Am 25. Oktober wurde der milliardenschwere russische Ölmogul Michail Chodorkowski wegen Steuerhinterziehung und Korruption verhaftet; die Anklagen bezogen sich auf den Diebstahl an Staatseigentum im großen Stil, mit dem der Privatisierungsprozess der frühen neunziger Jahre durchgesetzt worden war.
Die Verhaftung hat in den amerikanischen Medien einen Aufschrei der Empörung ausgelöst. Mehrere Leitartikel großer Tageszeitungen bezeichneten die Inhaftierung Chodorkowskis - des achtreichsten Mannes der Welt mit einem auf über acht Milliarden Dollar geschätzten Vermögen - als "autoritären" Akt, als Bedrohung für die "Demokratie" und sogar als Rückkehr zu den Polizeistaatsmethoden der Stalin-Ära in der Sowjetunion.
"Nach langen Bemühungen, sich das Image eines vernünftigen, gesetzestreuen Staatsmanns zu verschaffen, ist der russische Präsident Wladimir Putin zu der rachsüchtigen Gewaltmethoden seines alten Arbeitgebers, des KGB, zurückgekehrt", erklärte die New York Times in einem Leitartikel vom 29. Oktober. "Herr Putin ist nicht länger bereit, den prominentesten Tycoon mit Hilfe der Gerichte zu verfolgen, und hat vermummte Agenten losgeschickt, um den Industriemagnaten festzusetzen." Dann zitierte die Zeitung weltweite Befürchtungen, dass "der Kreml sein wahres, autoritäres Gesicht" zeige.
Die Washington Post behauptete in einem Leitartikel vom 28. Oktober, die Verhaftung zeige, dass "niemand vor willkürlicher Verfolgung oder vor den politischen Launen des Kreml sicher" sei. "Wenn die russische Regierung alle wohlhabenden Geschäftsleute verhaften wollte, um sie für die Gesetzesbrüche, die sie in den letzten zehn Jahren bei der Anhäufung von Kapital begangen haben, zur Rechenschaft zu ziehen, dann wären noch weit mehr Menschen hinter Gittern", erklärte die Post.
Im gleichen Sinne verteidigte Leon Aron, der Direktor für russische Studien am American Enterprise Institute, in einem Gastkommentar der New York Times Chodorkowski: "... es ist wahrscheinlich, dass er in den neunziger Jahren einige Gesetze übertreten hat. Aber in der chaotischen russischen Wirtschaft jener Zeit, als der Staat seinen Besitz im großen Stil privatisierte, gab es in Russland kein größeres Geschäft, das clean' war - und je größer der Konzern, desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass er die Gesetze übertrat."
Ein Sprecher des US-Außenministeriums legte nahe, Chodorkowskis Verhaftung sei ein Fall von "selektiver Verfolgung", und fügte hinzu: "Wir fürchten um den Rechtsstaat, um die Aufrechterhaltung der grundlegenden Freiheit der Russen."
Die besorgten Äußerungen nahmen noch zu, als die russische Regierung etwa 44 Prozent der Aktien an Chodorkowskis riesigem Öl-Konzern Jukos einfror. Dieser gab am Montag seinen Rücktritt vom Posten des Vorstandsvorsitzenden des Konzerns bekannt; offensichtlich war er bemüht, Jukos vor weiteren Schritten der Regierung zu schützen und vielleicht einen Vergleich über seine Freilassung zu erreichen.
Die Empörung über die Verhaftung eines einzelnen Individuums - das zufällig Milliardär ist - übersteigt alles, was die großen Medien und die Bush-Regierung zu bisherigen Aktionen der Putin-Regierung geäußert haben. Dabei haben diese viel mehr Anlass zu beunruhigenden Fragen nach Freiheit, Demokratie und autoritärem Regierungsstil in Russland geboten. Zum Beispiel blieb ein vergleichbarer Proteststurm aus, als die russische Geheimpolizei vor einem Jahr ein Moskauer Theater stürmte, über hundert Geiseln mit Giftgas tötete und über fünfzig tschetschenische Separatisten kaltblütig exekutierte. Auch haben sich die Medien nicht übermäßig über das Terrorregime in Tschetschenien selbst erregt, und ebenso wenig über die Zehntausenden, die dort in Putins Regierungszeit gestorben sind.
Was die Proteste der Times betrifft, das Putin-Regime habe "vermummte Agenten" losgeschickt, um den Ölmagnaten zu verhaften, anstatt ihn mit Hilfe der Gerichte zu verfolgen, war es in Wirklichkeit so, dass Chodorkowski eine gerichtliche Vorladung, Fragen des Staatsanwalts zu beantworten, missachtet hatte. Ein solches Verhalten zieht in den meisten Ländern die Verhaftung nach sich - wenn es auch selten, wenn überhaupt jemals, zur Verhaftung von Milliardären kommt.
Das Argument, so hätten es "alle gemacht", deshalb sei die Verhaftung Chodorkowskis ungerecht, geht schweigend darüber hinweg, was "alle gemacht" haben. Der Hinweis, es seien "Gesetze übertreten" worden, erwecket den Eindruck, der Milliardär habe es versäumt, ein Formular des Finanzministeriums auszufüllen. Er gibt keinen Begriff der kriminellen Machenschaften, mit denen eine Handvoll Gangster mit politischen Verbindungen dem Volk den gesamten kollektiven Besitz eines Landes stahl, das zu den größten der Welt gehörte.
Unter anderem gibt es Vorwürfe, Jukos und dessen Vorsitzender hätten mit mehreren Morden und Mordversuchen an Beamten und Geschäftspartnern zu tun, die dem Konzern im Wege standen. Einer dieser Morde wurde an Chodorkowskis Geburtstag begangen und soll ein Geschenk für den Ölmogul gewesen sein.
Chodorkowski begann seine Karriere als stalinistischer Bürokrat im sowjetischen Bund Junger Kommunisten, dem Komsomol. 1987 nutzte er seinen Einfluss in einem Komsomol-Bezirkskomitee zur Gründung eines Wirtschaftsunternehmens namens Menatep, das angeblich Erfindungen und industrielle Innovationen fördern sollte. Während der kapitalistischen Restauration, die sich unter Gorbatschows Perestroika immer schneller entwickelte, wurde dieses Unternehmen in eine Handelsunternehmen umgewandelt, und danach in eine Bank, die in aller Stille unkontrolliert Staatsgelder übernahm. Später verkaufte es Aktien und versprach Dividenden, die niemals ausbezahlt wurden.
Als in den neunziger Jahren die Privatisierung im großen Stil durchgeführt wurde, benutzte Chodorkowski diese Gelder, die er dem Staat und unvorsichtigen Investoren gestohlen hatte, um mit seinen Freunden im Kreml Deals abzuschließen, die ihm den Kauf riesiger ehemaliger staatlicher Industriekomplexe und Chemiewerke zu einem Bruchteil ihres wirklichen Wertes ermöglichten. 1995 gelang es ihm zum Beispiel, dem Staat für 300 Millionen Dollar Jukos abzukaufen. Der Marktwert dieses Konzerns liegt heute bei geschätzten dreißig Milliarden - eine hundertfache Steigerung.
Chodorkowski war der größte Gewinner, als etwa siebzig Prozent des Reichtums der ehemaligen Sowjetunion in den Privatbesitz von kaum einem Dutzend Individuen überging. Damit verbunden war die massenhafte Stillegung von Industriebetrieben, die Vernichtung von Millionen von Arbeitsplätzen und der Transfer von mehreren Hundert Milliarden Dollar ins Ausland. Für die breite Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung der ehemaligen Sowjetunion war der Prozess, der aus Chodorkowski einen der reichsten Männer der Welt machte, eine blanke Katastrophe und führte zu einer einzigartigen Vernichtung von Arbeitsplätzen und Einkommen.
Die russische Regierung schätzt, dass 31 Millionen Russen - über zwanzig Prozent der Bevölkerung - heute von weniger als fünfzig Dollar im Monat leben müssen. Eine kürzlich veröffentlichte Untersuchung der Vereinten Nationen gelangt zum Schluss, dass die Hälfte der Bevölkerung des Landes in Armut lebt. Das statistische Amt des russischen Staates hat letztes Jahr veröffentlicht, dass über vierzig Millionen Russen regelmäßig an Unterernährung leiden. Die soziale Polarisierung in Russland ist mit der in Lateinamerika vergleichbar; die Zerstörung der Lebensbedingungen und des staatlichen Gesundheitssystems haben die Lebenserwartung im Land unter 57 Jahre absinken lassen und zu einem Bevölkerungsverlust geführt, wie es ihn sonst nur in Kriegs-, Seuchen- und Hungersnotzeiten gibt.
Ohne Zweifel stecken hinter der Verfolgung Chodorkowskis starke politische Motive. Erstens gibt es Hinweise darauf, dass er seinen enormen persönlichen Reichtum zur Finanzierung von Oppositionsparteien in Russland nutzt. Damit hat er offensichtlich eine stillschweigende Übereinkunft zwischen den sogenannten Oligarchen und der Kreml-Führung gebrochen, dass sich die Oligarchen aus der Politik heraushalten und der Staat sich im Gegenzug nicht für die dubiose Herkunft ihrer Vermögen interessiert.
Zweitens verfolgte er mit seiner Ölfirma Jukos eine Art eigene Außenpolitik in Zusammenarbeit mit Washington und den amerikanischen Ölkonzernen Chevron und Exxon, die angeblich über eine bis zu 50-prozentige Übernahme der Jukos-Anteile verhandelten. Die russische Firma hat Pläne bekannt gegeben, ein eigenes Pipeline-Netz aufzubauen und so das Staatsmonopol über die Ölpipelines zu brechen und die Ölströme umzulenken. Um solche Fragen sind in der Region schon Kriege geführt worden.
Man sollte nicht übersehen, dass die mögliche Fusion, Chodorkowskis politische Beziehungen zum Weißen Haus und die Empörung in den amerikanischen Medien eng zusammenhängen. Vor ihrer Ernennung zur Nationalen Sicherheitsberaterin war Condoleezza Rice Mitglied des Aufsichtsrats von Chevron. Sie hatte diesen Posten vor allem deshalb bekommen, weil sie Russland-Expertin ist. Der leitende Redakteur der New York Times, Bill Keller, der als Autor des Kommentars gilt, der die Verfolgung des Ölmoguls durch die russischen Strafverfolgungsbehörden verurteilt, ist selbst der Sohn eines ehemaligen Vorstandvorsitzenden von Chevron.
Schließlich ist die Staatsaktion gegen Chodorkowski eine politisch populäre Maßnahme, die Putin wohl deshalb ergriffen hat, um seine Chancen bei den Parlamentswahlen zu verbessern, die im Dezember stattfinden werden. Diejenigen, die gegen die Verhaftung des Ölmoguls protestieren und die Unverletzlichkeit der Demokratie beschwören, übersehen, dass die Mehrheit der russischen Bevölkerung am liebsten alle verbrecherischen Oligarchen hinter Gittern sähe und sich wünscht, sie würden für das soziale Elend bestraft, das sie zu verantworten haben.
Dies liegt sicherlich nicht in Putins Absicht. Er ist selbst eine Schöpfung dieser Oligarchen, dazu bestimmt, einen starken Staat zu schaffen, im ihre Interessen zu verteidigen. So hat er immer wieder betont, es liege ihm fern, den gesamten Privatisierungsprozess der neunziger Jahre in Frage zu stellen. Der Konflikt mit Chodorkowski ist ein Streit unter Ganoven.
Die empfindliche Reaktion der US-Medien und -Regierung auf die Chodorkowski-Affäre hat ihre Ursache sowohl in der beträchtlichen geopolitischen Bedeutung Russlands, als auch in viel näherliegenden Erwägungen im eigenen Land.
Der Fall Chodorkowski verurteilt implizit den gesamten Prozess, der zur Herausbildung der heutigen siebzehn russischen Milliardäre führte - die Zerstörung der Sowjetunion und die Restauration des Kapitalismus - als kriminelles Unternehmen. Beteiligt daran war nicht nur die Handvoll Individuen, die zu russischen "Oligarchen" wurden. Die stalinistische Bürokratie und der Weltkapitalismus führten diese brutale und räuberische Operation gemeinsam aus.
Wird die Legitimität der Restauration des Kapitalismus in der ehemaligen UdSSR in Frage gestellt, wirft dies nicht nur einen Schatten auf den Reichtum, den Chodorkowski und ähnliche Elemente in Russland angehäuft haben, sondern auch aufdie viel größeren Profite der Banken und Finanzmakler in den USA und Europa. Sie waren die hauptsächlichen Nutznießer der massiven Kapitalflucht, die in den neunziger Jahren begann und bis heute weitergeht. Hunderte Milliarden von Dollars wurden dem Volk der ehemaligen Sowjetunion gestohlen.
Auch die kriminellen Methoden, mit denen der Kapitalismus in der UdSSR wieder eingeführt wurde, sind keineswegs einzigartig. Sie sind vielmehr ein konzentrierter Ausdruck von Tendenzen, die weltweit zu beobachten sind. In den vergangenen zwei Jahrzehnten war die "freie Marktwirtschaft" auf der ganzen Welt, und besonders in den USA, durch eine enorme Umverteilung des Reichtums von der arbeitenden Bevölkerung in die Taschen einer relativ kleinen Schicht von Multimillionären und Milliardären charakterisiert. Die Folgen - sinkender Lebensstandard, die Zerstörung von Arbeitsplätzen, Gesundheitsversorgung und Sozialstaat, zunehmende Armut und Ungleichheit - sind ebenfalls gemeinsame Erscheinungen des gesellschaftlichen Lebens in Amerika, Russland, und der ganzen Welt.
Genauso wenig ist die Kriminalität der russischen Oligarchen eine Anomalie. In den USA haben Konzernvorstände und Wall Street Finanziers obszöne Vermögen angehäuft, indem sie die Firmen und Fonds, für die sie verantwortlich waren, gnadenlos ausgeplündert und sich selbst Hunderte Millionen Dollar zugeschanzt haben.
Die Skandale um Enron, WorldCom, Global Crossing, Tyco und einige andere Firmen haben gezeigt, dass sich eine winzige Schicht an der Spitze der Gesellschaft bereicht hat, indem Investoren betrogen und die Arbeitsplätze, Rentenfonds und Lebensversicherungen von Millionen Menschen vernichtet wurden. Die kriminellen Methoden im eigenen Land finden ihre Entsprechung in der illegalen Aneignung des Ölreichtums des Irak. Hinter beidem steht eine tiefreichende Krise des Profitsystems und der Versuch der herrschenden Elite, dieser Krise entgegenzuwirken.
"Hinter jedem großen Vermögen steht ein Verbrechen," sagte Balzac im 19. Jahrhundert. Nie war dieser Aphorismus so zutreffend wie heute in Russland und den USA. Die übertriebene Sorge um das Schicksal Chodorkowskis hat ihre Wurzeln im Gefühl der herrschenden Elite in den USA und anderswo, dass "es uns genauso treffen könnte". Hinter den Krokodilstränen, die im Fall Chodorkowski für Demokratie und Freiheit vergossen werden, steckt eine nicht zu übersehende Furcht dieser Schicht vor den unvorhergesehenen und weitreichenden Folgen, die ein Infragestellen des kriminellen Ursprungs der angehäuften Reichtümer in Russland oder anderswo haben könnte.