Perspektive

Die ägyptische Arbeiterklasse tritt in den Vordergrund

In den vergangenen Tagen hat ein ständiger Nachrichtenstrom die zunehmend entscheidende Rolle der ägyptischen Arbeiterklasse im Kampf gegen das Mubarak-Regime bestätigt. Während die Massenversammlungen und Zusammenstöße auf dem Tahrir-Platz in Kairo im Zentrum des Medieninteresses stehen, wird die wachsende Militanz der Arbeiterklasse – in der Form von Demonstrationen und Streiks – einen größeren Einfluss auf den Verlauf der Ereignisse nehmen.

In der Industriegemeinde Kafr al-Dawwar – einem historischen Zentrum der Militanz der Arbeiterklasse – beteiligten sich Hunderte Seiden- und Textilarbeiter an Protesten gegen unzureichende Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen. In Helwan, einer Stadt am Nil südlich von Kairo, kündigten viertausend Arbeiter der Coke Coal und der Basic Chemical Company einen Streik an. Neben Forderungen nach höherem Lohn, festen Arbeitsverträgen für Zeitarbeiter und einem Ende der Korruption erklärten die Arbeiter auch ihre Solidarität mit den Demonstranten in der Hauptstadt. In einem anderen bedeutenden Protest in Helwan nahmen 2000 Seidenarbeiter an einer Demonstration teil, bei der sie die Absetzung des Direktoriums ihrer Firma verlangten.

In der Stadt Mahalla im Nildelta protestierten 1500 Arbeiter gegen die verspätete Zahlung von Löhnen und Zuschlägen. In einem anderen Kampf in dieser Stadt nahmen hunderte von Arbeitern einer Spinnerei an einem Sit-In teil und verlangten überfällige Beförderungen. In Quesna, das auch im Nildelta liegt, traten 2000 Arbeiter der pharmazeutischen Industrie in einen Streik.

Mehr als 6000 Arbeiter des Suez-Kanal-Betreibers in Port Said, Ismailia und Suez veranstalteten Sit-Ins, um Lohnanpassungen zu verlangen. 400 Arbeiter der Misr National Steel Company in Suez traten ebenfalls in einen Arbeitskampf.

Diese Bewegung der ägyptischen Arbeiterklasse begann lange vor den Massenprotesten in Kairo, die in der letzten Januarwoche einsetzten. Wie eine Studie von Professor Joel Beininger, einem Experten der Geschichte der ägyptischen Arbeiterbewegung, dokumentiert, ist die sich entwickelnde Streikwelle „eine Entladung der größten gesellschaftlichen Bewegung, die Ägypten seit mehr als einem halben Jahrhundert gesehen hat. Mehr als 1,7 Millionen Arbeiter haben zwischen 2004 und 2008 an mehr als 1.900 Streiks und anderen Protestformen teilgenommen.“

Ironischerweise ist das Anwachsen der Arbeitermilitanz für das verknöcherte ägyptische Regime eine unerwünschte Folge des Wirtschaftswachstums während des vergangenen Jahrzehnts. Dieses Wachstum ist durch den massiven Zufluss internationalen Kapitals nach Ägypten im ersten Jahrzehnt dieses Jahrhunderts angefacht worden. Direkte Investitionen aus dem Ausland stiegen von 400 Millionen Dollar im Jahr 2000 auf 13,2 Milliarden Dollar in 2007/2008 an. Ägypten ist jetzt größter Empfänger ausländischer Direktinvestitionen auf dem afrikanischen Kontinent. Von 2004 bis 2007 stieg das jährliche Wachstum des Bruttoinlandproduktes von 4 auf 7,2 Prozent an. Aber der Nutzen des wirtschaftlichen Wachstums ist einer kleinen Gesellschaftsschicht vorbehalten. Obwohl Streiks zu gelegentlichen Zugeständnissen geführt haben, steckt die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung in bitterer Armut. Dazu kommt, dass das Regime auf die wachsende Herausforderung durch die Arbeiterklasse mit eskalierender Gewalt und Unterdrückung regiert hat.

Angesichts der nationalen Massenbewegung gegen das Mubarak-Regime lautet die entscheidende Frage jetzt, welche Rolle die Arbeiterklasse bei der Entscheidung nicht nur über Mubarak, sondern über die Art des Regimes spielen wird, das aus dem gegenwärtigen revolutionären Aufruhr hervorgeht.

Die größte Gefahr droht den ägyptischen Arbeitern, wenn sich außer den Namen und den Gesichtern des Führungspersonals nichts politisch Substantielles ändert, nachdem sie genügend gesellschaftliche Kraft entfaltet hat, um einem alternden Diktator die Macht aus den Händen zu reißen. In anderen Worten, wenn der kapitalistische Staat intakt bleibt. Wenn die politische Macht und die Kontrolle über das Wirtschaftsleben in den Händen der vom Militär gestützten ägyptischen Kapitalisten und ihren imperialistischen Herren in Europa und Nordamerika verbleibt. Wenn Demokratieversprechen und soziale Reformen zurückgenommen werden und bei erster Gelegenheit ein neues Regime brutaler Unterdrückung eingesetzt wird.

Diese Gefahren sind nicht übertrieben. Die gesamte Geschichte des revolutionären Kampfes im zwanzigsten Jahrhundert zeigt, dass der Kampf für Demokratie und die Befreiung imperialistisch unterdrückter Länder nur durch die Machtübernahme der Arbeiterklasse auf der Grundlage eines internationalistischen und sozialistischen Programms erfolgen kann, wie Leo Trotzki in seiner Theorie der permanenten Revolution ausgeführt hat.

Die Geschichte Ägyptens liefert für dieses strategische Prinzip reichlich Beweise.

Die ägyptische Arbeiterklasse verfügt über eine lange Kampftradition. In den frühen Bewegungen gegen den britischen Kolonialismus zog die Arbeiterklasse wiederholt ins Gefecht. Nach einem Muster, das sich ein ums andere Mal wiederholen sollte, nahm die ägyptische Bourgeoisie allerdings alle Zusagen an die Arbeiter zurück, nachdem sie den durch die Arbeiterklasse ausgeübten Druck benutzt hatte, um den Briten Konzessionen zu entreißen. Nach der 1922 von den Briten erklärten Schein-Unabhängigkeit, nach der London mit Hilfe einer durch und durch korrupten Monarchie weiter regierte, blieb die Arbeiterklasse unbarmherziger staatlicher Unterdrückung ausgesetzt.

In den folgenden Jahrzehnten widersetzte sich die ägyptische Bourgeoisie mit aller Härte den Bemühungen der Arbeiter, Gewerkschaften aufzubauen. Erst unter dem Druck des Zweiten Weltkrieges, als das von den Briten gestützte Regime Zugeständnisse machte, um breitere Unterstützung zu erlangen, wurden Gewerkschaften zugelassen. Aber sobald der Ausnahmezustand des Krieges vorbei war, nahm das Regime dieses kleine Zugeständnis zurück. In der Nachkriegszeit machte die Bourgeoisie als Antwort auf einen erneuten Aufstand der Arbeiterklasse wieder Konzessionen, auf die wie immer Unterdrückung folgte.

Der Putsch der Freien Offiziere vom 23. Juli 1952 beendete die Monarchie. In den Monaten vor dem Putsch war es zu einem Anwachsen des Kampfes der Arbeiterklasse gekommen, der die Monarchie geschwächt hatte. Der Klassencharakter des neuen Regimes – dessen Führer bald Oberst Gamal Abdel Nasser wurde – wurde innerhalb von Wochen deutlich. Die Arbeiter hießen den Putsch willkommen. Ihre Illusionen über die revolutionären Reden der Armeeführer wurden von der stalinistischen Demokratischen Bewegung zur nationalen Befreiung (DMNL), die sehr enge Beziehungen zum Offizierscorps hatte (und sogar im Voraus über die Putschpläne informiert worden war) verstärkt. In Einklang mit der stalinistischen „Zwei-Stufen-Theorie“ der Revolution (zunächst Demokratie, und später, irgendwann in der Zukunft, Sozialismus) wies die DMNL Naguib und Nasser eine progressive Rolle zu. Dies hatte fast umgehend tragische Konsequenzen. In der Misr Fine Spinning and Weaving Company in der Industriegemeinde von Kafr al-Dawwar traten tausende von Arbeitern im August 1952 in einen Streik, um gegen langjährige Missstände zu protestieren. Einer der Führer der Bewegung erinnerte sich später:

„Es war selbstverständlich, dass die Arbeiter in Kafr al-Dawwar eine Bewegung starteten, denn sie hatten die Revolutionskommuniqués gehört, die verkündeten, dass das Königreich abgeschafft war, dass das Regime gegen Ungerechtigkeit war und dass die Rechte des Volkes wieder hergestellt würden. Es war selbstverständlich, dass Arbeiter, die sehr lange Zeit unterdrückt worden waren, ihre Forderungen vorbrachten.“ (Zitiert aus “Egyptian Communists and the Free Officers: 1950-54,” by Selma Botman, Middle Eastern Studies, Vol. 22, No. 3 (July 1986), p. 355]

Die Bewegung wurde von der Armee brutal niedergeschlagen. Der neue revolutionäre Befehlsrat setzte hastig ein Kriegsgericht gegen die Führung der streikenden Arbeiter ein. Zwei ihrer Führer, Muhammad Khamis und Ahmad al-Bakri, wurden am 18. August 1952 zum Tode verurteilt und drei Wochen später auf dem Gelände der Fabrik gehängt. Es sollte erwähnt werden, dass das Mitglied des Revolutionären Befehlsrates, das dem Kriegsgericht vorstand, Abd al-Mun’im Amin, Verbindungen zur amerikanischen Botschaft in Kairo hatte.

Danach führte das Nasser-Regime tatsächlich einige Reformen durch, die zu bescheidenen Verbesserungen der Lebensbedingungen der ägyptischen Bauernschaft und der Arbeiterklasse führten. Die Verstaatlichung des Suezkanals verhalf dem Regime zu breiter Unterstützung unter den ägyptischen Massen. Später führten die Verstaatlichung ausländischer Firmen und eines beträchtlichen Teils ägyptischer Firmen zu einer Anhebung des Lebensstandards. Die unanfechtbare Grundregel des Nasser-Regimes aber war, keine unabhängige soziale oder politische Initiative der Arbeiterklasse zu erlauben. In Nassers Worten: „Die Arbeiter fordern nicht, wir geben.“ Arbeiter, die sich dieser Regel widersetzten, wurden verhaftet, gefoltert und hingerichtet.

Obwohl Nasser seine Kombination aus nationalistischem Paternalismus und Unterdrückung “arabischen Sozialismus” nannte, blieb die ägyptische Bourgeoisie fest im Sattel. Nach Nassers plötzlichem Tod 1970, nur drei Jahre nach der katastrophalen Niederlage Ägyptens im Sechs-Tage-Krieg mit Israel, wurde Sadat Präsident. Das neue Regime wies sowohl Nassers pseudo-sozialistische Politik zurück als auch jene Elemente seiner Außenpolitik, die den Zorn der USA auf sich gezogen hatten. Wirtschaftlich passte Sadat seine Politik den Forderungen des Internationalen Währungsfonds an.

Die dramatischste Veränderung nahm Sadat in der Außenpolitik vor. Er besuchte im November 1977 Jerusalem und unterzeichnete 1978 den Camp-David-Friedensvertrag mit Israel, ein Schritt, der die Zerstörung der Palästinensischen Befreiungsfront zur Folge hatte und einem kompletten Verrat der nationalen Bestrebungen des palästinensischen Volkes gleichkam. Bei einem Racheakt im Oktober 1981 wurde Sadat ermordet. Sein Nachfolger, Hosni Mubarak, setzte die Politik Sadats noch rücksichtsloser fort.

An der Wirtschaftsfront wurde der Neoliberalismus fest verankert. Große Teile der Wirtschaft, die von Nasser verstaatlicht worden waren, wurden wieder in Privatbesitz überführt. Auf dem Lande wurde ein großer Teil der Landumverteilung, die Nasser durchgeführt hatte, wieder rückgängig gemacht.

In der Außenpolitik legten Sadat und Mubarak Ägypten dem US-Imperialismus bedingungslos zu Füßen.

Die Politik des Sadat-Mubarak-Regimes unterscheidet sich in keiner Weise von den Maßnahmen, die von anderen kapitalistischen Regierungen in ehemaligen Kolonialländern mit einer verspäteten kapitalistischen Entwicklung in den vergangenen dreißig Jahren durchgeführt wurden.

In der globalen Krise des kapitalistischen Systems, die erhebliche Auswirkungen auf alle kapitalistischen Länder hat, findet derzeit ein weltweiter Angriff auf die Arbeiterklasse statt. Kapitalistische Politik ist zurzeit nicht reformerisch, sondern reaktionär. Keine bürgerliche Regierung in Ägypten wird sich dieser globalen Tendenz widersetzen.

Der Kampf, der sich jetzt in Ägypten entwickelt, wird sich hinziehen. Es liegt in der Verantwortung revolutionärer Marxisten, unter den Arbeitern, die erhebliche politische Erfahrungen durchmachen, Verständnis für die Notwendigkeit eines unabhängigen Kampfes um die Macht zu entwickeln. Sie müssen die Arbeiter vor allen Illusionen warnen, dass ihre demokratischen Hoffnungen unter der Ägide bürgerlicher Parteien verwirklicht werden können. Sie müssen die falschen Versprechen der Vertreter der kapitalistischen Klasse schonungslos entlarven. Sie müssen die Schaffung unabhängiger Organe der Arbeitermacht ermutigen, die bei der Verschärfung des Kampfes zur Grundlage des Machtübergangs an die Arbeiterklasse werden können. Sie müssen erklären, dass die Verwirklichung der wesentlichen demokratischen Rechte der Arbeiter untrennbar mit der Durchsetzung sozialistischer Politik verbunden ist.

Vor allem aber müssen revolutionäre Marxisten den politischen Horizont aller ägyptischen Arbeiter über die Grenzen ihres eigenen Landes hinaus erweitern. Sie müssen ihnen erklären, dass die sich jetzt entfaltenden Kämpfe in Ägypten unauflösbar verbunden sind mit dem beginnenden Prozess der sozialistischen Weltrevolution und dass der Sieg der Revolution in Ägypten keine nationale, sondern eine internationale Strategie erfordert. Letztendlich ist der Kampf gegen das Mubarak-Suleiman-Regime und die ägyptische herrschende Klasse ein Kampf gegen die gesamte arabische Bourgeoisie, das zionistische Regime in Israel und den amerikanischen und europäischen Imperialismus. In diesem globalen Kampf ist der stärkste und unverzichtbare Verbündete der ägyptischen Massen die internationale Arbeiterklasse.

Das ist die Perspektive und Strategie der Internationalen Komitees der Vierten Internationale.

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