52. Berliner Filmfestspiele

Zweiter Teil

Drei deutsche Filme im Hauptwettbewerb: Heaven von Tom Tykwer, Der Felsen von Dominik Graf und Halbe Treppe von Andreas Dresen.

Heaven von Tom Tykwer

Tom Tykwer wird von vielen Filmkritikern als der vielversprechendste junge Regisseur in der deutschen Filmszene angesehen. Sein Film Lola rennt war eine der wenigen deutschen Produktionen im letzten Jahrzehnt, die ein großes internationales Publikum erreichten. Tykwer war in der Lage, für seinen aktuellen Film Heaven Unterstützung aus den Vereinigten Staaten und Europa zu erhalten, was eine groß angelegte Produktion möglich machte.

Die Handlung spielt in Italien und die Hauptfigur ist eine britische Lehrerin, Philippa (gespielt von Cate Blanchett). Die Eröffnungsszene ist ein simulierter Flug über computergenerierte Hügel und Täler und soll das Publikum wahrscheinlich auf den späteren Aufstieg gen Himmel vorbereiten. Der Film beginnt dann damit, dass Philippa eine Bombe herstellt und sie im Büro eines prominenten Geschäftsmannes deponiert, der, wie wir später erst erfahren, auch ein Drogenhändler ist. Durch eine Kette von Zufällen gelangt die Bombe in den Müllsack einer Putzfrau und wird dann in einen Fahrstuhl gebracht. Dort explodiert sie und nimmt vollkommen unschuldigen Menschen das Leben.

Wir sind bereits in einem Gebiet, das Tykwer in vorausgegangenen Filmen wie Lola rennt und Der Krieger und die Kaiserin schon bearbeitet hat - eine Art Chaostheorie der Welt, wobei er über die eigenwilligen Wege spekuliert, die das Leben einschlagen kann, wenn der Zufall seine Hand im Spiel hat und Ereignissen eine unerwartete Wendung gibt.

Philippa ist schockiert, als sie erfährt, dass sie für den Tod von unschuldigen Leuten verantwortlich ist, aber sie bleibt entschlossen den Tod ihres eigenen Mannes zu rächen, der an seinem Drogenkonsum starb, zu dem er von dem Geschäftsmann/Dealer verleitet wurde. Als sie von der Polizei verhaftet und zu ihrem Terrorakt verhört wird, ist dies zu viel für Philippa und sie wird ohnmächtig. In einer Szene, die für Tykwers Arbeit charakteristisch ist, wird sie von dem jungen Polizisten Filippo aufgehoben und wieder auf ihre Beine gestellt. Ihre Blicke treffen sich und ihre körperliche Nähe ist ausreichend, um ihre unsterbliche Liebe füreinander zu besiegeln. Tykwer nennt diesen Prozess "Katharsis".

Jede nachfolgende unsinnige Wendung ist nach Tykwers Sichtweise der unzerstörbaren Liebe zwischen Philippa und Filippo unterworfen und durch sie gerechtfertigt. In Tykwer kindischer Darstellung von Beziehungen zeigt sich die Bestimmung des Paars füreinander zusätzlich darin, dass es den gleichen Namen trägt - eine männliche und weibliche Variante des Namens Philipp.

Die Ereignisse im Film werden zunehmend unwahrscheinlicher. Im Laufe ihres Verhörs erklärt Philippa nüchtern, dass sie die Bombe gefunden habe (die sie in einer der ersten Szenen des Films fachmännisch zusammengesetzt hat). Mit Hilfe ihres neuen Geliebten entkommt sie dem Verhör und die beiden verstecken sich auf dem Dachboden der Polizeistation einer Großstadt, von wo aus sie sich scheinbar ohne gesehen zu werden durch die Korridore schleichen, um schließlich den verhassten Geschäftsmann umzubringen.

Nachdem sie sich auf wahre Adam-und-Eva-Art auf einem einsamen Hügel geliebt haben, erreicht der Film den Gipfel der Absurdität. Philippa und Filippo, die von der Polizei verfolgt werden, brechen durch einen Ring von schwer bewaffneten Eliteeinheiten - die gerade in die falsche Richtung schauen - und stehlen ihren Hubschrauber. In einem Tykwer-Film braucht man keine Erfahrung, um eine Bombe zu bauen oder eine Helikopter zu fliegen. Das Paar schwebt gen Himmel, als der Hubschrauber die Wolken durchbricht - und der Kreis ist geschlossen, die Verbindung zur Eröffnungsszene des Films hergestellt. Dem siegreichen Paar, das durch die Reinheit ihrer Liebe von allen Sünden befreit ist, steht der Himmel offen. Der Abspann beginnt.

Tykwer hat mit dem Drehbuch des polnischen Regisseurs Krzysztof Kieslowski (der durch seine Triologie "Drei Farben" berühmt wurde) und dessen Mitarbeiter Krzysztof Piesievicz gearbeitet. Als er nach den religiösen Themen gefragt wurde, die sich aus dem Drehbuch ergeben (Kieslowski war Katholik), antwortete Tykwer, dass er sich selbst als "spirituellen Atheisten" versteht. Zweifellos fordert sein Film zum Glauben an das Übernatürliche auf. Es ist vielleicht nicht überraschend, dass Tykwer für den jüngsten obskuren Film von David Lynch, Mullholland Drive, schwärmt und mit Lynchs These übereinstimmt, dass es wichtiger ist, Fragen zu stellen, als Antworten zu geben.

Tykwers Film ist mit Analogien gepfeffert, die den Streifen aktuell erscheinen lassen - Terrorismus, Korruption in der Polizei und Drogenhändler, die ihre Ware an Schulkinder verkaufen. Aber sein Hauptanliegen ist quasi-religiös, dass die Ekstase der Liebe alles möglich macht, auch einen völlig unglaubwürdigen Plot und schwach ausgearbeitete Charaktere.

Die letzte Szene in Heaven erinnert an das Ende in anderen Filmen von Tykwer - an die Hauptfigur in Die tödliche Maria, die sich aus einem Fenster in großer Höhe fallen lässt, und den Skilehrer in Winterschläfer, der sich absichtlich in einen Abgrund stürzt. Wir haben hier nicht nur die Katharsis der Liebe sondern auch die Katharsis des Todes. Heaven macht deutlich, dass Tykwer mit einer peinlich begrenzten Anzahl von Themen arbeitet, die mit jedem neuen Werk immer langweiliger und unangenehmer werden.

Der Felsen von Dominik Graf

Leider ist Dominik Grafs neuer Film in mehrerlei Hinsicht mit Tykwers Heaven vergleichbar. Der Felsen konzentriert sich ebenfalls auf ein traumhaftes oder vielleicht eher albtraumhaftes Spiel des Zufalls. Die Handlung spielt auf der Ferieninsel Korsika. Die Zeichnerin Katrin beendete mitten im Urlaub ihre Liebesbeziehung mit ihrem Chef Jürgen. Jürgen kehrt nach Hause zurück, während Katrin dableibt und irgendwann zufällig den 17-jährigen Malte trifft, der sich aus einem Zeltlager für Jugendlich abgesetzt hat. Das Paar geht in die Berge, wobei sie beide vor ihren jeweiligen Problemen fliehen. Für Katrin und Jürgen endet der Film tragisch.

Der rote Faden, der sich durch den Film zieht, ist eine alte afrikanische Tradition, die von Kleinhändlern praktiziert wird, um Touristen anzulocken und sie zum Kauf der Ware zu verleiten. Verschiedene Figuren und Objekte werden nebeneinander gelegt und dann wird versucht, eine Geschichte zu entwerfen, die die Dinge in Zusammenhang bringt und dem zufälligen Nebeneinander einen Sinn gibt. Die daraus entstehenden Geschichten sind so verschieden und willkürlich wie die Charaktere und Lebenswege derjenigen, die die Geschichten erzählen.

Eine Stimme aus dem Off erklärt, dass die Geschichte der Hauptfigur in Der Felsen einen gänzlich anderen Verlauf hätte nehmen können, wenn sie an einem bestimmten Abend an einer Straßenkreuzung anders abgebogen wäre. Gleichzeitig trifft Jürgen auf dem Weg nach Hause zu seiner schwangeren Frau auf ein Verkehrsschild. Pfeile zeigen in alle Richtungen. Wie wird er sich entscheiden? Man möchte uns glauben machen, dass seine zufällige Entscheidung an der Kreuzung fundamentale Konsequenzen für den Rest seines Lebens haben wird.

Verschiedene Objekte tauchen im Film immer wieder zufällig auf - ein Bikini, eine Pistole, ein Ring. Der Ring scheint von besonderer Bedeutung zu sein, bis Katrin bemerkt, dass zu viele Frauen den gleichen Ring tragen und er also nichts Besonderes sein kann. Während des ganzen Films sammelt Kai, der Bruder von Malte, Objekte, die am Strand angespült wurden. Als er sie am Ende des Films vor Katrin ausbreitet, erkennt sie eine Postkarte wieder, die sie zu Beginn des Films weggeworfen hat.

Wie Tykwer, der lange Panoramaaufnahmen und Kamerafahrten über Städten, Gebäuden und beschleunigende Züge mag, die seine Charaktere manchmal auf die Dimension von Spielfiguren im Puppenhaus reduzieren, hat auch Graf eine Vorliebe für Bilder vom Meer und von den Bergen, die die Aktivitäten seiner Charaktere in den Schatten stellen. Sie scheinen darauf hinzuweisen, dass viel stärkere und einflussreichere Kräfte am Werk sind als bloß die Wünsche und Bestrebungen der Sterblichen.

Anders als bei Tykwer gibt es in Der Felsen keine grenzenlose Liebe, die alle Hindernisse überwindet. Aber beide Filme wenden sich an ein Publikum, dass vielleicht enttäuscht ist von den scheinbar unkontrollierbaren und unvorhersehbaren Schlägen des Alltagslebens. Ihre Botschaft ist dieselbe: Das Leben hat keinen Sinn und der beste Weg besteht darin, mit dem Strom zu schwimmen und das eigene Los resigniert zu ertragen.

Halbe Treppe von Andreas Dresen

Der vom Berlinale-Publikum begeistert aufgenommene Film Halbe Treppe von Andreas Dresen wurde mit dem Silbernen Bären und dem Großen Preis der Jury ausgezeichnet. Er war mit Abstand der beste deutsche Wettbewerbsbeitrag auf dem diesjährigen Filmfestival.

Eine Eigenschaft, die alle Filme von Dresen aufweisen (so wie Nachtgestalten und Die Polizistin) und die entscheidend zu ihrer Popularität beiträgt, ist die warme Anteilnahme des Regisseurs für seine Figuren. Neben seinem scharfen Blick für persönliche Beziehungen und gesellschaftliche Strukturen enthält Dresens jüngster Film auch tragikomische Szenen aus dem Alltagsleben. Dem Zuschauer bleibt das Lachen oft förmlich im Hals stecken.

Ort der Handlung ist die ostdeutsche Stadt Frankfurt/Oder unmittelbar an der polnischen Grenze, und der Film beginnt in einem Wohnzimmer in einer noch aus DDR-Zeiten stammenden, tristen Plattenbausiedlung. Hier ist der soziale und kulturelle Niedergang der vergangenen zehn Jahre überall deutlich sichtbar.

Die Geschichte beginnt mit einer ziemlich abstoßenden Szene. Zwei befreundete Ehepaare Ende dreißig lassen sich gemeinsam volllaufen und betrachten dabei die Urlaubsdias vom letzten Sommer. Lauthals lachend erinnert man sich gegenseitig daran, wie betrunken der eine oder andere von ihnen dort zu einem bestimmten Zeitpunkt war.

Uwe ist nach der Wende Kleinunternehmer geworden. Die Arbeit in seiner Imbissbude namens "Halbe Treppe" frisst ihn auf. Er liebt seine Familie: Seine Frau Ellen, die in einer Boutique Parfüm verkauft, und seine beiden Kinder. Unter dem Zwang, Geld zu verdienen, bleibt ihm aber keine Zeit mehr, um Luft zu holen. An meist unbeholfenen kleinen Aufmerksamkeiten merkt man, dass Uwe versucht, gegen das Abstumpfen anzukämpfen. Doch der Druck der Arbeit und des Alltagslebens ist zu groß.

Chris moderiert beim örtlichen Lokalsender. Seine Morgensendung holt die Menschen der Region aus dem Bett und bereitet sie mit Schlagern, flotten Durchhalteparolen und Horoskopen auf den bevorstehenden Arbeitstag vor. Sein stets zu einem optimistischen "Hey!" zurechtgelegter Gesichtsausdruck verändert sich, sobald er das Mikro aus der Hand legt. Plötzlich ist da ein innerlich bedrückter und mit sich selbst unzufriedener Mensch. Er teilt den Optimismus nicht, den er jeden Tag verbreiten muss, hat keine Ideale mehr, ist ausgebrannt.

Um der Leere und dem abgestumpften Eheleben mit Katrin zu entfliehen, die in einer Autobahnraststätte arbeitet, beginnt Chris ein Verhältnis mit Uwes Frau. Mit Chris glaubt sich Ellen einer gepflegten, kultivierten Atmosphäre näher, die sie zu Hause völlig vermisst - Uwe lagert die schmierigen Eisbeine für den Imbiss in ihrer Badewanne. Sie erkennt nach einer Weile, dass der im Umgang gewandte Radiomoderator ein geistig träger und desillusionierter Mensch ist, der keine selbständige Entscheidung treffen kann, und verlässt ihn. Uwe empfängt sie daraufhin freudestrahlend mit einer "Überraschung". Als er ihr eine nagelneue, von ihm selbst aufgestellte Küche mit den Worten "Neue Küche, neues Glück" präsentiert, verliert er sie, die nicht für den Rest ihres Lebens an den Herd gebunden sein will, damit endgültig.

Erst durch Ellen ist Chris offenbar bewusst geworden, dass er mit seinen täglichen hohlen Sprüchen das Bewusstsein seiner Hörer beeinflusst. Er ist baff, als sie erklärt, sie richte sich nach seinen Horoskopen, die er je nach Lust und Laune aus der Luft greift. Dass Leute das ernst nehmen können, was er einfach nur so in den Äther schwafelt, hätte Chris nicht für möglich gehalten. Seine Ansagen verändern sich von da an, werden düsterer, seine Horoskope bekommen einen apokalyptischen Ton. Der Appell an seine Frau, die er zurückgewinnen will, wird zu einem bewegenden Appell an seine Hörer, sich nicht davon abhalten zu lassen, die eigenen Sehnsüchte zu erfüllen, und dafür auch bereit zu sein, Brücken hinter sich abzubrechen - "zu reisen". Zum ersten Mal lässt Chris seine Hörer spüren, dass er sich ihnen zugehörig fühlt, und ermutigt sie, ihr Leben zu ändern und für ihre Überzeugungen einzustehen.

An dieser Stelle wird der Film etwas schal. Durch die Gestalt des Chris wendet sich Dresen gegen die Resignation, aber die angebotene Alternative ist allzu schwach und abgedroschen - denk positiv, erweitere deinen Horizont und zeig Verständnis für deine Mitmenschen, schließlich teilen wir alle das allgemeine Leid.

Eine tragende Rolle kommt im Film der Musik zu. Sie ruft ein allgemeines Gefühl der Rastlosigkeit und Sehnsucht nach Harmonie und einem erfüllten Leben hervor. Aus einem einsamen Straßenmusikanten vor Uwes Imbiss, der froh ist, einen Platz gefunden zu haben, an dem er nicht sofort vertrieben wird, wird schnell ein kleines Orchester von Musikern. Die Musik verfolgt Uwe in seine eigenen vier Wände. Er verjagt die Musiker nicht, wie man vielleicht zuerst vermuten würde, sondern lädt sie schließlich zum Spielen in seinen Imbiss ein.

Im Taumel der mitreißenden Polka-Rhythmen scheint sich der schnapstrinkende, verwahrloste Arbeitslose mit schwarzem Vollbart plötzlich in eine jener Bauernfiguren des Balkans zu verwandeln, wo, so will es das Klischee, viel getrunken und getanzt wird und die Musik alle Wunden heilt.

Dresens Medizin gegen die Übel des Alltagslebens erinnert an die Formen des Protests, die in den letzten Jahren der DDR recht beliebt und verbreitet waren. Andreas Dresen ist in der DDR aufgewachsen und studierte in Babelsberg bei Potsdam unter Lothar Bisky, der damals die Filmakademie leitete und bis vor kurzem Vorsitzender der PDS war.

Zu Beginn der 1980-er Jahre ergoss sich eine Folk-Welle über die DDR und ein Teil der Jugend, die von der Farblosigkeit und den Beschränkungen des Alltagslebens in dem stalinistischen Land frustriert und abgestoßen war, versuchte sich in eine Traumwelt zu flüchten, indem sie die Vorzüge eines "idealen" Bauernleben in der Natur pries. Diese Bewegung nahm teilweise recht alberne und peinliche Formen an.

Da es der DDR nicht möglich war, einen Lebensstandard wie im Westen anzubieten, rühmte die ostdeutsche Bürokratie gleichzeitig die "moralischen Werte" und eine abstrakte Solidarität, um die Krise zu verschleiern, die die bornierten und nationalistischen Anschauungen der herrschenden Kaste hervorgerufen hatten.

Andreas Dresens sichtbares Mitgefühl für seine Charaktere ist ihm hoch anzurechnen und steht in scharfem Kontrast zu dem Zynismus, der viele der populären Kinofilme beherrscht. Allerdings ist Mitgefühl, im Film wie im Leben, nicht genug. Dresens sehr intimer Film, der kein Drehbuch hatte und mit einem schmalen Budget und begrenzten technischen Ressourcen auskommen musste, läuft Gefahr, ein Publikum zu bedienen, das auf jede konstruktive geistige Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Gegenwart und Zukunft verzichtet und statt dessen einen schwammigen Humanismus und die Spontaneität hochhält.

Siehe auch:
52. Berliner Filmfestspiele - Erwartetes Revival des deutschen Films bislang nicht in Sicht
(2. März 2002)
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