Marxismus und der Holocaust

Dies ist eine Ergänzung zum Vortrag “Der Imperialismus und die politische Ökonomie des Holocaust”, den Nick Beams am 29. April an der San Diego State University gehalten hat.

 

Der Zusammenbruch der osteuropäischen stalinistischen Regimes und die Liquidierung der Sowjetunion zu Beginn der 1990er Jahre schickten Wellen des Triumphes durch politische und akademische Kreise des Bürgertums. Dies wurde als das Ende des Sozialismus, der Tod des Marxismus, ja, gar als das Ende der Geschichte selbst gesehen. Dabei spielte es keine Rolle, dass diese Regimes gar nicht sozialistisch waren, dass die stalinistische Bürokratie in der UdSSR ihre Macht – in viel größerem Umfang als Hitler - durch den Massenmord an der marxistischen Intelligenz gefestigt hatte und dass die Marxisten, allen voran Leo Trotzki, in den 1930er Jahren vorausgesagt hatten, dass die Stalinisten den Kapitalismus in Russland restaurieren würden, wenn die Arbeiterklasse sie nicht stürzte.

Dieser ignorante Jubel erfasste auch „linke“ akademische und marxistische Kreise, besonders jene, die sich einer Untersuchung des Holocaust widmeten. Der Marxismus, so hieß es, könne keine Erklärung für diese Katastrophe liefern. Da es sich bei ihm um eine aufklärerische Sichtweise des menschlichen Fortschritts handle, sei der Marxismus außerstande, den systematischen Massenmord an europäischen Juden begreifbar zu machen. Wie in aller Welt sollte er eine materialistische Analyse dieser historischen Katastrophe liefern? Wo war die zugrunde liegende ökonomische Motivation – selbst als „letztendliches Motiv“? Es sei unmöglich, den Holocaust mit den Begriffen der Klassenanalyse zu erklären. Etwas viel Grundlegenderes, eine Untersuchung der menschlichen Natur und ihres Hangs zum Bösen – sei vonnöten und der Marxismus konnte sie nicht liefern.

Diese Haltungen spiegelten weniger die Unzulänglichkeiten des Marxismus im Verständnis des Holocaust wider, als viel mehr die Unfähigkeit ihrer Autoren, den Marxismus zu verstehen – den sie mit mechanistischen Karikaturen verwechselten – und die Abwendung dieser Autoren von einmal gehaltenen sozialistischen Überzeugungen hin zu bürgerlicher Politik. Nicht zum ersten und ganz sicher nicht zum letzten Mal veranlasste eine plötzliche Wendung in der Situation eine Anzahl von Intellektuellen zur Fahnenflucht. Dem Marxismus, so behaupteten sie, war es nicht nur misslungen, den Holocaust zu erklären, sein bloßes Auftauchen stelle die marxistische Konzeption, dass der Sozialismus aus grundlegenden historischen und ökonomischen Prozessen heraus entstand, in Frage. Der mechanisierte Völkermord an den Juden habe gezeigt, dass dies eine falsche Konzeption war – die Entwicklung der modernen Gesellschaft mündete nicht im Sozialismus, sondern konnte sehr wohl auch in die Barbarei führen.

Ein Blick auf zwei Repräsentanten dieser Schule, Enzo Traverso und Norman Geras, wird helfen, einige der grundlegenden Fragen, die Gegenstand meines Vortrages waren, zu klären. In einem 2001 veröffentlichten Aufsatz erklärte der führende Theoretiker der britischen Socialist Workers Party, Alex Callinicos, diese beiden Autoren hätten in den vergangenen Jahren „einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung einer eindeutig marxistischen Antwort auf den Holocaust gemacht. Das Gegenteil ist in Wirklichkeit der Fall. Statt den Marxismus weiterzuentwickeln, versuchen sie, ihn zu untergraben.

Enzo Traverso, 1957 in Italien geboren, kam in seiner Jugend als Mitglied einer sogenannten “ultralinken” Organisation mit der Politik in Berührung. Nachdem er 1985 nach Frankreich gezogen war, wurde er Mitglied der Ligue Communiste Révolutionnaire. Er war ein bekannter Anhänger des verstorbenen Ernest Mandel, des einstigen theoretischen Kopfes der internationalen pablistischen Tendenz, die in den frühen 1950er Jahren mit dem Trotzkismus brach. In seinem Buch „Den Nazi-Völkermord verstehen – der Marxismus nach Auschwitz“ macht Traverso klar, wie sehr er den Marxismus als Methode historischer Analyse und als Grundlage politischer Perspektive ablehnt.

In der Einleitung schreibt er: “Zwischen Gleichberechtigung und Völkermord kann die Geschichte des europäischen Judentums in ihrer Wandlung, wie auch in ihren Verletzungen, als ein hervorragendes Labor angesehen werden, in dem sich die verschiedenen Gesichter der Moderne studieren lassen: Ihre Hoffnungen und Freiheitsbestrebungen auf der einen Seite, ihre zerstörerischen Kräfte auf der anderen. Dieser Teil der Geschichte zeigt sowohl die Zweischneidigkeit der Aufklärung und ihrer Erben, einschließlich des Marxismus, wie auch die extremen Formen der Barbarei, die die moderne Zivilisation annehmen kann.“

Diese Herangehensweise, in der die “Moderne” für die Verbrechen an dem jüdischen Volk verantwortlich gemacht wird – man könnte auch sagen, an der Menschheit, begangen am Körper des jüdischen Volkes – spielt eine sehr wichtige politische Rolle. Sie verschleiert die politischen Kräfte und die gesellschaftlichen Klassen, in deren Interesse sie handeln, und die in Wahrheit verantwortlich sind. Die „Moderne“ ist eine leere Abstraktion, die die Einteilung der Gesellschaft in Klassen und den Klassenkampf verleugnet.

Was die Gleichberechtigung der Juden angeht, so zeigt die europäische Geschichte, dass die Juden Westeuropas von der Zeit der Französischen Revolution an durch die ersten drei Viertel des neunzehnten Jahrhunderts hindurch eine Zunahme ihrer demokratischen und Bürgerrechte erlebten. Aber vom letzten Viertel des Jahrhunderts an, mit der Entwicklung der Großen Depression, die 1873 begann, und dem Aufstieg des Kapitalismus und des Militarismus, sehen wir ein klare Veränderung – den Aufstieg eines neuen und „modernen“ Antisemitismus, der sich eher auf rassistische und nationalistische Lehren stützte als auf religiöse. Davor war die Gleichberechtigung mit der wachsenden Macht der liberalen Bourgeoisie verknüpft, die die Fesseln des ancien régime sprengte. Der neue Antisemitismus war verknüpft mit den Veränderungen, vor die die Bourgeoisie sich gestellt sah – eine Widerspiegelung ihrer zunehmenden Angst und Feindschaft gegenüber der aufstrebenden Arbeiterbewegung und dem Anwachsen des Marxismus. Die Verteidigung der Rechte der Juden wurde zunehmend von der sozialistischen Bewegung und der Arbeiterbewegung aufgegriffen.

Durchgängiger Grundgedanke in Traversos Analyse ist es, der “Moderne” die Schuld am Holocaust zuzuweisen. In einem Artikel, der am 15. Februar 2005 zum 60. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz-Birkenau in Le Monde Diplomatique erschien, weist er auf den verschärften Nationalismus und die „Rassenbiologie“ der Nationalsozialisten hin, auf die „in der Kultur und der Praxis des Imperialismus“ etablierten Präzedenzfälle, die Tatsache, dass der Lebensraum „die alte Welt des Modells kolonialer Herrschaft nur ersetze, die andere Großmächte in Afrika und Asien verfolgt hatten“ und dass „die Zerstörung der Sowjetunion und die Ausrottung der Juden einander ergänzende Ziele waren, die zusammen in einem einzigen Krieg mündeten.“

Aber der Begriff “Kapitalismus” kommt in diesem Aufsatz von insgesamt 1700 Worten nicht ein einziges Mal vor. Der Nationalsozialismus, so schreibt Traverso, „war tief in der Geschichte, der Kultur und der Technologie der modernen Welt und in modernen Formen der Organisation, der Produktion und der Herrschaft verwurzelt.“

Für Traverso kommt jegliche Klassenanalyse von Anbeginn an nicht in Frage. „In Auschwitz sehen wir einen Völkermord, bei dem der Rassenhass gewissermaßen das ausschließliche Motiv war, ausgeführt unter kompletter Missachtung jeglicher ökonomischer, politischer oder militärischer Erwägungen.“

In einem früheren Werk weist Traverso in ausführlicherer Form auf den gleichen Punkt hin: „Man sollte nicht vergessen, dass einige marxistische Historiker seit den sechziger Jahren in Frage gestellt hatten, dass dem Nationalsozialismus ein inneres ökonomisches Grundprinzip zugrunde lag. Für Tim Mason konnten die grundlegenden Wahlmöglichkeiten und die gesamte Handlungsweise des nationalsozialistischen Systems nur in Begriffen des „Primats der Politik“ erklärt werden. Auch wenn diese Interpretation der allgemeinen Dynamik des Nationalsozialismus ein wenig problematisch erscheint, erweist sie sich doch als nützlicher als die „materialistischen“ Erklärungen, um zu den Wurzeln der Shoah vorzudringen. Ökonomischer Antisemitismus der traditionellen Sorte, der sich auf den Mythos der Juden als Banker, Geldverleiher und Aushungerer des Volkes stützte (eine Art von Antisemitismus, die in der Vergangenheit in großem Maße von verschiedenen politischen Regimes ausgebeutet wurde), konnte zu den Pogromen des zaristischen Reiches führen, aber stand nicht kurz davor, vom Staat in ein mechanisiertes Massaker verwandelt zu werden. Ein Element, das Historikern, die den Völkermord an den Juden studieren, auffällt und sie verwirrt, ist sein im Wesentlichen anti-ökonomisches Wesen. Wo war die ökonomische Vernunft eines Regimes, das zum Zweck der Ermordung von sechs Millionen Menschen – Frauen, Greise und Kinder - in Kriegszeiten ein administratives System, ein Transportnetzwerk und Vernichtungslager schuf und dabei menschliche und materielle Ressourcen einsetzte, die ganz sicherlich besser in der Industrie und an der zunehmend kriegsmüden Front hätten eingesetzt werden können?

Sehr eng betrachtet, scheinen solche Äußerungen wahr. Aber die Sichtweise muss erweitert werden. Der Völkermord an den Juden und die Errichtung von Auschwitz entsprangen dem Drang des Naziregimes, ein deutsches Reich in Europa zu gründen. Es war eine Schlüsselkomponente dieser Perspektive, die Juden aus den Gebieten deutscher Herrschaft zu entfernen, da sie wegen ihrer bloßen Existenz als potentielle Quelle der Opposition angesehen wurden. Auschwitz war Produkt des Drangs nach Lebensraum. Das Konzept Lebensraum hatte sehr klare ökonomische Beweggründe, die in der Krise wurzelten, mit der der deutsche Kapitalismus konfrontiert war, während er versuchte, mit dem Zusammenbruch des Weltmarktes und dem Aufstieg der amerikanischen Wirtschaftsherrschaft fertig zu werden.

In einer Einführung zu seinem Buch “Den nationalsozialistischen Völkermord verstehen” bemerkt Traverso, dass einige seiner Aufsätze „recht harte“ Kritik an der marxistischen Tradition enthielten. „Auschwitz bleibt eine Nagelprobe für Theoretiker, die sich mit Marx’ Gedanken identifizieren, gleich welcher Richtung sie auch angehören mögen. Die Unfähigkeit des Marxismus - dem mächtigsten und kraftvollsten emanzipatorischen Gedankengebäude der Moderne – den jüdischen Völkermord zunächst kommen zu sehen und dann zu verstehen, lässt erhebliche Zweifel an der Relevanz seiner Antworten auf die Herausforderungen des 20. Jahrhunderts aufkommen.“

Zunächst einmal ist dies eine ausgemachte Verdrehung der Wahrheit. Die marxistische Bewegung unter der Führung Leo Trotzkis, zuerst in der Linken Opposition und dann in der Vierten Internationale, warnte vor den Konsequenzen eines nationalsozialistischen Sieges, kämpfte, um ihn zu verhindern, und setzte alles daran, die verheerende Politik der KPD und der stalinistisch geführten Kommunistischen Internationale herumzureißen. Als der Antisemitismus des Nazi-Regimes zunahm und die kapitalistischen Großmächte ihre Grenzen für jüdische Flüchtlinge verschlossen, warnte Trotzki vor den Gefahren, denen die europäischen Juden ausgesetzt waren.

In einem Appell an die amerikanischen Juden schrieb er im Dezember 1938: “Man kann sich vorstellen, was die Juden beim Ausbruch des zukünftigen Weltkrieges erwartet. Aber selbst ohne Krieg deutet die nächste Entwicklung der weltweiten Reaktion mit Sicherheit auf die physische Ausrottung der Juden hin.“

In einer seiner letzten bedeutenden Schriften, dem Manifest der Vierten Internationale zum Thema Imperialismus und Krieg, das im Mai 1940 veröffentlicht wurde, wandte sich Trotzki einmal mehr der Situation zu, vor der die Juden standen. „In der Epoche seines Aufstiegs holte der Kapitalismus das jüdische Volk aus den Ghettos und benutzte es als Instrument seiner kommerziellen Ausdehnung. Heute strebt der zerfallende Kapitalismus danach, das jüdische Volk aus allen seinen Poren auszuschwitzen. Siebzehn Millionen von zwei Milliarden, die den Erdball bevölkern, das heißt weniger als ein Prozent, finden keinen Platz mehr auf unserem Planeten! Vor dem Hintergrund riesiger Landerschließungen und dem Wunderwerk einer Technologie, die den Himmel genauso wie die Erde für den Menschen erschlossen hat, hat die Bourgeoisie es geschafft, unseren Planeten in ein erbärmliches Gefängnis zu verwandeln…“

Traversos Ansichten sind eng mit dem Verlauf der Ereignisse der letzten vier Jahrzehnte verknüpft. Er ist beileibe nicht der einzige Intellektuelle, der in den 1960ern und 1970ern radikalisiert und später desillusioniert wurde, und dafür das „Versagen“ des Marxismus verantwortlich macht.

Um diese Wandlung zu erklären, schreibt Traverso: „Als ich in den frühen 1970er Jahren meine ersten Schritte in die politische und intellektuelle Welt unternahm, glaubte ich in einer Zeit zu leben, die von der Aussicht auf Revolution in Europa, Vietnam oder Lateinamerika geprägt war. In letzter Zeit bin ich zu der Überzeugung gekommen, dass der vorherrschende Wesenszug des 20. Jahrhunderts die Barbarei ist. Dies hat mich nicht dazu geführt, meine Überzeugungen abzulegen oder mein Engagement über Bord zu werfen, sondern deren Horizont zu verändern. Das Bewusstsein, in einer Zeit der Barbarei zu leben, macht die Aufgabe, die Welt zu verändern, umso zwingender, zeigt aber auch, dass die Veränderung nicht „mit dem Strom der Geschichte“, sondern allenfalls gegen ihn kommen wird. Diese Einstellung hat meine Sicht der Vergangenheit verändert.“

Hier vermittelt sich die Sichtweise des desillusionierten Radikalen: “Ich erwartete die Revolution, doch sie kam nicht.“ Aber statt zu analysieren, warum sie nicht kam - das erfordert eine Untersuchung der Rolle der verschiedenen Führungen der Arbeiterklasse, einschließlich der von Ernest Mandel geführten pablistischen Tendenz, der er selbst angehörte – kommt Traverso zu dem Schluss, dass die gegenwärtige Epoche von der Barbarei beherrscht wird und der Marxismus selbst sich irre, weil er nicht in der Lage ist, dies zu erkennen. Er bekennt sich auch weiter zum Marxismus, aber die Transformation der Welt kann nur „gegen den Strom“ erfolgen. Das heißt, dass die sozialistische Umgestaltung in Wahrheit ein Kampf für eine utopische Perspektive ist – man kann für sie jedenfalls keine objektive Grundlage innerhalb des Kapitalismus selbst finden.

Traverso zufolge waren die Vernichtungslager durchaus “rational”, “wissenschaftlich” und “modern”. Auschwitz brachte die für das zwanzigste Jahrhundert so typische Hochzeit zwischen der größten Rationalität der Mittel (dem Lagersystem) und der vollständigen Irrationalität des Ziels zustande. Auschwitz enthüllt die „verborgenen Möglichkeiten der modernen Gesellschaft“.

Aber die “moderne Gesellschaft” hat eine soziale Struktur, sie ist eine Klassengesellschaft. Unter den gesellschaftlichen Beziehungen des Kapitalismus – in der die Produzenten ihre Arbeitskraft den Besitzern der Produktionsmittel verkaufen müssen, um leben zu können – werden Menschen als Mittel zum Zweck, nämlich zum Zweck der Akkumulation von Mehrwert, betrachtet. Der Kapitalismus gründet sich auf ein System gesellschaftlicher Beziehungen, in dem die Produktion – notwendig zum Erhalt menschlichen Lebens und der Zivilisation – nicht im Interesse menschlicher Bedürfnisse, sondern entsprechend der Logik des Kapitals selbst durchgeführt wird. Das Kapital herrscht über die Menschen, die von den Produktionsmitteln abgeschnitten sind und, wenn es die Logik des Kapitals erfordert, sogar vom Leben selber. Die Irrationalität ist Bestandteil der Struktur des Profitsystems. So kann unter diesem System eine Zunahme der Arbeitsproduktivität – die Grundlage allen menschlichen Fortschritts – einen Fall in der Profitrate erzeugen und in eine ökonomische Krise münden, die zu Rezession, Arbeitslosigkeit und schließlich in den Krieg führt.

Wie viele andere besteht Traverso auf der Einzigartigkeit des Holocaust. In dem Maße, in dem ein Ereignis aus Umständen entspringt, die es aufgrund ihres Wesens vorher nicht gegeben hat und die es in gleicher Form nicht wieder geben wird, ist jedes historische Ereignis einzigartig. Auf dieser Ebene betrachtet, ist die Annahme trivial. Aber die Verfechter dieser Ansicht wollen viel mehr sagen. Sie wollen uns weismachen, dass der Holocaust ein solch schreckliches Ereignis ist, dass er sich den Methoden der historischen Analyse, einschließlich der des Marxismus, entzieht.

In meinem Vortrag habe ich ausgeführt, dass die beispiellose Gewalttätigkeit des Holocaust aus dem Zusammentreffen zweier Prozesse entstand, die in der historischen Krise des deutschen und des Weltkapitalismus wurzelten: Dem Kolonisierungskrieg gegen die Sowjetunion – d.h. dem Transfer von Methoden, die dis dahin in Asien und Afrika angewandt worden waren, nach Europa – und der sozialen Konterrevolution – also der Abschaffung der Besitzverhältnisse, die die Oktoberrevolution von 1917 geschaffen hatte.

Traverso schreibt dazu: “Die historische Einzigartigkeit des Völkermordes an den Juden besteht nicht in dem System der Konzentrationslager, sondern in der rassischen Ausrottung: Auschwitz war das Produkt der Fusion von Rassenbiologie mit moderner Technologie. Dies war ein echter zivilisatorischer Bruch, der das Band elementarer menschlicher Solidarität, auf die sich die menschliche Existenz auf dem Planeten bis dahin gegründet hatte, zerstörte.“

Traverso versucht, den Holocaust vom historischen Prozess, der ihm voranging und der ihn ermöglichte, zu trennen. Die Fusion von Rassenbiologie mit moderner Technologie, die zum Massenmord führte, begann nicht mit Hitler und den Nazis. Ihre Ursprünge liegen in den letzten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts, als das erste selbstladende Maschinengewehr eingesetzt wurde, um Zehntausende von Menschen niederzumähen, die sich der Kolonisierung widersetzten. Wo, kann man sich fragen, war „das Band elementarer menschlicher Solidarität“ in der Schlacht von Omdurman, nahe Khartum, als am 2. September 1898 gegen 11:30 Uhr 11.000 Anhänger des Mahdi, die sich den britischen Truppen entgegengestellt hatten, umgebracht und 16.000 verletzt worden waren, was den Oberbefehlshaber der britischen Streitkräfte, Generalmajor (später Lord) Kitchener zu der Bemerkung veranlasste, dass man dem Feind eine „saftige Abreibung“ verpasst hätte.

Winston Churchill, der an dem Gemetzel sowohl als Soldat, als auch als Journalist teilnahm, schrieb später, es sei der wegweisendste Triumph gewesen, den die Waffen der Wissenschaft je über die Barbaren erzielt hätten.“ „Innerhalb von fünf Stunden war die stärkste und bestausgerüstete Armee von Wilden, die sich einer europäischen Macht je in den Weg gestellt hatte, vernichtet und auseinandergetrieben, fast ohne Probleme, bei vergleichweise geringem Risiko und einem unbedeutenden Verlust für die Sieger.“

Wo war das „Band elementarer menschlicher Solidarität“ in dem mörderischen Feldzug, den der deutsche Imperialismus zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts gegen das Volk der Hereros in Südwestafrika führte? Als die Hereros am 2. Oktober 1904 nach der Schlacht von Waterberg zu fliehen versuchten, gab der Oberkommandierende der deutschen Streitkräfte, General Lothar von Trotha, folgende Order heraus: „Das Volk der Hereros… muss das Land verlassen. Wenn nicht, werde ich sie mit dem Grooterohr (einer Kanone) dazu zwingen. Innerhalb der deutschen Grenzen wird jeder Herero, mit oder ohne Waffe, mit Vieh oder ohne, erschossen. Frauen und Kinder werden nicht länger geduldet, ich werde sie zu ihrem Volk zurücktreiben oder auf sie schießen lassen.“

Jene, die nicht im Kugelhagel starben, wurden in die Wüste gejagt, wo Tausende verdursteten. Den offiziellen Unterlagen zufolge „wurden die Feinde wie halb zu Tode gehetzte wilde Tiere von einer Wasserquelle zur nächsten getrieben, bis sie schließlich willenlos zum Opfer ihres eigenen Landes wurden. So vollendete die wasserlose Omaheke-Steppe das, was deutsche Waffen begonnen hatten: Die Vernichtung des Volkes der Hereros.“

Auch das Verschmelzen von rassistischer Ideologie und Bürokratie begann nicht mit Hitler. Hannah Arendt schrieb: „Zwei neue Mittel zur politischen Organisation und zur Herrschaft über fremde Völker wurden während der ersten Jahrzehnte des Imperialismus entdeckt: Eines war die Rasse als Prinzip des Gemeinwesens und das andere die Bürokratie als das Prinzip der Fremdherrschaft.“ Unter Hitler, so hieß es, sei das Berliner Ministerium für den Osten nach dem Vorbild der britischen Indienbehörde entstanden.

Statt die historische Notwendigkeit für den Sturz kapitalistischer Gesellschaftsbeziehungen zu unterstreichen – die Grundlage aller Perspektiven des Marxismus – stellt der Holocaust für Traverso die Gültigkeit des Marxismus selbst in Frage.

“Es macht Sinn, Marx nach der Katastrophe im Schatten von Auschwitz noch einmal zu lesen”, so schreibt er, “denn die Gaskammern werfen Fragen über die intellektuelle Tradition auf, deren Gründer er war. Auschwitz zieht gewisse Muster sozialistischen Denkens in Zweifel, von denen einige sich in Marx’ eigenen Texten finden, während andere später, ausgehend von Lücken in seinem Werk, konstruiert und entwickelt wurden.“

Traverso ist gezwungen, Rosa Luxemburgs Warnung zu Beginn des Ersten Weltkrieges, dass die Zukunft der Menschheit entweder Sozialismus oder Barbarei sei, zur Kenntnis zu nehmen. Er tut das Zitat aber sofort als „ausweichenden, desorientierenden Vorwand“ ab, weil er „ein Spektrum des Niedergangs der Zivilisation heraufbeschworen hat ohne anzuerkennen, dass Auschwitz Barbarei war. Mit wenigen Ausnahmen – allen voran Walter Benjamin – hatten die Marxisten den Niedergang der Menschheit als Regression, eine Rückkehr zu prämodernen, sogar primitiven gesellschaftlichen Formen begriffen. Dies ließ sie einer neuen, modernen ‚Barbarei’ entwaffnet, desorientiert und manchmal blind gegenüberstehen, die mit den grundlegenden Tendenzen der historischen Entwicklung übereinstimmte, statt von ihnen abzuweichen oder sie umzukehren, in anderen Worten: eine technologische, industrielle Barbarei, organisiert und geleitet durch ihre eigene instrumentale Rationalität.“

Dies Argument hält einer Prüfung einfach nicht stand. Rosa Luxemburgs Warnungen gründeten sich auf eine Analyse jener Tendenzen innerhalb des Imperialismus, die am Ende des neunzehnten Jahrhunderts entstanden waren. Darüber hinaus hatte Friedrich Engels zwei Jahrzehnte vorher darauf hingewiesen, dass jeder künftige Krieg in Europa auf Grund der modernen Technologie unvorstellbare Schrecken mit sich bringen werde. Der Marxismus ging nie davon aus, dass die Menschheit zu einem früheren Stand ihrer Entwicklung zurückkehren werde, sondern wies darauf hin, dass die enorme Kraft der Technologie zerstörerische Folgen haben würde – und damit den Fortbestand der Zivilisation selbst bedrohte –, wenn sie nicht aus dem Griff der kapitalistischen Klasse befreit und eingesetzt würde, um menschlichen Bedürfnissen zu dienen.

Traverso übergeht all dies, weil es nicht in seine Argumentation passt, dass die Barbarei von Auschwitz und alle moderne Barbarei schlussendlich im Prozess der Vernunft begründet sei, wenigstens insofern sie ihren Ausdruck in der Organisation der Technologie findet. Der Mensch selbst ist das Problem, nicht die sozialen Beziehungen des Kapitalismus, die, wie Marx erklärte, einst zur Entwicklung der Produktivkräfte führten, nun aber drohen, sie und die Menschheit in den Untergang zu reißen.

Traverso rückt nicht von seinem Standpunkt ab: “Zusammen mit der Idee des Fortschritts, hat Auschwitz ein für allemal mit der Ansicht aufgeräumt, der Sozialismus sei der natürliche, automatische und unvermeidliche Ausgang der Geschichte.“

Der Marxismus hat eine solche Perspektive nie vertreten. Marx selbst schrieb, dass der Kapitalismus „jeden wirtschaftlichen Fortschritt in eine gesellschaftliche Katastrophe“ verwandelt und in seinem berühmten Artikel „Die zukünftigen Ergebnisse der britischen Herrschaft in Indien“ erklärte er, dass die Eroberung Indiens durch die Engländer „die tiefgehende Verlogenheit und die ihr innewohnende Barbarei der bürgerlichen Zivilisation“ enthülle. Nur wenn die Errungenschaften der bürgerlichen Epoche unter gesellschaftliche Kontrolle gebracht würden, werde der menschliche Fortschritt aufhören, jenem hässlichen heidnischen Götzen zu gleichen, der sich weigerte, den Nektar zu trinken, außer wenn er aus den Schädeln der Getöteten stammte.“

Im “Übergangsprogramm” schrieb Trotzki: „Ohne eine sozialistische Revolution, und zwar in der nächsten geschichtlichen Periode, droht die ganze menschliche Kultur in einer Katastrophe unterzugehen.“ Der Schlüssel zur Situation, so betonte er, lag darin, die Krise der Führung der Arbeiterklasse zu lösen.“ Traverso und jene, die seine Ansichten teilen, wollen diese Frage nicht untersuchen – das Problem liegt schließlich im Marxismus selbst. Auschwitz verlangt, den naiven Optimismus einer Denkweise, die sich als bewusster Ausdruck des „Flusses der Geschichte“ verstand, und einer Bewegung, die glaubte, dass sie „mit dem Strom“ schwamm, über Bord zu werfen. Das heißt auch, die utopische Dimension des Sozialismus wieder aufleben zu lassen.

Indem er genau dem Pessimismus Ausdruck verleiht, der Teile der kleinbürgerlichen Intelligenz wegen des angeblichen Versagens des Marxismus und der Arbeiterklasse ergriffen und viele von ihnen weit nach rechts geführt hat, weist Traverso die Auffassung von sich, dass der Marxismus der bewusste Ausdruck eines unbewussten historischen Prozesses ist. Im Kommunistischen Manifest erklärte Marx, dass die theoretischen Schlussfolgerungen der Kommunisten sich in keiner Weise „auf Ideen oder Prinzipien stützen, die von diesem oder jenem Möchtegern-Reformer“ erfunden oder entdeckt worden seien, sondern nur „die aktuellen Beziehungen ausdrückten, die einer historischen Bewegung entspringen, die sich vor unseren Augen vollzieht.“

Das heißt nicht, dass die Geschichte “auf unserer Seite” steht oder dass historische Kräfte schließlich von ganz allein zum Sturz des Kapitalismus führen werden. Ganz im Gegenteil. Wie es Rosa Luxemburg ausdrückte, ist die Geschichte eine „via dolorosa“ (ein Leidensweg) für die Arbeiterklasse. Nur in dem Maß, in dem die Arbeiterklasse aus der Geschichte lernt – die Lehren aus ihren Siegen und vor allem aus ihren bitteren Niederlagen zieht – kann sie bewusst in den historischen Prozess eingreifen, den Lauf der Geschichte verändern und den Sturz des Kapitalismus herbeiführen.

Dieser Kampf um das Verständnis und die Gestaltung der Geschichte wird von der marxistischen Bewegung angeführt. Die Geschichte ist die Quelle aller Probleme, vor denen diese Bewegung steht. Gleichzeitig liefert die Geschichte auch ihre Lösungen. Der Kampf für den Sozialismus führt nicht über Utopien, die die Fantasie der Unterdrückten vermutlich irgendwie entzünden sollen. Nein, die marxistische Bewegung bemüht sich, die historischen Erfahrungen, die sie durchlebt hat, zu analysieren und richtet ihr Augenmerk dabei vor allem auf die Probleme der Führung der Arbeiterklasse. Traverso lehnt ein solches Vorgehen ab.

“Marx begreift die Entwicklung des Kapitalismus als einen dialektischen Prozess”, schreibt er, “in dem die zivilisatorische Mission (das Wachstum der Produktivkräfte) und der „gesellschaftliche Rückschritt” (Klassenunterdrückung, nationale Unterdrückung), untrennbar miteinander verwoben sind. Diese Zweiteilung war in seinen Augen dazu bestimmt, sich so lange zu verschärfen, bis sie einen revolutionären Bruch auslöste. Das zwanzigste Jahrhundert sollte aber im Gegenteil zeigen, dass diese Dialektik auch einen negativen Charakter haben kann: Statt den eisernen Käfig kapitalistischer Beziehungen zu zerbrechen, konnten das Wachstum der Produktivkräfte und der technische Fortschritt zur Grundlage moderner totalitärer Ungeheuer wie des Faschismus, des Nationalsozialismus oder, in anderer Form, des Stalinismus, werden.“

Dieser Einschätzung fehlt jegliche Analyse, warum die Arbeiterklasse bis heute nicht in der Lage gewesen ist, der Bourgeoisie die Macht zu entreißen. Statt uns weiter mit Traversos völlig einseitiger Interpretation zu beschäftigen, ist es an dieser Stelle notwenig, einen Blick auf das zu werfen, was Marx tatsächlich geschrieben hat,

In seinem berühmten Vorwort zur “Kritik der politischen Ökonomie”, umriss Marx die historisch materialistische Methode der Analyse: „Auf einer gewissen Stufe ihrer Entwicklung geraten die materiellen Produktivkräfte der Gesellschaft in Widerspruch mit den vorhandenen Produktionsverhältnissen oder, was nur ein juristischer Ausdruck dafür ist, mit den Eigentumsverhältnissen, innerhalb deren sie sich bisher bewegt hatten. Aus Entwicklungsformen der Produktivkräfte schlagen diese Verhältnisse in Fesseln derselben um. Es tritt dann eine Epoche sozialer Revolution ein.“

Nachdem er die sozialen Grundlagen der Revolution aufgezeigt hat, wendet sich Marx der Art und Weise zu, in der die Umwandlung durchgeführt wird. Dabei betont er, dass es „immer notwendig ist, zwischen der materiellen Transformation der ökonomischen Produktionsbedingungen, die mit naturwissenschaftlicher Präzision bestimmt werden kann, und den juristischen, politischen, religiösen, künstlerischen oder philosophischen – kurzum ideologischen - Formen zu unterscheiden, in denen die Menschen sich dieses Konfliktes bewusst werden und ihn ausfechten.“

Genau hierauf sollte sich unsere Aufmerksamkeit richten – auf das Studium der Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts, auf die Art, in der die Kämpfe ausgefochten wurden und die Frage, welche Lehren daraus zu ziehen sind. Traversos Analyse hätte vielleicht einen gewissen Wert, wenn das zwanzigste Jahrhundert ohne die Entwicklung einer sozialistischen Massenbewegung und die Entstehung revolutionärer Situationen vorübergezogen wäre, in denen die Arbeiterklasse die Möglichkeit hatte, den Kapitalismus zu stürzen. Die Geschichte zeigt aber, dass es solche Situationen gegeben hat – die Zeitspanne, die mit der Oktoberrevolution 1917 begann und bis zum niedergeschlagenen „Deutschen Oktober“ 1923 andauerte, die Reihe von Aufständen in den 1930er Jahren , deren Höhepunkt die Spanische Revolution von 1936 – 1939 war, die Unruhen nach dem 2. Weltkrieg und die Serie potentiell revolutionärer Kämpfe, die mit den Mai-Juni-Ereignissen in Frankreich begann und bis 1975 andauerte. Das Studium dieser Geschichte zeigt, dass die objektiven Bedingungen für die Machtübernahme durch die Arbeiterklasse absolut gegeben waren und dass es nur an einer revolutionären Führung fehlte.

Die “totalitären Ungeheuer” des Stalinismus und des Nationalsozialismus waren nicht das Ergebnis irgendeiner “negativen Dialektik”, die Marx entgangen war, sondern das Ergebnis der Niederlagen der Arbeiterklasse. Der Verrat an den revolutionären Kämpfen der Arbeiterklasse durch die Sozialdemokratie direkt nach der Russischen Revolution isolierte den ersten Arbeiterstaat, bahnte den Weg für seine Degeneration und die Machtergreifung durch die stalinistische Bürokratie, deren Voraussetzung die politische Niederlage der von Leo Trotzki geführten marxistischen und internationalistischen Tendenz war. Der stalinistische Apparat an der Spitze der Komintern trug die Hauptverantwortung dafür, dass der KPD die Politik des „Sozialfaschismus“ aufgezwungen wurde. Dies pflasterte Hitler den Weg an die Macht und resultierte in der größten historischen Niederlage der Arbeiterklasse. Stalinismus und Nationalsozialismus waren beide auf ihre Weise Ausdruck der Krise der revolutionären Führung der Arbeiterklasse, und nicht der Macht der Technologie und der Produktivkräfte.

Traverso kritisiert seinen einstigen Mentor Ernest Mandel, weil der behauptet hatte, „dass Hitlers Deutschland die der kapitalistischen Gesellschaft und dem Imperialismus innewohnende Gewalt ins Extrem getrieben habe.“ Das Problem mit dieser Ansicht war, dass Mandel „sich schwer tat zuzugeben“, dass der Völkermord an den Juden „letztendlich trotz der materiellen Interessen (und der militärischen Prioritäten) des deutschen Imperialismus von der Ideologie bestimmt wurde.“

“Der Völkermord an den Juden kann nicht als Funktion der Klasseninteressen des deutschen Großkapitals verstanden werden – das ist in Wahrheit ‚letztendlich’ das interpretative Kriterium aller marxistischen Theorien des Faschismus – er kann nur karikiert werden.“

Am Ende bleibt uns also die Erkenntnis, dass in Wirklichkeit nur die Nazis, insbesondere Hitler, verantwortlich waren. Hier sehen wir, wohin alle diese postmodernen, postmarxistischen Absonderungen führen: Den deutschen Imperialismus trifft am Völkermord an den Juden keine Schuld, verantwortlich sind allein die Nazis und Hitler. Aber schlussendlich trifft auch sie eigentlich keine Schuld, denn der Völkermord war Bestandteil der zerstörerischen Irrationalität der modernen Technologie und der Produktivkräfte und des menschlichen Verstands selbst.

Wenn man die Frage, wie wir erklärt haben, sehr eng betrachtet, dann lässt sich einfach zeigen, dass der Massenmord an den Juden den unmittelbaren ökonomischen und militärischen Interessen des deutschen Imperialismus zuwiderlief. Aber genau das ist das Problem – die enge Perspektive, durch die das Problem betrachtet wird. Wenn wir unseren Horizont erweitern, dann kommen die zugrundeliegenden Interessen ans Licht. Der Holocaust entstand aus dem Krieg gegen die Sowjetunion und den Plänen des deutschen Imperialismus zur Beherrschung Europas. Das deutsche Kapital gab den Nazis die Zügel der Macht in die Hand, um diesen Auftrag auszuführen. Selbstverständlich gerieten einige ihrer Handlungen in Widerspruch zu den unmittelbaren kurzfristigen Interessen des deutschen Kapitals – obwohl es keine Belege dafür gibt, dass sich die herrschenden deutschen Eliten gegen den Mord an den Juden gestemmt hätten – aber es gab eine direkte Übereinstimmung zwischen dem Drang der Nazis nach Lebensraum im Osten und den Interessen und Bedürfnissen des deutschen Imperialismus.

Die herrschenden deutschen Eliten gaben den Nationalsozialisten die Zügel der Macht in die Hand, weil keine andere Partei in der Lage war, die organisierte Arbeiterklasse und die sozialistische Bewegung zu vernichten. Sie hofften gewiss, einige der Nazi-„Exzesse“ im Zaum halten zu können. Aber die Kosten dafür waren zu jedem Zeitpunkt zu hoch. Es bestand immer die Gefahr, dass ein Konflikt mit den Nazis eine Bewegung von unten entzünden könnte, so dass am Ende die „Exzesse“ als ein angemessener Preis hingenommen wurden.

Im Denken der nationalsozialistischen Führung mögen der Rassismus und der Drang, die Juden auszurotten, Priorität vor allen anderen Fragen gehabt haben. Aber das beantwortet unsere Frage nicht. Auch wenn er auf dem Primat der Ökonomie besteht, so behauptet der Marxismus letztendlich nicht, dass hinter den Entscheidungen jedes politischen Führers ein ökonomisches Motiv steckt, das von der Ideologie nur verschleiert werden soll. Er behauptet aber sehr wohl, dass wirtschaftliche Interessen – die materiellen Interessen der herrschenden Klassen – den allgemeinen Gang der Politik bestimmen. Und es besteht nicht der geringste Zweifel, dass die Zerstörung der sozialistischen Bewegung und der Arbeiterbewegung durch die „Klasseninteressen des deutschen Großkapitals“ bestimmt wurde. Sie war eine notwendige Bedingung für den Holocaust und den Krieg, der auf die Eroberung und die Kolonisierung der Sowjetunion abzielte.

Wie Traverso wehrt sich auch Norman Geras dagegen, die Erklärungen für den Holocaust im deutschen Imperialismus und dem kapitalistischen System im Allgemeinen zu suchen. Etwas Grundlegenderes muss her, um eine Erklärung zu liefern, und Geras findet es in der menschlichen Fähigkeit zum Bösen.

Die Entwicklung von Geras’ Standpunkt weist auf den zeitgenössischen politischen Druck hin, der Ausdruck in seiner Ablehnung einer marxistischen Analyse des Holocaust fand. Einst Mitglied der Redaktionsleitung der New Left Review, Bewunderer Rosa Luxemburgs und bekennender Marxist, wurde Geras, wie mehrere andere Ex-Radikale, zum Unterstützer des von den USA geführten Kriegs im Irak und des „Kriegs gegen den Terror“.

Geras’ Einstellung zum Holocaust wird in einem in der Juli-August-Ausgabe der New Left Review von 1997 veröffentlichten Artikel mit dem Titel “Marxisten im Angesicht des Holocaust” deutlich. Der Artikel ist einer Kritik an Ernest Mandels Analyse des Holocaust gewidmet. Geras zufolge „wird der Holocaust von ihm (Mandel) noch immer als eine Folge des Kapitalismus dargestellt; als Produkt seiner globalen Irrationalität, seiner teilweisen (funktionalen) Irrationalität und der rassistischen Ideologie, die durch seine imperialistischen Formen erzeugt wurden.“ Aber alle Erklärungen in dieser Richtung, so betont er, reichen nicht aus.

Wenn man sich dem Holocaust annähere, „dann treffe man auf etwas, bei dem es nicht um die Moderne geht, etwas, bei dem es nicht um den Kapitalismus geht. Es geht um die Menschheit.“ Und Marxisten, so behauptet er, zögerten, sich dieser „Ungeheuerlichkeit des radikal Bösen“ zu stellen.

Das führt uns zu dem uralten Argument zurück, dass der Sozialismus und der Fortschritt der Zivilisation schlussendlich unmöglich sind, weil es im Menschen einen Kern des Bösen gibt, der nicht überwunden werden kann. Am Ende seines Artikels schreibt Geras: „In ihren Schriften über die jüdische Frage argumentieren sowohl Trotzki als auch Mandel, dass es keine zufriedenstellende Lösung geben kann außer durch die Errichtung des Sozialismus. Meine bisherigen Ausführungen zeigen, so hoffe ich, die Verkürzungen, die ich in diesem Strickmuster sehe.“

In seinem Artikel im “New Left Review” wies Geras auch auf die “servile Komplizenschaft und den Mangel an kritischem Urteil von Zehntausenden von Menschen“ hin, die den Holocaust möglich gemacht hätten.

In einem Buch, das im darauffolgenden Jahr 1998 veröffentlicht wurde, ließ er sich weiter über dieses Problem aus: „Dies war eine Welt, die nicht von Monstern und Bestien bewohnt wurde – besser gesagt, nicht nur von Monstern und Bestien, denn nach immer noch nicht ganz überholten notwendigen moralischen Kriterien gab es von diesen mehr als genug – sondern von Wesen, die gerade menschliche Wesen waren, mit Eigenschaften, die nur allzu gut auszumachen sind, unter ihnen menschliche Laster und Schwächen, weit verbreitete Unzulänglichkeiten.

“Am einfachsten auszumachen sind die passiven Beobachter: jene, die selbst nicht aktiv am Prozess des Massenmordes beteiligt waren, aber nichts taten, um ihn aufzuhalten. Das sind Menschen, die es vorziehen, nichts zu wissen oder sich nicht darum zu scheren und deshalb nichts davon erfahren. Oder die es wissen und denen es egal ist, die gleichgültig sind; oder Angst haben, um sich selbst, um andere, oder sich ohnmächtig fühlen, oder niedergedrückt, abgelenkt oder einfach damit beschäftigt sind (wie die meisten von uns) ihre eigenen Ziele im Leben zu verfolgen. Solche Leute bildeten den Hintergrund für die Tragödie der europäischen Juden und sie liefern auch weiterhin den Nährboden für neue größere oder kleinere Katastrophen und für großes, aber vermeidbares Leid. Die Allgegenwart der passiven Beobachter liefert ganz sicher ein bemerkenswertes Zeugnis dafür, wie Mitglieder unserer Gattung komfortabel mit dem enormen Leid anderer leben können.“

Am Ende sind also nicht nur die “Monster” verantwortlich, sondern die Menschheit selbst ist schuld.

Betrachten wir dieses Problem etwas näher, denn auf diese Weise können wir einige der wichtigsten politischen und historischen Lehren des Holocaust für unsere Zeit ziehen.

Wir sind verständlicherweise entsetzt und betroffen angesichts dessen, was sich ereignet hat und vor allem über die Reaktion derer, die dabei waren, aber nichts taten, um die Gräuel zu verhindern. Aber die Schlüsselfrage ist: Welche Lehren ziehen wir daraus? Unsere Aufgabe hier ist es, wie Spinoza es in einem von Trotzki häufig zitierten Satz formulierte, weder zu lachen, noch zu weinen, sondern zu verstehen.

Für Geras wurzelt die gefühllose Gleichgültigkeit in der menschlichen Natur selbst, zusammen mit der Fähigkeit zu radikal Bösem.

Die marxistische Analyse kommt zu ganz anderen Schlussfolgerungen. Die schockierende Gleichgültigkeit, die half, den Holocaust zu ermöglichen, war eine der tragischsten Konsequenzen der historischen Niederlage der deutschen Arbeiterbewegung, die den Weg für die Machtübernahme durch Hitler und die Nazis ebnete.

Eine kritische öffentliche Meinung in der Sphäre der Politik, sozialer Fragen oder auch der Kunst ist nicht das Ergebnis von Meinungen und Entscheidungen von Individuen als Individuen. Die Formung individueller Perspektiven ist selbst ein sozialer Prozess. Und die Schlüsselfrage hier war die Zerstörung und vollständige Vernichtung der sozialistischen Arbeiterbewegung. Diese Bewegung war Trägerin der höchsten Errungenschaften menschlichen Denkens und menschlicher Kultur. Nach ihrer Vernichtung formten andere Prozesse die Gesellschaft. Wie Trotzki es ausdrückte: „Alles, was in der normalen Entwicklung der Gesellschaft vom nationalen Organismus in der Form kultureller Exkremente hätte ausgeschieden werden sollen, quillt ihr nun aus dem Mund. Die kapitalistische Gesellschaft erbricht unverdaute Barbarei. Das ist die Physiologie des Nationalsozialismus.“

Welche Lehren können wir heute daraus ziehen? Dürfen wir darauf hoffen, dass die Bedingungen, die zum Holocaust führten, mittlerweile hinter uns liegen, dass eine solche Katastrophe sich niemals wieder ereignen kann und dass die Menschheit sich, mit welchen Problemen sie auch immer konfrontiert wird, irgendwie durchmogeln kann? Wohl kaum.

Die Rivalitäten und Antagonismen zwischen den imperialistischen Mächten, die in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts zu dreißig Jahren Krieg führten und aus denen der Holocaust entstand, werden immer sichtbarer. Ebenso sind die wirtschaftlichen Widersprüche des Kapitalismus nicht verschwunden, sondern erneut explodiert. Das Leben von Milliarden arbeitenden Menschen in der ganzen Welt wird von wirtschaftlicher Unsicherheit beherrscht, während die soziale und ökonomische Ungleichheit zunimmt.

Diese Widersprüche werden einen Massenaufstand der Arbeiterklasse entfachen – Anzeichen davon sind bereits zu erkennen. Aber das für sich genommen reicht noch nicht aus. Die politische Situation ist durch das Fehlen einer unabhängigen sozialistischen Massenbewegung gekennzeichnet. Je länger diese Situation andauert, desto bösartigere politische Formen wird die historische Krise des kapitalistischen Systems annehmen.

Wie sieht unsere Perspektive aus? Wir wollen und werden die Krise der Führung durch den Aufbau der Weltpartei der sozialistischen Revolution, das Internationale Komitee der Vierten Internationale, lösen. In den Worten des Gründungsdokuments unserer Bewegung, Worten, die heute noch größere Bedeutung haben als zu dem Zeitpunkt, als sie geschrieben wurden: „Die historische Krise der Menschheit lässt sich zurückführen auf die historische Krise der revolutionären Führung.“

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