bedeutung der gegenwärtigen Entwicklung - hat einen Faktor außerordentlicher und beinahe unkalkulierbarer Größe in die Weltsituation eingeführt. Über Nacht sind die politischen Strategen und ökonomischen Theoretiker der herrschenden Klasse jedes Landes, eingeschlossen Australiens, plötzlich mit einer Tatsache konfrontiert, die sie noch vor vier Wochen für unvorstellbar gehalten hätten: der politischen Destabilisierung und dem möglichen Kollaps der Regierungsstrukturen der Vereinigten Staaten - in der ganzen Welt bekannt als "die letzte Supermacht der Welt".

Einer der hervorstechendsten Züge einer wirklichen Krise ist, dass sie in der Regel unerwartet ausbricht und kaum vorhersehbare Formen annimmt. Das bedeutet nicht, dass niemand eine Krise vorhergesehen hat. Zumindest eine Publikation hat in ihren politischen Analysen stets darauf bestanden, dass die politischen Strukturen der Vereinigten Staaten nahezu funktionsunfähig sind - das war das World Socialist Web Site.

Schon im Dezember 1998, als die Auseinandersetzung um die Amtsenthebung Clintons ihrem Höhepunkt zustrebte, warnte das WSWS, dass der wilde Kampf zwischen Kongress und Weißem Haus das Omen eines heraufziehenden Bürgerkriegs sei. Aber damals war das WSWS ein Rufer in der Wüste und erhielt selbst von einigen Unterstützern kritische Briefe, die ihm Übertreibung vorwarfen.

Die Wahlkrise

Am 7. November 2000 gingen etwa hundert Millionen Amerikaner - ungefähr die Hälfte der Wahlberechtigten - nach einem selbst für amerikanische Verhältnisse mehr oder weniger ereignislosen Wahlkampf an die Urnen. Es hatte in den letzten Wochen Voraussagen gegeben, dass das Ergebnis knapp werden könne, aber niemand war auf das gefasst, was dann tatsächlich stattfand.

Die meisten Kommentatoren hatten einen Sieg Bushs vorausgesagt, aber in den ersten Stunden nach der Schließung der Wahllokale wurde klar, dass Gore und die Demokraten in beinahe allen wichtigen, industrialisierten Staaten wesentlich besser als erwartet abgeschnitten hatten. Umstrittene Staaten, aus denen sich Hinweise auf das Endergebnis ableiten ließen, gingen überwiegend an die Demokraten. Pennsylvania und Michigan, wo ein äußerst knappes Ergebnis erwartet worden war, entschieden sich mit deutlichen Margen für die Demokraten.

Aber die größte Überraschung war die relativ frühe Bekanntgabe in den Medien, dass Al Gore Florida gewonnen habe. Um 21 Uhr schien es so, als habe der Vizepräsident die Präsidentschaft gewonnen.

Dann setzte eine äußerst seltsame Serie von Ereignissen ein. Es gibt in der amerikanischen Politik bestimmte Traditionen. Eine davon ist, dass die Präsidentschaftskandidaten in der Wahlnacht nicht an die Öffentlichkeit treten, es sei denn, um sich zum Sieger zu erklären oder die Niederlage einzugestehen. Aber nachdem die Fernsehsender auf der Grundlage von normalerweise sehr genauen Ergebnissen der Wählerbefragung bekannt gegeben hatten, dass Florida an Gore gegangen sei, berief der texanische Gouverneur Bush eine spontane Pressekonferenz auf seinem Landsitz ein. Er erklärte ganz ruhig und zuversichtlich, dass trotz der Vorhersagen der Fernsehsender, er letztendlich Florida gewinnen werde.

Bushs Auftreten und Kommentar hinterließ einen äußerst seltsamen Eindruck. Wie ich schon sagte, die Pressekonferenz war ein Bruch mit dem traditionellen Protokoll der Wahlnacht. Mehr noch: Bush ging nicht nur frühzeitig und spontan an die Öffentlichkeit, um die Einschätzung der Fernsehsender über die Wählerbefragung in Florida in Zweifel zu ziehen, es wurde auch berichtet, dass hohe Vertreter von Bushs Wahlteam enormen Druck auf die Sender ausübten und forderten, dass sie ihren Zuschlag von Florida an Gore zurücknähmen.

Warum das wichtig war, zeigte sich später. Der politische Vorteil, den Bush in den folgenden Tagen hatte, stützte sich beinahe ausschließlich auf die Tatsache, dass am Ende die Fernsehsender Florida Bush zugesprochen und in der Öffentlichkeit den Eindruck erzeugt hatten, dass er die Wahl gewonnen habe, egal was an Streitereien noch folgte.

Jedenfalls wurde kurz nach Bushs Pressekonferenz Florida Gore abgesprochen. Einige Stunden später wurde Florida Bush zugesprochen. Und um etwa zwei Uhr oder zwei Uhr dreißig entschied Gore auf der Grundlage der von den Fernsehsendern veröffentlichten Hochrechnungen, seine Wahlniederlage einzugestehen.

Gore rief Bush an, wünschte ihm alles Gute und sagte, er mache sich auf den Weg, um seine Niederlage öffentlich einzugestehen. Dann geschahen ganz außergewöhnliche Dinge. Als Gore schon auf dem Weg zu seiner Rede war, begann der Abstand zwischen dem Stimmanteil Bushs und Gores in Florida, der sich bereits verringert hatte, drastisch zu sinken. Verzweifelte Helfer des Vizepräsidenten kontaktierten Gores Wagenkolonne via Autotelefon, informierten ihn über diesen Umstand und drängten ihn, das Eingeständnis seiner Niederlage zurückzuziehen. Offensichtlich gab es zwischen der Wagenkolonne und dem Wahlkampfhauptquartier Streit. Schließlich wurde Gore überzeugt, und er wies seinen Fahrer an, umzukehren, und begab sich wieder in sein Hotel. Dann rief er Bush an und informierte ihn, dass er das Eingeständnis seiner Niederlage zurückziehe. So etwas hatte es noch nie gegeben. Im Morgengrauen des 8. November war das einzige, was wirklich klar war, dass niemand genau wusste, wer die Wahl nun gewonnen hatte.

Diese Nacht leitete eine ganze Kette von Ereignissen ein, die in der Geschichte der Vereinigten Staaten ohne Beispiel sind. Während Bush darauf bestand, dass er um einige hundert Stimmen in Führung liege, bei insgesamt sechs Millionen Stimmen in Florida und hundert Millionen in den USA - wobei Gore die Mehrheit aller Stimmen insgesamt erhalten hatte -, sickerten immer mehr Berichte über Unregelmäßigkeiten bei den Wahlen in Florida durch. Aus irgend einem Grund hatten, wie sich zeigte, Tausende von Juden in Palm Beach für den notorisch antisemitischen Pat Buchanan gestimmt. Ein politischer Witzbold meinte, dies sei vermutlich darauf zurückzuführen, dass Buchanans jüngstes Buch, worin er Hitler lobt, sie so elektrisiert habe. Es gab Berichte, dass afro-amerikanische Wähler von der Staatspolizei am Zugang zum Stimmlokal gehindert worden waren. In überwiegend demokratischen Bezirken wiesen Tausende von Stimmzetteln keine Eintragung für die Präsidentschaftswahl auf.

Dies leitete einen langen und langwierigen Kampf um das Auszählen der Stimmzettel ein. Daraus entwickelte sich ein politischer Kampf, der mit wachsender Erbitterung vorwiegend in den Gerichtssälen ausgefochten wurde, bis hin zum Hearing vom vergangenen Freitag, dem 1. Dezember, vor dem Obersten Gerichtshof der USA.

Während die Gerichte der Hauptschauplatz der Auseinandersetzung bildeten, kamen auch ein von der republikanischen Partei angeheuerter Mob zur Einschüchterung von Wahlhelfern zum Einsatz und die Republikaner appellierten offen an das Militär. Laut einem Bericht musste ein hoher Militär die Offiziere daran erinnern, dass es ihnen der Verhaltenskodex des Militärs verbietet, sich in die Politik einzumischen.

Es ist ziemlich offensichtlich geworden - und ich glaube, niemand wird das ernsthaft bestreiten - dass eine vollständige und genaue Zählung der abgegebenen Stimmen in Florida Gore zum Sieger in diesem Staat und deswegen auch in der nationalen Wahl machen würde. Die Anstrengungen der republikanischen Partei, die von den meisten Medien unterstützt werden, konzentrieren sich darauf, eine solche Zählung zu verhindern.

Im Moment sind alle Augen auf den Obersten Gerichtshof der USA gerichtet, der eine Entscheidung über den Einspruch Bushs gegen ein Urteil des Obersten Gerichtshofs von Florida treffen muss, der die ursprüngliche Bestätigung von Bushs zweifelhaftem Sieg durch die Innenministerin von Florida, Katherine Harris, zurückgewiesen hatte. Sie steht im Dienste der Republikaner und war die stellvertretende Leiterin des Wahlkampfteams von Bush in Florida.

Selbst als klar geworden war, dass Tausende Stimmen noch gezählt werden mussten und viele Fragen ungeklärt waren, hatte Harris darauf bestanden, Bushs Wahlsieg zu proklamieren. Dagegen war vor dem Obersten Gerichtshof von Florida Einspruch erhoben worden, der im letzten Moment Harris daran hinderte, Bushs Sieg endgültig festzustellen.

Die juristische Lage war folgende: Es gibt in Florida zwei unterschiedliche gesetzliche Bestimmungen. Die eine sagt, dass das Stimmergebnis bis zu einem bestimmten Tag eingereicht werden müsse. Die andere sagt, dass es das Recht auf eine Wiederholung der Zählung gibt. Keine der beiden Bestimmungen ist besonders gut formuliert, was im Gesetzgebungsverfahren öfter vorkommt. Und eine der Aufgaben von Gerichten ist es, die Handhabung von sich widersprechenden gesetzlichen Bestimmungen festzulegen. Die Innenministerin hat die gesetzliche Möglichkeit, bei der Abgabefrist einen gewissen Spielraum zu gewähren - und alle Faktoren in Betracht zu ziehen, anstatt sich blind an ein Datum zu klammern.

Die Frage war dem Obersten Gerichtshof von Florida vorgelegt worden, der die Entscheidung der Innenministerin mit der Begründung außer Kraft setzte, die technische Frage der Abgabefrist werde von grundlegenden Erwägungen demokratischer Natur überlagert. Das Gericht berief sich auf die Menschenrechtserklärung in der Verfassung von Florida, laut der das Volk über Grundrechte verfügt, die vom Staat nicht eingeschränkt werden dürfen. Die Obersten Richter Floridas stellten fest: "Das Wahlrecht ist das überragende Recht in der Menschenrechtserklärung, denn ohne diese grundlegende Freiheit würden alle anderen abgewertet." Harris‘ Weigerung, die Festellung des Wahlergebnisses zu verschieben, um eine ordentliche Zählung der umstrittenen Wahlzettel zu ermöglichen, sei ein willkürlicher Missbrauch ihrer Befugnisse als Staatsbeamtin und deswegen eine Verletzung der Verfassung Floridas.

Dieses Urteil wird gegenwärtig vom Obersten Gerichtshof der USA überprüft. Während ein Urteil für Gore, das den Obersten Gerichtshof von Florida bestätigen würde, nicht notwendigerweise seinen Wahlsieg bedeutete, würde ein Urteil gegen ihn beinahe mit Sicherheit den Prozess zum Abschluss bringen und die Amtsübernahme Bushs garantieren.

Die Entscheidung dieses Gerichts wird zeigen, wie weit die amerikanische herrschende Klasse bereit ist, die traditionellen, bürgerlich demokratischen und verfassungsmäßigen Normen zu brechen. Ist sie bereit, Wahlfälschung zu sanktionieren, Stimmen zu unterdrücken und einen Kandidaten ins Weiße Haus zu bringen, der das Amt durch offensichtlich illegale und antidemokratische Methoden errungen hat?

Ein beträchtlicher Teil der Bourgeoisie und vielleicht sogar die Mehrheit des Obersten Gerichtshofs ist bereit, genau das zu tun. Die Unterstützung für die traditionellen Formen bürgerlicher Demokratie in den Vereinigten Staaten hat in der herrschenden Elite einen dramatischen Erosionsprozess erlitten.

Ein Kommentator brachte den Zynismus, der in den herrschenden Kreisen gegenüber der Demokratie existiert, auf den Punkt: "Ja", schrieb er, "Gore hat wahrscheinlich mehr Stimmen bekommen, aber wen kümmert das? Gore wurde in Florida beraubt, aber die örtlichen Bullen interessiert das nicht."

Der Charakter der Krise

Ungeachtet der beispiellosen Ereignisse der letzten drei Wochen und obwohl das ihrem Handeln direkt widerspricht, tun die politischen Führer und die Medien weiter so, als ob die Vereinigten Staaten sich nicht mitten in einer schweren Verfassungskrise befänden. Die Öffentlichkeit soll glauben gemacht werden, dass die Lage in Amerika zwar verzweifelt ist, aber nicht ernst. Diese Verbreitung politischer Sorglosigkeit legt im Interessen der herrschenden Elite, die ihre politischen Ziele soweit wie möglich hinter dem Rücken der Bevölkerung zu verfolgen versucht.

Diese Sorglosigkeit spiegelt sich nicht nur in der übrig gebliebenen, politisch kraftlosen liberalen Presse wieder, sondern auch bei verschiedenen Vertretern des kleinbürgerlichen Radikalismus. Ralph Nader zum Beispiel, der Präsidentschaftskandidat der Grünen, hat nichts zu der Wahlkrise zu sagen. Sein einziger völlig unernsthafter Kommentar bestand in dem Vorschlag, den Streit zwischen Bush und Gore durch das Werfen einer Münze zu schlichten. Der bekannte linke Zyniker Alexander Cockburn veründete, dass ihm das Wahlergebnis gefalle. Es gebe nichts Seriöseres als eine mehrjährige politische Blockade in Washington, sagte er. "Wir lieben die Blockade", schrieb er letzte Woche.

Dann der Kommentar in den Seiten von Spartacist. Ich habe gerade eine Kopie ihrer Zeitung erhalten haben. Ihre Position wird in den folgenden Zeilen zusammengefasst: "Der Zwist zwischen Gore und Bush ähnelt mehr einem Sturm im Wasserglas, als einer politischen Krise der Bourgeoisie."

Und dann gibt noch eine politische Tendenz namens Workers World Party ihre Weisheit zum Besten. Sie schreibt: "Diesem Wahldebakel liegt keinerlei soziale oder ökonomische Krise zugrunde".

Wenn das der Fall wäre, dann wären die Ereignisse in den USA tatsächlich völlig unerklärlich.

Zum ersten Mal im zwanzigsten Jahrhundert war es in den Vereinigten Staaten nicht möglich, den Gewinner einer Präsidentschaftswahl zu benennen. Die Wahl hat eine völlig polarisierte Wählerschaft gezeigt. Das beinahe Unentschieden zwischen Gore und Bush findet sich auch in der Zusammensetzung des Senats und des Repräsentantenhauses wieder, und die Landkarte des Wahlergebnisses ähnelt der Spaltung zwischen dem Norden und dem Süden im Bürgerkrieg. Es hat sich als unmöglich erwiesen, im Rahmen der bestehenden verfassungsmäßigen Strukturen eine wirklich demokratische Lösung des Konflikts über das Wahlergebnis herbeizuführen. Und doch versichern uns diese Leute, die zutiefst an die Stabilität des amerikanischen Kapitalismus glauben, dass das alles nichts mit einer sozialen oder ökonomischen Krise zu tun hat. Eine solche Einschätzung ist das Ergebnis einer Kombination von historischer Ignoranz und politischer Blindheit.

Lehren aus der Geschichte

Formal gesehen weist lediglich die Wahl von 1876 gewisse Ähnlichkeiten mit der aktuellen Situation auf. Damals stimmte das landesweite Stimmergebnis nicht mit der Zusammensetzung des Wahlmännergremiums überein. Der demokratische Kandidat Samuel Tilden hatte die Mehrheit der abgegebenen Stimmen errungen. Wahrscheinlich hatte er auch mehr Staaten und Wahlmännerstimmen, aber in einem langen politischen Kampf beanspruchten die Republikaner das Weiße Haus und machten dafür große politische Zugeständnisse an die alte Sklavenhalteraristokratie im Süden. Auf diese Weise wurde die Wiederaufbau-Periode beendet.

Aber diese Analogie reicht nicht aus, um die Bedeutung der heutigen Krise zu erklären. Lasst mich das Argument der Liberalen und der kleinbürgerlichen Linken noch einmal wiederholen, die uns versichern, dass in Amerika eigentlich nichts Besonderes geschehen sei. Sie sagen, so wichtig kann es gar nicht sein, weil es in den USA keine tiefe gesellschaftliche und ökonomische Krise gibt. Die Leute seien wütend, kämpften um das Amt und jeder wolle gewinnen, aber das sei alles nicht so wichtig.

Müssten sie auf das WSWS antworten, dann würden sie vermutlich die Behauptung als absurd abtun, dass es in den Vereinigten Staaten soziale und ökonomische Widersprüche gebe, die zu großen politischen Kämpfen oder sogar zu einem Bürgerkrieg führen können. Schließlich gab es vor 1860 den unüberbrückbaren Gegensatz zwischen der Sklaverei und der freien Lohnarbeit. Welche sozialen Konflikte, würden sie wohl argumentieren, wollte man denn in den heutigen USA mit den damaligen Ereignisse vergleichen?

Ich werde versuchen, eine Antwort auf diese Frage zu geben., aber vorher möchte ich noch einen kurzen Überblick über die politischen Konflikte geben, die schließlich zum Bürgerkrieg führten.

Es ist interessant, dass im letzten Jahrzehnt das Interesse am Bürgerkrieg wieder gewachsen ist. Teilweise wurden hervorragende Filme und Bücher über dieses außerordentliche Kapitel der amerikanischen und der Weltgeschichte produziert.

Der amerikanische Bürgerkrieg gehört zu den bedeutendsten Ereignissen des neunzehnten Jahrhunderts. Er hatte enorme Auswirkungen auf die Entwicklung der Arbeiterklasse. Er war in jeder Hinsicht eines der heroischsten Kapitel in der Geschichte der Menschheit.

Ein Studium dieser Periode zeigt, wie die Verschärfung sozialer Gegensätze zu einem völligen Zusammenbruch des politischen Systems führen kann. Hervorgerufen wurden diese Gegensätze durch den unüberbrückbaren Konflikt zwischen der archaischen, auf Sklaverei beruhenden Form des Kapitalismus, die im amerikanischen Süden vorherrschte, und der modernen, dynamischen, auf Lohnarbeit beruhenden Form in den Nordstaaten.

In den ersten siebzig Jahren der amerikanischen Republik durchzog dieser Antagonismus zwischen dem System der Sklavenarbeit und der freien Lohnarbeit als bedrohliche Bruchlinie die gesamte politische, soziale, ökonomische und juristische Struktur der Vereinigten Staaten. Es gab zahllose Versuche, im Rahmen der bestehenden, von den Gründungsvätern entworfenen Verfassungsstrukturen ein Mittel zur Kontrolle der politischen Antagonismen zu finden, die durch den sozialen Konflikt genährt wurden. Trotz der tiefen gesellschaftlichen Widersprüche gab es einen starken Willen, die Union zu erhalten. Aber die Ereignisse - soziale, ökonomische und politische - wirkten in umgekehrter Richtung. Die ständige Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche machte schließlich eine politische Lösung ohne den Rückgriff auf Gewalt unmöglich.

So erschütterte z.B. der Erwerb von Louisiana im Jahre 1803, der der jungen Republik große neue Landflächen zuführte, die Balance zwischen den Sklavenhalterstaaten und den freien Staaten. Die frühen Führer der Vereinigten Staaten versuchten 1820, dieses Problem durch den Kompromiss von Missouri in den Griff zu bekommen, der die Mason-Dixon-Linie als Grenze zwischen den Sklavenstaaten und den freien Staaten festlegte. Diese Maßnahme hielt fast dreißig Jahre. Aber die weitere Ausdehnung der Vereinigten Staaten, besonders als Ergebnis des von den Südstaaten betriebenen Mexikokriegs, drohte die Machtbalance zwischen den freien Staaten und den Sklavenstaaten erneut zu destabilisieren.

Ein Kongressabgeordneter aus Pennsylvania namens David Wilmot brachte 1846 im Kongress eine Bestimmung ein, nach der in keinem Territorium, das die USA als Ergebnis des Mexikokriegs erwarb, die Sklaverei erlaubt sein sollte. Der Süden wandte sich vehement dagegen. Wilmots Bestimmung wurde von einem wenig bekannten Abgeordneten mit Namen Abraham Lincoln unterstützt, der soweit ich weiß, im Verlauf seiner relativ kurzen Kongresskarriere fünfmal für sie stimmte. Aber der Kongress, der von den Sklavenstaaten dominiert wurde, nahm die Bestimmung nie an.

Dann entbrannte ein scharfer Kampf über die Frage, ob Kalifornien als Sklavenstaat oder als freier Staat in die Union aufgenommen werden sollte. Schließlich wurde ein Kompromiss geschlossen und Kalifornien wurde ein freier Staat. Den Sklavenbesitzern wurden allerdings wichtige politische Zugeständnisse gemacht. Eines davon war der Fugitive Slave Act, das Gesetz über geflohene Sklaven, das besagte, dass alle in den Norden geflohenen Sklaven ihren Herren zurückgeschickt werden mussten. Der Historiker James McPherson gibt eine bewegende Darstellung der Empörung, die Bundespolizisten hervorriefen, wenn sie in Städten wie Boston mit stark ausgeprägter abolitionistischer (d.h. gegen die Sklaverei gerichteter) Tendenz eindrangen und ehemalige Sklaven ergriffen, um sie ihren früheren Besitzern im Süden zurückzubringen.

In den fünfziger Jahren wuchs das Gefühl, dass durch diese Konflikte die ganze politische Struktur destabilisiert werde. Dennoch waren es für die Gegner der Sklaverei und der wachsenden Macht des Südens bittere Jahre. Nach einer Legislaturperiode im Kongress verließ Abraham Lincoln die Politik und widmete sich ausschließlich seiner Karriere als Rechtsanwalt. Er war erfolgreich und hatte nichts mehr mit Politik zu schaffen.

Dann trat ein Ereignis ein, das zur Radikalisierung des politischen Lebens in Amerika führen sollte, der Kansas Nebraska Act von 1854. Das Kansas-Nebraska-Gesetz eröffnete die Möglichkeit einer Ausweitung der Sklaverei in neue Territorien nördlich der Mason-Dixon-Linie, was den Charakter der amerikanischen Republik grundlegend verändert hätte. Es unterminierte nicht nur die Position der freien Lohnarbeit vom ökonomischen Standpunkt aus, sondern stellte auch die in der Revolution von 1776 erkämpften demokratischen Ideale Amerikas in Frage. Laut dem Kansas-Nebraska-Gesetz sollte der Charakter der neu in die Union aufgenommenen Territorien durch eine Abstimmung der Siedler bestimmt werden. Das heißt, die Siedler in Kansas sollten darüber abstimmen, ob die neue Verfassung frei sein oder Sklaverei zulassen sollte, und in der entsprechenden Form sollte der neue Staat dann in die Union aufgenommen werden.

Der Vater dieser Auffassung von Volkssouveränität war ein Mann namens Stephen Douglas, ein Führer der demokratischen Partei. Douglas versuchte den Norden damit zu beruhigen, dass es auch mit diesem Gesetz angesichts der klimatischen und geographischen Bedingungen nur geringe Chancen gab, dass sich das auf die Baumwollproduktion gestützte Sklavensystem nach Norden ausdehnen könnte. Und trotzdem machte sich ein Gefühl breit, dass dieses Gesetz die Schleusen für eine Ausdehnung der Sklaverei über die Mason-Dixon-Linie hinaus geöffnet habe. Und in der Tat, das Verhalten der Südstaatenanhänger, die nach Kansas hineinfluteten, bestätigten die schlimmsten Befürchtungen über eine Ausdehnung der Sklaverei.

Sogenannte Grenz-Rowdies strömten in den Staat hinein. Sie griffen die freien Siedler an und schüchterten die Gegner der Sklaverei mit Terrormethoden ein. Das politische Klima im Norden spannte sich zusehends an. Alle Versuche, die politische Debatte im Rahmen parlamentarischer Normen zu halten, scheiterten. Ein Zwischenfall, der den Norden erschreckte, ereignete sich im Mai 1856, als ein Kongressabgeordneter aus den Südstaaten in den Senat einrang und Senator Charles Sumner, einen allseits respektierten Abolitionisten, mit einem Knüppel blutig schlug und fast tötete. Im Süden wurde dieser Akt bejubelt, und der Abgeordnete, der diese Untat begangen hatte, bekam zum Glückwunsch Knüppel von Sympathisanten aus dem Süden geschickt. Der Norden betrachtete dies als eine weitere Manifestation der Barbarei der Sklavenstaaten.

1857 fand dann ein weiteres Ereignis statt, das die weitest gehenden Auswirkungen haben sollte. Eine wesentliche Grundlage des Missouri-Kompromisses von 1820 war gewesen, dass der Kongress das Recht hatte, die Ausdehnung der Sklaverei zu beschränken. 1857 erreichte, nach mehr als zehnjährigem Weg durch die Instanzen, ein Fall den Obersten Gerichtshof der USA, den ein Sklave mit Namen Dred Scott angestrengt hatte.

Dred Scott war von seinem Herrn in den Norden gebracht worden und hatte in Illinois und Wisconsin, beides freie Staaten, gelebt. Er reiste mit seinem Besitzer zurück nach Missouri, welches ein Sklavenstaat war. In dem Moment klagte Dred Scott und bestand darauf, dass er nicht länger als Sklave gelten könne, weil er in einen Nicht-Sklavenstaat gebracht worden war. Der Prozess begann in den vierziger Jahren, aber erst 1857 erreichte er schließlich den Obersten Gerichtshof.

Was der Oberste Gerichtshof tat, hatte grundlegende Auswirkungen auf das politische Leben in Amerika und machte den Bürgerkrieg mehr oder weniger unvermeidlich. Das Gericht hatte mehrere Optionen. Er hätte sagen können, dass Dred Scott ein Sklave sei; er sei kein Bürger und habe deswegen nicht das Recht, einen Prozess gegen seinen Besitzer anzustrengen. Das tat das Gericht, ging aber noch weiter. Er entschied auch, dass die Tatsache, dass Dred Scott in einem Nordstaat gewesen sei, keine Auswirkungen auf seinen Status als Sklave habe - einmal Sklave, immer Sklave.

Das Gericht hätte es hierbei bewenden lassen können, aber es entschied sich anders. Es erklärte weiterhin, und dies revolutionierte die Vereinigten Staaten, dass ein Individuum, das ein Sklave sei, ein Stück Eigentum sei, das von seinem Besitzer überall hin in den Vereinigten Staaten mitgenommen werden könne und immer ein Stück Eigentum bleibe.

Was bedeutete das? Abgesehen von der erschreckenden moralischen Implikation - dass Sklaven nicht Menschen, sondern Eigentum seien - setzte der Oberste Gerichtshof praktisch den Missouri-Kompromiss außer Kraft. Er beseitigte eine geltende verfassungsmäßige Grundlage: dass der Kongress das Recht hatte, die Ausdehnung der Sklaverei zu begrenzen. Er verkündete, dass es keine verfassungsmäßige Schranke für die Ausdehnung der Sklaverei an jeden Ort innerhalb der USA gebe. Es könne keine Beschränkung des Eigentumsrechts geben. Auf dieser Grundlage befriedigte der Oberste Gerichtshof die Wünsche und Ziele der aggressivsten und reaktionärsten Teile der Sklavenhalteraristokratie des Südens.

Diese Entscheidung traf die Öffentlichkeit im Norden wie Blitz und Donner. Der Oberste Gerichtshof war für Jahrzehnte diskreditiert, ein nicht unwichtiger Faktor in dem folgenden Bürgerkrieg, als Lincoln regelmäßig die Urteile dieses Gerichtshofs ignorierte. Diese Entscheidung veränderte das gesamte Antlitz der amerikanischen Politik. Lincoln, der zwischenzeitlich durch das Kansas-Nebraska-Gesetz wieder in die Politik gekommen war, wurde einer der schärfsten Kritiker von Douglas‘ Theorie der Volkssouveränität. Seine Anhängerschaft wuchs ebenso wie die der neuen republikanischen Partei, die selbst ein Produkt der Reaktion auf Kansas-Nebraska und den Fall Dred Scott war.

Betrachtet man diese Ereignisse, dann erkennt man eine charakteristische Eigenschaft herrschender Klassen, die spüren, dass die Flut der Geschichte ihnen zuwiderläuft. Vom Standpunkt des Südens erschien die wachsende industrielle und ökonomische Macht des Nordens als eine wirkliche Bedrohung. Die Geschichte wandte sich gegen die Sklavenbesitzer, und je mehr sie dies spürten, desto entschlossener waren sie, nicht nur die Sklaverei in den Gebieten zu verteidigen, wo sie schon existierte, sondern sie als positives moralisches Gut bestätigt zu sehen und alle Hindernisse für ihre Ausweitung zu beseitigen. In direkter Relation zu der zunehmenden gesellschaftlichen und ökonomischen Schwäche des Südens nahm die politische Aggressivität seiner herrschenden Klasse zu.

Ein weiteres wichtiges Ereignis fand nach der Dred-Scott-Entscheidung statt: Die Kontroverse über die Lecompton-Verfassung. Diese Verfassung war von einem unrepräsentativen Teil von Sklavensiedlern entworfen worden, die sich in Kansas in der Minderheit befanden. Sie versuchten diese Verfassung, die im Kern die Sklaverei befürwortete, der Bevölkerung von Kansas aufzuzwingen. Es gab eine bittere Kontroverse darüber, weil sie genau wussten, dass die Lecompton-Verfassung niemals eine Mehrheit der Stimmen in Kansas erhalten würde. Also versuchten sie mit Tricks zu verhindern, dass sie der Bevölkerung von Kansas zur Ratifizierung vorgelegt wurde.

Eine heftige Auseinandersetzung begann. Die Bevölkerung von Kansas hatte eigentlich das Recht, über diese Verfassung abzustimmen, aber in diesem Fall wäre sie abgelehnt worden. Mit Hilfe verschiedener Manöver wurde versucht, sie den freien Siedlern von Kansas unterzujubeln. Was noch schlimmer war: Ein demokratischer Präsident, Buchanan, unterstützte diese reaktionären Bemühungen. Schließlich scheiterte die Lecompton-Verfassung an der Opposition im Repräsentantenhaus. Einige Jahre später wurde Kansas als freier Staat in die Union integriert.

Im Laufe dieser Ereignisse wurde immer klarer, dass es keinen verfassungsmäßigen Rahmen gab, innerhalb dessen die Differenzen zwischen dem Norden und dem Süden friedlich ausgetragen werden konnten. 1860 gab es im Norden kaum mehr Zweifel, dass der Süden keinerlei Beschränkung der Sklaverei akzeptieren würde. Er kontrollierte den Kongress und die Gerichtsbarkeit und er würde den Verlust der Präsidentschaft nicht akzeptieren.

Die Wahl von 1860 zeigte völlig polarisierte Vereinigte Staaten. Lincoln, der republikanische Kandidat, erhielt in zehn Südstaaten nicht eine einzige Stimme für seine Kandidatur. Sein Sieg wurde von der überwältigenden Unterstützung in den freien Staaten getragen. Seiner Wahl im November 1860 folgte die Unabhängigkeitserklärung zuerst von South Carolina, dann von einer ganzen Reihe weiterer Südstaaten auf dem Fuße. Als er sein Amt antrat, befand sich ein großer Teil des Südens bereits im Aufstand.

1861 schossen die Amerikaner, um einen Ausdruck von James McPherson zu verwenden, so wie sie in der Wahl von 1860 gestimmt hatten. Was nicht mehr länger im Rahmen der bestehenden verfassungsmäßigen Strukturen geregelt werden konnte, wurde auf dem Schlachtfeld ausgetragen. Um den Preis von 600.000 Toten wurde das Sklavensystem zerschlagen und die Vereinigten Staaten auf der Grundlage der bürgerlichen Demokratie - der Abschaffung der Sklaverei und der Ausdehnung des Bürgerrechts auf die gesamte Bevölkerung - rekonstituiert.

Die Vereinigten Staaten im Jahre 2000

Gibt es eine Analogie zwischen der Krise vor dem Bürgerkrieg und der heutigen Krise? Existieren heute gesellschaftliche Gegensätze, die mit dem "unüberbrückbaren Konflikt" vor dem Bürgerkrieg vergleichbar wären?

Es zeugt, offen gesagt, von dem außerordentlichen Verfall im politischen Denken - auch einiger, die sich selbst als Marxisten bezeichnen -, dass niemand solche sozialen Widersprüche erkennen will. Tatsache ist aber, dass die Vereinigten Staaten unter den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern am meisten sozial polarisiert sind. Der Mangel an politisch artikulierten gesellschaftlichen Auseinandersetzungen bedeutet nicht, dass kein Klassenkampf existiert. Marx verweist auf den "mal offenen, mal verborgenen Klassenkampf". In den Vereinigten Staaten ist er verborgen, aber er brodelt unter der Oberfläche.

Die Abwesenheit eines politisch bewussten Klassenkampfes unter der Bedingung schreiender sozialer Ungleichheit in den USA zeigt nur, wie stark die Unterdrückung der amerikanischen Arbeiterklasse ist. Die gesamten Bemühungen des offiziellen Amerika sind auf die Verdummung der breiten Massen ausgerichtet. Der gegenwärtige Angriff auf das Wahlrecht ist lediglich ein unvermeidbarer politischer Ausdruck der Tendenz, die Arbeiterklasse systematisch von jeder unabhängigen Teilnahme am politischen Leben auszuschließen.

Es ist wichtig, das Protokoll der gestrigen Sitzung des Obersten Gerichtshofes zu studieren und besonders die Standpunkte von Antonin Scalia, einer gemeinen, gangsterhaften Persönlichkeit, der mit der Integrität eines Mafia-Anwalts argumentiert. Während der Befragung von Gore-Anwalt Laurence Tribe entwickelte Scalia eine völlig zynische Rechtfertigung für die Zurückweisung der Entscheidung des Obersten Gerichtshofs von Florida.

Einige dieser Argumente sind kompliziert, aber ich werde versuchen, das Ergebnis dieser Anhörungen zu erklären und Euch einen Einblick in das Denken Scalias zu geben, das vom Vorsitzenden Richter William Rehnquist und sicherlich vom Beisitzenden Richter Clarence Thomas geteilt wird. Das sind drei von neun Richtern des Obersten Gerichtes.

Es geht um die Frage, ob der Oberste Gerichtshof von Florida das Recht hat, eine Anweisung der Innenministerin zu revidieren? Die Republikaner argumentieren, dass der Termin unantastbar sei und das Gericht kein Recht habe, die Regeln zu ändern. Der Oberste Gerichtshof von Florida steht auf dem Standpunkt, dass das Wahlrecht ein demokratisches Kernrecht sei, das nicht administrativen Regeln, wie dem Termin für das Einreichen der Ergebnisse, untergeordnet werden darf.

Scalia argumentierte, der Streitpunkt in Florida sei die Auswahl der Wahlmänner, die nach den Regeln des Wahlmännerausschusses für einen der beiden Präsidentschaftskandidaten stimmen.

Viele von euch werden bereits vom Wahlmännerausschuss gehört haben. Ich werde ihn trotzdem noch einmal erklären. Die Amerikaner wählen ihren Präsidenten nicht direkt. Die Präsidentschaftswahl ist vielmehr eine Summe von insgesamt 51 Wahlgängen auf regionaler Ebene - fünfzig in den Bundesstaaten und einer in Washington D. C. Der Kandidat, der am meisten Stimmen in einem Bundesstaat bekommt, erhält in der Regel sämtliche Wahlmännerstimmen dieses Staates. Die Zahl der Wahlmänner steht im Verhältnis zur Bevölkerung des Bundesstaates, wenn auch in keinem strengen. Im allgemeinen sind die kleineren Bundesstaaten überrepräsentiert, weil sie automatisch je einen Wahlmann für ihre beiden Senatssitze erhalten. So entfallen in Wyoming 250.000 Wähler auf einen Wahlmann, in New York dagegen ungefähr 500.000.

Warum konnte diese Anomalie des Wahlmännerausschusses bis heute existieren? Im Rahmen der föderativen Vereinbarungen, die den Rahmen für die Einheit der Vereinigten Staaten bildeten, sollten sich die kleineren Staaten darauf verlasen können, dass ihre Stimme Gehör findet. Der Wahlmännerausschuss garantiert ihnen eine unabhängige Stimme bei der Wahl des Präsidenten. Das war ein wichtiger Teil der föderativen Grundlagen der Verfassung, einer komplizierten Verteilung der Macht zwischen den Bundesstaaten und der Zentralregierung.

Es gab auch noch einen weiteren Grund für den Wahlmännerausschuss, einen weniger noblen. Die Verfassungsväter überlegten, dass immer die Möglichkeit bestehe, dass das Volk falsch wählt, also für einen Kandidaten stimmt, der nicht den Anforderungen der herrschenden Klasse entspricht. Es gab bei der Niederschrift der amerikanischen Verfassung einen antidemokratischen Unterton, welcher die Ansichten der hochprivilegierten Oberschicht wiedergab. Der Wahlmännerausschuss war eine letzte Rückversicherung, ein Mittel, die Wähler zu übergehen, wenn diese falsch wählen sollten.

Tatsächlich wurde dies aber nie ausgenutzt, und so blieb der Wahlmännerausschuss als seltsamer Anachronismus weiter bestehen. Er wurde nie in Frage gestellt, weil der Kandidat, der die Mehrheit der Stimmen eines Staates gewonnen hatte, die Wahlmänner seiner Liste in den Ausschuss schicken konnte.

Doch zurück zu den Fragen, die im Obersten Gerichtshof diskutiert wurden. Scalia beginnt darüber zu sinnieren, das es bei der Präsidentschaftswahl in erster Linie um die Wahl der Wahlmänner gehe. Dann sagt er, es gebe kein allgemeines Wahlrecht bei der Auswahl der Wahlmänner, nicht das Volk, sondern die Legislative des Bundesstaates bestimme die Wahlmänner. Daher hätten Fragen, die die Wahl des Präsidenten betreffen, nichts mit dem Volk zu tun, und der Oberste Gerichtshof liege völlig falsch, wenn er unter Berufung auf die Menschenrechtserklärung eine Entscheidung der Gesetzgeber revidiere. In letzter Konsequenz, so meint er, gäbe es kein allgemeines Wahlrecht bei der Wahl des Präsidenten.

Was erinnert daran an den Fall von Dred Scott? Wie 1857 nutzt Scalia die Gelegenheit, welche ihm Bush mit seinem Einspruch gegen das Urteil des Obersten Gerichtshofs von Florida gegeben hat, um die reaktionärste Interpretation der amerikanischen Verfassung zu rechtfertigen. So wie der Oberste Richter Roger Taney im Falle Dred Scott eine Möglichkeit fand, die Legalisierung der Sklaverei in den gesamten Vereinigten Staaten zu rechtfertigen, nutzt Scalia den jetzigen Fall, um dem grundlegendsten demokratischen Recht, dem Wahlrecht, einen Schlag zu versetzen. Er etabliert und rechtfertigt eine vollkommen antidemokratische Interpretation der amerikanischen Verfassung.

Natürlich wählt das Volk den Präsidenten nicht direkt. Aber der Wahlmännerausschuss hat nur deshalb überlebt, weil seine Zusammensetzung immer dem Wählerwillen in den Bundesstaaten entsprach. Dieser seltsame Anachronismus im amerikanischen politischen System hätte sich nicht halten können, wenn er den Willen des Volkes umgeworfen hätte.

Hier geht es nicht um Spekulation. Scalia, ein politischer Provokateur, hat wirklich darauf gedrängt, dass das Parlament von Florida ohne Rücksicht auf die Ergebnisse der Wahl Wahlmänner ernennt, die für Bush stimmen. Gleichzeitig entwickelt er eine autoritäre, ja oligarchische Konzeption der amerikanischen Demokratie - oder Antidemokratie -, die dem entspricht, was die reaktionärsten Flügel der amerikanischen herrschenden Klasse wünschen.

Man muss die Frage nach den Ursachen für diese außerordentlichen Entwicklungen stellen. Spinnt Scalia nur eigene Theorien aus? Oder haben die Widersprüche, die sich nun im politischen Leben der Vereinigten Staaten zeigen, eine gesellschaftliche Grundlage?

Um diese Frage zu beantworten, möchte ich einige Absätze aus der Erklärung zitieren, die unsere Partei auf der Word Socialist Web Site veröffentlicht hat:

"An der Spitze der amerikanischen Gesellschaft befindet sich eine besitzende Klasse, die nach Vermögen und Einkommen reicher ist, als irgend eine andere der Geschichte. Das reichste eine Prozent der amerikanischen Haushalte hat ein Vermögen von über zehn Billionen Dollar angehäuft - zehn Millionen Millionen Dollar -, das sind über vierzig Prozent des gesamten nationalen Reichtums. Der Nettobesitz dieser Multimillionäre übersteigt zusammen den gesamten Besitz der unteren 95 Prozent der Bevölkerung.

Seit Mitte der siebziger Jahre hat das oberste eine Prozent seinen Anteil am nationalen Wohlstand von unter zwanzig Prozent auf 38,9 Prozent verdoppelt; das ist die höchste Zahl seit 1929, dem Jahr des Börsenkrachs, der in die große Depression mündete. Laut einer weiteren Studie besitzt das reichste eine Prozent der Haushalte die Hälfte aller ausgegebenen Aktien, zwei Drittel aller Wertpapiere und über zwei Drittel der Konzernanteile.

Die Ungleichheit nach Einkommen ist ebenso krass wie die Ungleichheit nach Besitz. 1999 erzielte das reichste eine Prozent der Bevölkerung so viel Einkommen nach Steuern, wie die unteren 38 Prozent zusammen. Das heißt, die 2,7 Millionen Amerikaner mit den größten Einkommen erhielten genau so viel Einkommen nach Steuern wie die hundert Millionen Amerikaner mit den unteren Einkommen. Das durchschnittliche Jahreseinkommen nach Steuern des obersten einen Prozents ist seit 1977 um 370 Prozent angestiegen, von 234.700 Dollar auf 868.000 Dollar."

Weiter heißt es in der Erklärung: "In der ganzen Periode von 1983 bis 1995 waren diese zwei Eliteschichten, die Reichen und die Superreichen, die zusammen die obersten fünf Prozent der Bevölkerung ausmachen, die einzigen Haushalte, deren Reichtum einen Nettozuwachs verzeichnen konnten. Diese Statistik ist es wert, noch einmal wiederholt zu werden: Während zwölf Jahren, während der (teilweisen) Amtszeit von Reagan, Bush und Clinton brachte das ‚Wunder des Marktes‘ 95 Prozent der amerikanischen Bevölkerung einen Nettoverlust, während nur die obersten fünf Prozent hinzugewonnen haben.

Während der neunziger Jahre ergriff eine wirklich wahnhafte Gier nach nicht erarbeitetem Einkommen die herrschende Klasse, die fühlte, dass sie von jeder wirksamen Einschränkung der Profitakkumulation befreit war. Der nackte Trieb nach persönlicher Bereicherung übersteigt alles, was man von früheren ‚Goldenen Zeitaltern‘ her kennt. Die Gehälter für Topmanager stiegen während der Clinton-Gore-Regierung um atemberaubende 535 Prozent. Der typische Konzernchef verdient das 475-fache Einkommen eines Durchschnittsarbeiters und das 728-fache Einkommen eines Arbeiters mit Mindestlohn. Wären die Löhne in den neunziger Jahren ebenso schnell gestiegen wie die Gehälter, Bonuszahlungen und Vorzugsaktien der Führungskräfte, dann hätte ein Durchschnittsarbeiter jetzt ein Jahreseinkommen von 114.000 Dollar im Jahr, und der Mindestlohn läge bei 24 Dollar die Stunde."

Dies ist ein atemberaubendes Bild sozialer Ungleichheit. Die Annahme, dass demokratische Formen inmitten einer solch außerordentlichen sozialen Polarisierung erhalten werden könnten, würde alle Lehren der Geschichte ignorieren. Die Beziehungen zwischen den politischen Formen einerseits und der Klassenstruktur einer Gesellschaft andererseits haben zwar einen komplizierten dialektischen Charakter, aber langfristig kommen sie an einen Punkt, an dem die sozialen Spannungen, die durch die überhand nehmende Ungleichheit erzeugt werden, nicht mehr in den Grenzen traditioneller demokratischer Formen gehalten werden können. Die amerikanische Gesellschaft hat einen solchen Punkt erreicht.

Das Zweiparteiensystem in den Vereinigten Staaten

Eine der Eigenheiten des politischen Lebens in Amerika ist die Institutionalisierung des Zweiparteiensystems seit nunmehr fast 135 Jahren. Die große Schwäche der amerikanischen Arbeiterbewegung hat historisch darin bestanden, dass sie nicht in der Lage war, eine unabhängige politische Partei aufzubauen. Das politische Leben ist unter der Hegemonie der zwei bürgerlichen Parteien geblieben, die die politischen Interessen der Kapitalistenklasse ausgedrückt und geregelt haben - Demokraten und Republikaner.

Natürlich haben sich diese Parteien selbst im Laufe ihrer langen Geschichte erheblich verändert. Die republikanische Partei von heute hat wenig Ähnlichkeit mit der unter Eisenhower in den fünfziger Jahren, von der unter der Führung von Abraham Lincoln ganz zu schweigen. Ebenso hat die demokratische Partei mehrere Veränderungen durchgemacht - die wichtigste davon war, als sie in den dreißiger Jahren unter Franklin Delano Roosevelt ein Bündnis mit der Gewerkschaftsbürokratie einging und zumindest im Norden einen deutlicher ausgeprägten sozial-liberalen Charakter annahm.

Die historische Entwicklung der beiden Parteien darzustellen, würde den Rahmen dieses Vortrags sprengen. Man muss jedoch sagen, und das ist recht offensichtlich, dass der Schwerpunkt der amerikanischen Politik sich drastisch nach rechts verschoben hat. Der Sozialliberalismus, der mehr als ein halbes Jahrzehnt lang die beherrschende Tendenz in der amerikanischen bürgerlichen Politik war, hat praktisch aufgehört zu existieren. Das muss letztlich aus objektiven Ursachen erklärt werden. Ungeachtet der ganzen Propaganda über die Stärke des amerikanischen Kapitalismus ist er doch zunehmend unfähig geworden, den Forderungen der Arbeiterklasse nach sozialen Zugeständnissen nachzukommen. Das letzte bedeutende Stück Sozialgesetzgebung ist vor ungefähr dreißig Jahren zustande gekommen.

Die demokratische Partei stellt sich jedoch, obwohl sie keine sozialen Zugeständnisse von Bedeutung anzubieten hat, nach wie vor als Vertreterin der Interessen der arbeitenden Bevölkerung dar. Auf der anderen Seite hat sich die republikanische Partei zunehmend der extremen Rechten geöffnet. Die ungezügelte Raffgier der rücksichtslosesten Schichten der herrschenden Elite, darunter auch jener, die ihren Reichtum während des Booms der achtziger und neunziger Jahre angehäuft haben, findet in der republikanischen Partei ihre direkte Verkörperung.

Sollte man in einem Satz das Programm der Republikaner zusammenfassen, würde er lauten: "Die Republikaner wollen alle Schranken - wirtschaftliche, politische, soziale und moralische - die der Ausbeutung der Arbeiterklasse, den Profiten der Konzerne und der Anhäufung von persönlichem Reichtum im Wege stehen, beseitigen."

Das ist ihr Programm, und während der Wahlkampagne sind sie recht unverhüllt dafür eingetreten. Trotz aller Phrasen über "Konservatismus mit Herz" hat Bush in Texas 135 Hinrichtungen vollstrecken lassen. Einmal hat er gesagt, die Entscheidung über ein Todesurteil sei die schwerwiegendste Frage, die ihm gestellt werden könne. Seitdem ist bekannt geworden, dass er darauf nicht mehr als fünfzehn Minuten verwendet.

Allen Fragen, die während der Wahlen aufgekommen sind, lag die Grundfrage der Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums zugrunde.

In den USA gibt es keine Massenpartei der Arbeiterklasse. Alle politischen Debatten werden durch zwei bürgerliche und im wesentlichen reaktionäre Parteien geleitet. Die zwei Parteien, die eine solche Position einnehmen, können es jedoch nicht vermeiden, zum Brennpunkt aller sozialen Fragen zu werden, die in den USA existieren.

Als Sozialisten rufen wir nicht zur Wahl einer bürgerlichen Partei auf. Wir praktizieren nicht die Politik des "kleineren Übels". Unsere Gegnerschaft zu den Demokraten gründet sich jedoch nicht auf die Behauptung, sie wären nur das Spiegelbild der Republikaner. Die strategischen und programmatischen Konflikte in der herrschenden Elite werden durch diese Parteien ausgefochten.

Während der Präsidentschaftswahlkampagne 2000 versuchten sich die Demokraten - das war natürlich Heuchelei - als Partei des Volkes darzustellen. Gore erklärte: "Ich kämpfe für das Volk, nicht für die Mächtigen." Obwohl inkonsequent und unehrlich, nahm Gore für sich in Anspruch, für die arbeitende Bevölkerung zu sprechen. Die Fragen, die er dabei aufbrachte - Steuern, Sozialstaat, Gesundheitssystem, Bildung - waren mit ihren Interessen verbunden. Bei diesen Fragen ging es implizit um die Verteilung des gesellschaftlichen Reichtums.

Die Kampagne von Bush hatte zwei Forderungen zum Schwerpunkt: Die Senkung der Einkommenssteuer und die Abschaffung der Erbschaftssteuer. Dabei war Bush ziemlich schamlos. In einer Debatte wiederholte er immer und immer wieder, dass sein Steuermodell ganz überwiegend dem reichsten Prozent der Amerikaner zugute kommen würde. "Warum auch nicht?", fragte er, "sie zahlen die meisten Steuern". Bushs Politik konzentrierte sich auf eine Beschleunigung der massiven Umverteilung des Reichtums hin zum reichsten Prozent.

Bedeutende Schichten der Arbeiterklasse sahen nicht unbedingt etwas Positives im Programm von Gore, mit Sicherheit aber erkannten sie, dass Bush eine Bedrohung ihrer sozialen und demokratischen Rechte darstellt. In Florida und den Industriezentren gab es eine massive Wahlbeteiligung von schwarzen Arbeitern, weit mehr als erwartet.

Die Karte mit den Wahlergebnissen zeigt die sozialen Spaltungen in den Vereinigten Staaten. Die Demokraten erhielten die meisten Stimmen in den großen Industriezentren und Großstädten. Alle Staaten, die in der amerikanischen Wirtschaft eine wichtige Rolle spielen - Kalifornien, New York, Pennsylvania, Michigan - gingen an die Demokraten. Die Republikaner erhielten die meisten Stimmen im Süden, den früheren Hochburgen der Sklavenhalter, und im oberen mittleren Westen, also allgemein in den rückständigsten Gebieten der USA.

Die Reaktion der Republikaner auf die Wahlen und der darauffolgende Konflikt verrät eine außerordentliche Aggressivität und Rücksichtslosigkeit, die viele Kommentatoren verblüfft hat. Hier lohnt es, sich die Haltung dieser Schichten der Bourgeoisie näher anzusehen.

Ich möchte auf einen Artikel verweisen, den ein rechter Kommentator, ein früheres Mitglied der Reagan-Administration namens Paul Craig Roberts verfasst hat. Er schäumt geradezu angesichts des gegenwärtigen Streits um die Wahlen. Er schreibt:

"Unser Land wird uns gestohlen. Geographisch gesprochen hat Gore nur ein Sechstel des Landes gewonnen. Fünf Sechstel der USA lehnen ihn und seine verdorbene Partei ab. Wegen der Bevölkerungsdichte der städtischen Gebiete liefern Karten mit Wahlergebnissen nach Bundesstaaten eine enorm übertriebene Darstellung von Gores geographischer Unterstützung.

Eine Karte mit Ergebnissen nach Wahlbezirken zeigt, wie gering Gores Einfluss ist. Gores Stimmen beschränken sich auf die spanisch-sprachigen Wahlbezirke im Südwesten, die Küstenbezirke von Kalifornien, die Bezirke von Portland Oregon, die an Puget Sound in Washington grenzenden Bezirke, Minnesota und die städtischen Gebiete um die Staaten der Großen Seen, die jüdischen Bezirke in Florida, großenteils schwarze Bezirke im Südosten und die stark urbanisierten Gegenden des Nordostens (Philadelphia, New York City, Connecticut, Massachusetts, Rhode Island), Vermont und Teile von Maine.

Geographisch zeigt die Karte ein Land, das von ein paar dicht besiedelten städtischen Bezirken beherrscht wird, wo neu Zugewanderte und ethnische Minderheiten einen hohen Prozentsatz der Bevölkerung ausmachen.... Die Demokraten sind eine Partei von bessergestellten weißen Liberalen, Universitäten und Medien, alleinerziehenden Frauen und ethnischen Minderheiten. Sie sind eine revolutionäre Partei, die alles daransetzt, die ,Voherrschaft‘ der traditionell amerikanischen Werte von Moral, Prinzipien, Institutionen und Volk umzustürzen."

Er fährt fort: "Die Republikaner werden diesen soliden Stimmenblock niemals bekommen. Die Schwarzen haben zu 90 bis 93 Prozent für Gore gestimmt, die Hispanics haben ihm zwei Drittel bis drei Viertel ihrer Stimmen gegeben. Je länger die Grenzen offen bleiben, desto früher wird das Land verloren sein."

Die Republikaner sehen ein Land, das sich, demographisch und sozial gesprochen, objektiv gegen sie bewegt. Sie sind zunehmend verzweifelt und entschlossen, mit allen Mitteln das Weiße Haus zu erobern und ihre Kontrolle von Justiz und Kongress zu nutzen, um die von ihnen wahrgenommene Bedrohung durch die Massen zurückzuschlagen.

Weltentwicklungen und die amerikanische Krise

Um die Bedeutung der Situation besser zu erfassen und als Antwort auf diejenigen, die behaupten, es gäbe keine soziale oder wirtschaftliche Grundlage für eine größere Verfassungskrise, sei es mir gestattet, auf eine weitere Ähnlichkeit zwischen dem Jahrzehnt vor dem Bürgerkrieg und heute hinzuweisen.

Hinter den politischen Widersprüchen jener Zeit standen wirtschaftliche Veränderung von kolossalem Ausmaß. Es war eine Zeit enormer wirtschaftlicher Umwälzungen in den Vereinigten Staaten, des Aufkommens von Industrie, Eisenbahnen und Telegraphen, der ersten Anzeichen für ein modernes, industrielles Amerika.

Lasst mich einen bekannten Historiker namens Bruce Catton zitieren: "Der ökonomische Trend war unzweifelhaft: Jeder technologische Fortschritt, die Eisenbahn, Dampfmaschine, Telegraphie, die neuen Maschinen für Farm und Fabrik wiesen in ein und dieselbe Richtung: hin zu nationaler Einheit, einer komplexen Industriegesellschaft und Integration in die Weltwirtschaft. Ländliche Selbstversorgung und Isolation, außer in abgeschlossenen Enklaven, mussten den Weg für die kommerzielle Produktion für weit entfernte nationale und internationale Märkte freimachen. Ein Krieg auf der Krim, eine Panik an der Pariser Börse oder ein Zinsverfall bei der Bank von England lösten nun seismische Erschütterungen aus, die sich bis zu den Textilfabriken von Monongahela und den Eisengießereien von Pittsburgh fortsetzten."

Wie Mitte des neunzehnten Jahrhunderts haben während der achtziger und neunziger Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts außerordentliche Umwälzungen in den Vereinigten Staaten stattgefunden, unter der Einwirkung revolutionärer neuer Technologien, die den Prozess der Globalisierung beschleunigt haben. Die Veränderungen der sozialen Struktur, der Niedergang der Stellung der traditionellen Mittelschichten, die enorme Proletarisierung der amerikanischen Gesellschaft hängen alle mit dieser völligen Veränderung der ökonomischen Grundlage der Gesellschaft zusammen. Es sind diese Prozesse, die der jetzigen Krise in den USA einen mächtigen Anstoß gegeben haben.

Anfang der neunziger Jahre, als sich die Krise der Sowjetunion zuspitzte, betonte das Internationale Komitee der Vierten Internationale, dass dem Zusammenbruch der UdSSR und der stalinistischen Regime in Osteuropa nicht ein Scheitern des Sozialismus zu Grunde liege, da ein Sozialismus dort niemals existiert hatte. Diese autarken nationalen Wirtschaften, die schwächsten nationalen Wirtschaften der Welt, brachen vielmehr unter dem Druck weltweiter wirtschaftlicher Kräfte zusammen. Der Zusammenbruch der UdSSR und der stalinistischen Regime in Osteuropa eröffnete keine neue Ära eines blühenden Weltkapitalismus, er war vielmehr das Ergebnis globaler Tendenzen der wirtschaftlichen Entwicklung und Krise, die schließlich auch die Grundlagen der entwickelten Zentren des Weltimperialismus erschüttern würden.

Es hat etwas gedauert. Es gab die unvermeidliche Periode des Triumphgeheuls, wo der Sieg des Weltkapitalismus verkündet wurde. Und doch mahlen, wie das Sprichwort sagt, die Mühlen der Geschichte langsam, aber gründlich. Der wirtschaftliche Druck der Globalisierung, der die Sowjetunion hinweg gefegt und die scheinbar unveränderlichen Institutionen der stalinistischen Herrschaft fast über Nacht in Trümmer gelegt hat, macht sich nun auch in den entwickelten Zentren des Weltimperialismus bemerkbar, sogar in den Vereinigten Staaten selbst.

Das ist der Grund, warum die amerikanische Krise letztlich eine Weltkrise ist. In der politischen Destabilisierung des amerikanischen Kapitalismus, die mit extremen wirtschaftlichen Krisenerscheinungen einher geht, verschärfen die politischen Ereignisse den wirtschaftlichen Niedergang. Wer kann daran zweifeln, dass diese Ereignisse Auswirkungen von internationalem Ausmaß haben werden?

Lasst mich einen Punkt wiederholen, den ich zu Beginn meiner Ausführungen gemacht habe. Das wichtigste Dogma all jener, die die Lebensfähigkeit des Marxismus bezweifelt oder bestritten haben, die große Landmasse, an der alle Hoffnungen auf die soziale Revolution zerschellt sind, waren die Vereinigten Staaten.

Wenn der Kapitalismus irgendwo auf der Welt in Schwierigkeiten geriet, war letztlich immer Onkel Sam da, um ihm wieder heraus zu helfen. Die amerikanische Bundesbank muss nur den Hahn aufdrehen und das Geld fließt. Mexiko kann bankrott gehen, dann wird eben Geld dorthin geschickt. Asien kann untergehen, aber irgendwas wird schon zu seiner Rettung getan werden.

Aber was passiert, wenn Onkel Sam selbst einen Schlaganfall hat? Wer wird ihm heraus helfen? Wer wird ihn retten? Das ist eine Frage, die sich im zwanzigsten Jahrhundert niemand stellte. Jetzt, wo wir ins einundzwanzigste Jahrhundert eintreten, ist das ein ernstes Thema.

Ob es nun Howard in Australien oder Blair in England ist, sie alle wissen, dass das für den Weltkapitalismus nichts Gutes bedeutet. Es ist kein guter Zeitpunkt, Onkel Sam nach Geld, geschweige denn nach politischem Rat zu fragen. Wer wird nach dem Debakel von Florida noch von Jimmy Carter hören wollen, wie man eine demokratische Wahl abhält?

Diese Ereignisse haben nicht nur enorme wirtschaftliche Folgen. Sie werden auch die gesellschaftliche Psychologie verändern, die bei der Herausbildung einer revolutionären Situation eine wichtige Rolle spielt. Schließlich nimmt der bewusste Faktor in der Entwicklung einer Revolution eine gewaltige Dimension ein.

Trotzki hat das sehr gut erklärt. Es gibt einen objektiven Bestandteil einer revolutionären Krise. Wenn die Formen der Produktion mit den bestehenden sozialen Beziehungen in Konflikt kommen, hebt eine revolutionäre Epoche an. Aber diese objektiven Widersprüche müssen sich ihren Weg ins Bewusstsein der Massen bahnen. Die Menschen müssen anfangen, über die Revolution nachzudenken. Sie müssen eine Revolution wollen und glauben, dass sie einen Ausweg bietet. Sie müssen nicht nur von der Notwendigkeit, sondern auch von der Möglichkeit grundlegender gesellschaftlicher Veränderungen überzeugt sein. Letztlich ist es nicht die Macht des kapitalistischen Staats allein, die eine Revolution verhindert. Auf einer grundlegenderen und historisch wesentlicheren Ebene ist es der Mangel an politischem Selbstvertrauen und Bewusstsein breiter Massen über ihre Fähigkeit, einzugreifen und die Gesellschaft von Kopf bis Fuß neu zu gestalten. Die gegenwärtige Krise wird wichtige und fortschrittliche Veränderungen im sozialen Bewusstsein anstoßen.

Was jetzt in Amerika stattfindet, signalisiert das Ende eines langen Zeitraums, in dem die Angelegenheiten des Weltkapitalismus ruhig der Führung des US-Imperialismus anvertraut werden konnten. Die Vereinigten Staaten werden nicht länger in der Lage sein, diese Rolle zu spielen. Die Krise in den USA hat die Lebensfähigkeit des kapitalistischen Systems in Frage gestellt und die Möglichkeit eröffnet, dass die Arbeiterklasse als entscheidende historische Kraft eingreift. Das wird als nächstes kommen. Es hat sich noch nicht bis zu diesem Punkt entwickelt, aber die amerikanische Arbeiterklasse wird sich bemerkbar machen. Die Bevölkerung hat etwas über den Ausgang dieser Krise zu sagen. Wenn nicht in der nächsten Woche, im nächsten Monat, in sechs Monaten oder einem Jahr, wird es trotzdem nicht lange dauern, bis wir die Bewegung einer enorm mächtigen gesellschaftlichen Kraft sehen werden, des amerikanischen Proletariats.

Was bedeutet das für uns? Wir müssen die Leserschaft des World Socialist Web Site erweitern. Wir müssen auf die wachsende Anzahl von Anfragen antworten und die Mittel entwickeln, all diejenigen, die auf unsere Analysen reagieren, in einer breiten und mächtigen internationalen Bewegung revolutionärer Marxisten zusammen zu schließen. Aus dieser wachsenden Bewegung müssen wir die Socialist Equality Party in den Vereinigten Staaten als Sektion des Internationalen Komitees der Vierten Internationale aufbauen. Das ist unsere Perspektive. Wir sind in eine neue historische Periode eingetreten, die von einer immensen Entwicklung der Kräfte des internationalen Marxismus bestimmt sein wird.

Siehe auch:
Die Arbeiterklasse und die amerikanischen Wahlen 2000 - Erklärung der Socialist Equality Party der Vereinigten Staaten von Amerika
(7. Oktober 2000)

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