Am Donnerstag letzter Woche einigten sich die Geschäftsleitung des Siemens-Konzern und die Gewerkschaft IG Metall über einen Ergänzungstarifvertrag für die 4.000 Beschäftigten in den Siemenswerken Bocholt und Kamp-Lintfort.
Er sieht vor, dass ab dem 1. Juli 2004 wieder 40 Stunden und zwar ohne Lohnausgleich statt bisher 35 Stunden pro Woche gearbeitet werden muss. Das bedeutet 5 Stunden kostenlose Mehrarbeit pro Woche für jeden Beschäftigten. Weihnachts- und Urlaubsgeld - bisher eine tarifvertraglich abgesicherte Leistung - fallen weg und sollen durch eine erfolgsabhängige Jahreszahlung ersetzt werden. Das Versprechen der Geschäftsleitung, unter diesen Bedingungen die Arbeitsplätze an beiden Standorten, an denen Handys und schnurlose Telefone gefertigt werden, für zwei Jahre zu sichern, ist nicht mehr als eine Absichtserklärung.
Dieser Tarifabschluss bedeutet nicht nur, dass bereits in wenigen Tagen eine drastische Verschlechterung für die Arbeiter und Angestellten in diesen Werken in Kraft tritt, sondern er leitet einen Generalangriff auf die Löhne und Arbeitsbedingungen aller Beschäftigten ein.
Nur knapp zwei Monate nach dem am 1. Mai mit großem Tamtam die EU-Osterweiterung gefeiert wurde, zeigt sie mit diesem Tarifabschluss ihr wahres Gesicht. Monatelang hatte der Siemens-Vorstands damit gedroht, mindestens 2000 Arbeitsplätze aus den Werken in Nordrhein-Westfalen nach Ungarn zu verlagern, da dort die Produktionskosten aufgrund der wesentlich niedrigeren Löhne und schlechteren Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten um ein Drittel günstiger als in Deutschland seien.
Laut einem Vorstandsmitglied von Siemens bedeutet die Vereinbarung für längere Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich und die gleichzeitigen Zugeständnisse durch den erzwungenen Verzicht auf Weihnachts- und Urlaubsgeld, dass in den beiden Werken eine Senkung der Arbeitskosten um knapp ein Drittel erreicht worden sei. Handys und schnurlose Telefone könnten dort jetzt pro Stück um fünf Euro billiger gefertigt werden, was etwa dem Kostenniveau Ungarns entspreche. Bisher sei dem Konzern bei der Produktion von Handys nur ein Gewinn von 1 Euro pro Stück verblieben. Aufgrund der Neuregelung werde eine Versechsfachung des Gewinns pro Handy erreicht.
Allein bei Siemens soll der für die Werke in Bocholt und Kamp-Lintfort abgeschlossene Vertrag Modell sein für die Verhandlungen bei vier anderen von Schließung oder Verlagerung bedrohten Werken in Bruchsal, Kirchheim/Teck, Karlsruhe und Nürnberg.
Darüber hinaus versucht der Siemens-Vorstand im Rahmen einer größeren Umorganisation für etwa 19.000 Beschäftigte im Vertrieb und Servicebereich zunächst eine Erhöhung der Arbeitszeit von jetzt 35 auf 38,5 Stunden pro Woche durchzusetzen, möglichst ab Beginn des nächsten Jahres. Auch hier werden weitere Kostensenkungen durch Verzicht auf Weihnachts- und Urlaubsgeld verlangt und darauf verwiesen, dass die IG Metall und die zuständigen Betriebsräte bereits vor sechs Jahren entsprechenden Verschlechterungen für 12.000 Arbeiter und Angestellte in teilweise ausgegliederten Unternehmensbereichen zugestimmt hatten.
Lohnsenkung auf breiter Front
Das Signal, das von diesem Tarifabschluss ausgeht, ist verheerend. Aus allen Teilen der Industrie, des Dienstleistungsbereichs, des Handwerks, der Deutschen Bahn und der Politik werden die Forderungen nach Wiedereinführung der 40 Stunden-Woche oder generell längeren Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich immer lauter.
Vertreter von Industrie- und Handwerksverbänden lobten die Vereinbarung zwischen Siemens und IG Metall als einen Abschluss mit Signalcharakter, da er die Unternehmen international wettbewerbsfähiger machen würde. Der stellvertretende Fraktionsvorsitzende der SPD, Ludwig Stiegler, äußerte sich gegenüber der Süddeutschen Zeitung voller Genugtuung über die "Bereitschaft der IG Metall zu flexiblen Lösungen" und erklärte: "In der Praxis muten die Gewerkschaften den Menschen mehr zu als wir mit unserer Agenda 2010."
Bei DaimlerChrysler finden derzeit zwischen Gewerkschaft und Vorstand ähnliche Verhandlungen wie bei Siemens statt. Hier sollen nach Angaben des Betriebsrats und der IG Metall 10.000 Stellen bedroht sein. Siemens wie auch DaimlerChrysler berufen sich bei ihrer Erpressung der Belegschaft auf eine Klausel in dem im Frühjahr abgeschlossenen Tarifvertrag mit der IG Metall. Sie ermöglicht der Metallindustrie in bestimmten Fällen eine Erhöhung der Arbeitszeit von 35 auf 40 Stunden, wenn der Betriebsrat zustimmt.
Aber auch in Bereichen außerhalb der Metallindustrie erklären die Verhandlungsführer der Unternehmen, dass künftig nicht mehr über Lohnerhöhungen, sondern nur noch über Verlängerung der Arbeitszeiten ohne Lohnausgleich und weitere Kostensenkungen verhandelt werde.
In der Tourismusbranche mit etwa 70.000 Beschäftigten sollen in der laufenden Tarifrunde Verschlechterungen für die Beschäftigten durchgesetzt werden, die bisher unvorstellbar waren. So soll zum Beispiel beim sogenannten fliegenden Personal einiger Reiseunternehmen 30 Prozent Mehrarbeit bei 15 Prozent weniger Gehalt durchgesetzt werden. Das Management von Condor, der Fluglinie von Thomas Cook, will bis Ende 2005 80 Millionen Euro bei den Personalkosten einsparen.
Die Rolle der IG Metall
Während Tausende Arbeiter und Angestellte in Bocholt und Kamp-Lintfort und vielen anderen Niederlassungen gegen die Drohungen und Zumutungen des Siemens-Managements und für die Verteidigung ihrer Arbeitsplätze demonstrierten - allein am 18. Juni beteiligten sich über 10.000 an Protestaktionen - nutzte die IG Metall diese Proteste nur als Hintergrundkulisse für ihre Verhandlungen mit dem Siemens-Vorstand.
Die Rolle der Gewerkschaftsfunktionäre besteht darin, die Erpressung seitens der Geschäftsleitung nach unten weiterzugeben und durchzusetzen. Zu keinem Zeitpunkt waren sie bereit, einen gemeinsamen Kampf mit den Arbeitern in Ungarn und anderen Ländern Osteuropas zu organisieren. Stattdessen beauftragte die IG Metall in Bocholt selbst eine Unternehmensberatungsfirma, um prüfen zu lassen, was an Flexibilisierung und Rationalisierung erforderlich sei, um die Kostenvorteile der Produktion in Osteuropa wettzumachen.
Das Ergebnis dieser Untersuchung, das darin bestand, dass Mehrarbeit allein nicht ausreiche, sondern weitere Zugeständnisse von Seiten der Belegschaft notwendig seien, nutzten IG Metall und Betriebsräte dann, um der Belegschaft längere Arbeitszeiten und Lohnverlust als unvermeidbar aufzuzwingen. Gleichzeitig behaupteten die IGM-Funktionäre, die völlig unverbindliche Zusage des Siemens-Vorstands unter den veränderten Bedingungen, die Werke in den nächsten zwei Jahren nicht zu schließen, sei ein großer Erfolg.
Mit einem einzigen Federstrich und ohne jeglichen ernsthaften Arbeitskampf gibt damit die Gewerkschaft ihre Forderung nach Arbeitszeitverkürzung auf, die sie in den vergangenen Jahrzehnten als Zentrum ihrer Tarifpolitik bezeichnete. Die Einführung und Erkämpfung der 35 Stundenwoche, die ursprünglich als Hauptinstrument im Kampf gegen die Arbeitslosigkeit bezeichnet wurde, dauerte viele Jahre und erforderte mehrere große Arbeitskämpfe. Im Winter 1978/79 streikten die Stahlarbeiter sieben Wochen lang für Arbeitszeitverkürzung. Fünf Jahre später folgten weitere wochenlange Streiks in der Metallindustrie in Baden-Württemberg, bevor ein Einstieg in die Verkürzung der Wochenarbeitszeit erreicht wurde.
Die Entwicklung bei Siemens und die enge Zusammenarbeit der Gewerkschaft bei den Angriffen auf die Beschäftigten macht deutlich, wie tiefgreifend sich die gesellschaftlichen Verhältnisse geändert haben. Um die Angriffe der Unternehmer zurückzuschlagen braucht die Arbeiterklasse ein neues Programm und eine neue Partei, die den Kampf für die internationale Vereinigung der Arbeiter in Zentrum stellt und eine sozialistische Perspektive vertritt, die die Bedürfnisse der Bevölkerung an die erste Stelle setzt und den Profitinteressen der Konzerne überordnet.