Anonymus: Ein ignoranter Angriff auf Shakespeare

Anonymus: Drehbuch: John Orloff; Regie: Roland Emmerich

Anonymus Anonymus

Bevor sich Roland Emmerich an einen Film über den größten Schriftsteller der englischen Sprache wagte, war er verantwortlich für Filme wie Independence Day, Godzilla, Der Patriot und The Day After Tomorrow. Im Jahr 2000 schrieb ich über den Film Der Patriot mit Mel Gibson: „Es ist ein lächerliches Werk, das nur in einer Periode ernst genommen werden kann, die Ideen und Ideale gering schätzt – der heutigen eben.“

Der deutschstämmige Emmerich neigt in seinen Katastrophen- und Horrorfilmen, genau wie in seiner Geschichte zur Zeit der Amerikanischen Revolution zu Bombast, Vereinfachung und Grobheit. Anonymus liegt in dieser Hinsicht auf einer Höhe mit seinen früheren Werken.

Die Prämisse seines neuen Films ist, dass die etwa drei Dutzend Werke, die man dem englischen Dramatiker und Poeten William Shakespeare (1564-1616) zuschreibt, nicht von ihm selbst geschrieben wurden, sondern von Edward de Vere, dem 17. Earl of Oxford (1550-1604). Diese Behauptung existiert schon seit mehr als einem Jahrhundert und wurde durch werkimmanente (Oxford war kein bemerkenswerter Poet, im Gegensatz zum echten Shakespeare) und äußere Beweise (persönliche und historische Tatsachen, zu viele, um sie hier aufzulisten) gründlich widerlegt. Es ist unklar, ob Emmerich und der Drehbuchschreiber John Orloff an diese Theorie glauben. Orloff glaubt es vielleicht, aber Emmerich scheint es vollkommen egal zu sein, obwohl er die Theorie öffentlich verteidigt. Der Film ist für ihn nur eine weitere Gelegenheit, seinen fragwürdigen „Erfindungsreichtum“ unter Beweis zu stellen.

Die verworrene Handlung von Anonymus darzulegen, diskreditiert sie bereits. In einem modernen New Yorker Theater wird ein Werk mit dem Titel „Anonymus“ aufgeführt. Derek Jacobi betritt die Bühne und trägt eine Art Monolog vor, in dem er anzweifelt, dass Shakespeare, als Sohn „eines Handschuhmachers“ und Absolvent der Lateinschule solch großartige Werke habe schreiben können. Dann teilt er uns feierlich mit, dass es noch eine „dunklere Geschichte“ zu erzählen gibt.

Der Film führt uns ins computergenerierte London des frühen 17. Jahrhunderts, in die Spätphase der Herrschaft der offiziell kinderlosen Königin Elizabeth I. (Vanessa Redgrave). Diese Zeit wurde beherrscht von politischen Intrigen rund um die Frage der Thronfolge. Elizabeths Außenminister und oberster Spion Robert Cecil (Edward Hogg) ist an einer Verschwörung beteiligt, durch die König James VI. von Schottland (der spätere James I. von England) – Sohn der schottischen Königin Mary – auf den englischen Thron gebracht werden soll.

Cecils Gegner sind eine Reihe Aristokraten. Die wichtigsten von ihnen sind der Earl of Essex (Sam Reid) und der Earl of Southampton (Xavier Samuel). Ein weiterer, etwas vorsichtigerer Verbündeter gegen James ist der Earl of Oxford (Rhys Ifans), der von William Cecil großgezogen wurde, welcher auch ein wichtiger Berater Königin Elizabeths ist. Williams Sohn und Nachfolger, der bereits erwähnte Robert – ein schurkischer Buckliger – ist mit dem Earl of Oxford verfeindet.

Im Verlauf der Geschichte erfahren wir, dass Oxford als Jugendlicher mit der jungen Elizabeth (Redgraves‘ Tochter Joely Richardson) eine Affäre hatte und einen Sohn zeugte, dann aber dazu erpresst wurde, Anne Cecil zu heiraten – und die Schriftstellerei aufzugeben –, um ein Verbrechen geheimzuhalten, das er begangen hatte. Außerdem wird uns mitgeteilt, dass Oxford selbst ein unehelicher Sohn von Elizabeth ist, um als Krönung des ganzen noch Inzest draufzusetzen.

Inzwischen wird in der Handlungsgegenwart (d.h. Anfang des 17. Jahrhunderts) der Schriftsteller Ben Jonson von Oxford angeworben, um dessen alte und neue Stücke (laut dem Film ist der Earl ein Wunderkind und hat den Sommernachtstraum mit acht Jahren geschrieben!) am Londoner Theater unter seinem [Jonsons] Namen aufzuführen. Oxford hofft, durch seine Dramen Essex in den Augen der Bevölkerung (des „Mobs“) und der Königin gut dastehen zu lassen und Cecils und James‘ Stellung zu verschlechtern. Jonson stimmt zu, die Werke in Umlauf zu bringen, aber bringt es nicht über sich, dies unter seinem eigenen Namen zu tun. Ein halbgebildeter Emporkömmling von einem Schauspieler namens William Shakespeare (Rafe Spall) hat weniger Gewissensbisse und beginnt, den Ruhm für Oxfords Werke für sich einzuheimsen.

Den Höhepunkt des Films Anonymus bildet die Aufführung von Shakespeares (d.h. Oxfords) Richard III.. In dieser Tragödie geht es um einen entstellten Übeltäter (eine Anspielung auf Robert Cecil) und die Rebellion des Earl of Essex im Februar 1601. Dies hat für die Hauptfiguren des Films verheerende Folgen.

Emmerichs „dunkler“ Film ist vor allem ein äußerst perfides Werk. Ich möchte es den Psychologen überlassen, darüber zu entscheiden, warum es einige nachweislich mittelmäßige Künstler der Gegenwart für nötig halten, die größte Ansammlung von Dramatikern in der Geschichte der englischen Sprache (Shakespeare, Jonson, Christopher Marlowe und andere kleinere Sterne, darunter Thomas Nashe und Thomas Dekker) als Fälscher, Schläger, Vollidioten, Spitzel und noch Schlimmeres hinzustellen. Ist es Eifersucht? Oder Selbstrechtfertigung?

Am dümmsten und anstößigsten ist die Darstellung von Shakespeare. Wenn man behaupten will, dass der Autor der berühmten 37 Stücke der Earl of Oxford oder jemand anderes sei, muss man deshalb wirklich den anerkannten Autor als halbgebildeten Angeber, Säufer und… Mörder hinstellen?

Wo Anonymus nicht unangenehm und laut ist, ist er langweilig und voller Klischees. Man sieht die Gäste der Mermaid Tavern zechen; Shakespeare mit Dirnen herumziehen; die Cecils bei ihren Verschwörungen; während Essex und Southampton stolz und edel reiten und herumstolzieren (diese albernen Szenen erinnern an eine Parodie auf Kostümfilme in Steve Coogans und Rob Brydons Sitcom The Trip: „Gentleman, zu Bett, wir erheben uns im Morgengrauen!“), und die Oh’s und Ah’s der ungebildeten Besucher des Globe-Theaters – dies und vieles mehr stammt aus dem Handbuch der Stereotypen über das elisabethanische Zeitalter.

Viele talentierte Schauspieler werden hier schändlich verschwendet, darunter Ifans, Thewlis, Redgrave, Hogg und Jacobi. Redgrave, die ansonsten selbst in kleinen oder unauffälligen Rollen glänzt, ist in ihrer Rolle als zunehmend senile Monarchin unglaubwürdig und teilweise einfach geschmacklos. Ifans, ein guter Komödien-Schauspieler, hat die unmögliche Aufgabe, den Earl of Oxford als brillanten Frauenhelden und aristokratischen Märtyrer der Unterdrückung durch Elizabeths Polizeistaat zu spielen, der darüber hinaus noch die Zeit hat, Hamlet, König Lear und den Rest der bekannten Meisterwerke zu schreiben. Das Ganze ist einfach absurd.

Was sagt es über das heutige Hollywood aus, dass es sich in seiner einfallslosen Fantasie über das elisabethanische Zeitalter so verächtlich über die Vorstellung auslässt, dass der Sohn eines gewöhnlichen Handschuhmachers und Abgänger der Lateinschule die bemerkenswerten Werke geschrieben haben könnte, und stattdessen einem verlebten Aristokraten aus einer der besten Familien in ganz England den Vorzug gibt?

Emmerich und Orloff n werten alle negativen Reaktionen auf ihren Film als Beweis, dass sie die Welt der akademischen Shakespeare-Industrie mit ihrem „kontroversen“ und „mutigen“ Werk in Aufruhr versetzt haben. Wenn man ihnen die Idiotien des Films vorhält, reagieren sie darauf mit ihrer alternativen Verteidigungsargumentation, dem pseudo-postmodernen Argument, dass Geschichte und geschichtliche Motive sowieso erfunden seien, also warum sollte man sich dann darüber aufregen?

Außerdem gebe es auch bei Shakespeare Fehler, stellt Orloff fest: „Shakespeare spielte ständig mit der Geschichte. Seine Stücke waren keine Geschichte, sondern Dramen… wir folgen nur seinem Beispiel,“ sagte er in einem Interview. Was soll man dazu sagen?

Holger Syme, außerordentlicher Professor für Englisch an der Universität Toronto und Vorsitzender der Abteilung für Englisch und Theater an der Universität Toronto Missisauga, schreibt in seinem Blog: „Emmerich und Orloff strapazieren die Freiheiten, die ihnen ihre Ansichten zur Geschichte gewähren, in eindrucksvoller Weise , indem sie sämtliche dokumentierten Beweise für alles ignorieren, was im sechzehnten Jahrhundert passiert ist.“

Syme fährt fort: „Dem Film und seinem verrückten Drehbuch ist die Geschichte offensichtlich vollkommen egal. Das ist das Recht eines Filmemachers. Aber warum müssen Orloff und Emmerich dann beides machen? Es darf einen wohl aufregen, wenn man sich einen solchen Mist voller Fehler antut und dann gesagt bekommt, der Autor und der Regisseur wüssten mehr über das England zur Zeit der Tudors als die gesamte akademische Fachwelt von Literaturwissenschaftlern und Historikern.“ [http://www.dispositio.net/archives/449]

Außer den Fehlern und Absurditäten des Plots (Wieviele uneheliche Kinder hatte Elizabeth? Warum unternimmt keiner von Shakespeares Kollegen im Theater etwas gegen ihn, obwohl sie wissen, dass er nicht der Autor der großartigen Stücke ist? Warum merken der brillante Meisterspion Cecil und sein Netzwerk von fleißigen Spionen nicht von selbst, dass direkt vor ihrer Nase mit großem Werbeaufwand eine Inszenierung von Richard III geplant ist, mit einem buckligen Protagonisten? Kommt einem die letzte Unterhaltung zwischen Oxford und Elizabeth über ihren Sohn nicht etwas… spanisch vor, wenn man bedenkt, dass er weiß, dass die Königin seine Mutter ist, sie aber nicht?) Darüberhinaus sind die Fakten über die Literatur zurzeit von Königin Elizabeth vollkommen falsch dargestellt.

Professor Syme nennt einige davon, beispielsweise die folgenden: Wenn wir im Film die Stückeschreiber im Jahr 1598 sehen, „macht sich Marlowe über [Thomas] Dekker lustig, weil dessen Stück Shoemaker’s Holiday gescheitert ist und er für sich selbst die herausragende Stellung unter den Autoren historischer Stücke beansprucht. Das ist seltsam, denn Marlowe hat zu diesem Zeitpunkt seit fünf Jahren kein historisches Stück mehr geschrieben – vor allem weil er schon 1593 ermordet wurde. Und Dekkers Stück wurde erst 1599 geschrieben (wie es in dem berühmten unechten Dokument über Regierungsverschwörungen steht, das man als Henslowes Tagebuch kennt.)“

Er schreibt weiter: „Wie wäre es mit ein paar Jahreszahlen? Der Sommernachtstraum aus dem Jahr 1558 (der Earl of Oxford wäre damals acht Jahre alt gewesen) hätte ja einen gewissen Charme, aber wenn man Richard III., mit seinem ‘Winter unseres Missvergnügens’ und all dem, im Jahr 1601 als ‚brandneu‘ beworben hätte, hätten sich die paar Theaterbesucher, die schon im Jahr 1597 den Text in der gedruckten Version gekauft haben, sicher ziemlich aufgeregt. Ebenso die Käufer der Zweitauflage von 1598. Und dann gibt es da noch das kleine Problem, dass mehrere Zeugen behaupten, am Vorabend des Aufstands von Essex sei eine Aufführung von Richard II. gezeigt worden, in der leider kein Buckliger vorkam und dass diese Tatsache in mehreren Prozessen im Jahr 1601 als Beweis gegen den Earl und seine Mitverschwörer angeführt wurde.“ Und so geht es weiter.

Die Argumente gegen Shakespeare und für Oxford sind in keiner Hinsicht haltbar. In seinem Werk The Genius of Shakespeare von 1998 öffnet Jonathan Bate, der heute Professor an der Universität von Oxford ist, sein Kapitel über die „Kontroverse um die Autorenschaft“ folgendermaßen: „Etwas an der Identität von William Shakespeare ist mysteriös, und zwar: Warum sollte jemand daran zweifeln, dass er, William Shakespeare, ein Schauspieler aus Stratford-upon Avon, war?“

Bate weist auf die überwältigenden Beweise dafür hin, dass Oxford nicht der Autor gewesen sein kann, darunter Hinweise oder Andeutungen auf Ereignisse, die nach dem Tod des erlauchten Earls im Jahr 1604 in Shakespeares späteren Werken stattfanden.

Shakespeare-Gegner behaupten, keiner seiner Briefe existiere mehr, und Orloff wiederholt diese Behauptung. Aber Bate weist darauf hin, dass in jeder Gesamtausgabe seiner Werke Briefe an den Earl of Southampton am Anfang der Texte von Venus und Adonis und Lucretia abgedruckt sind.“ Er weist auf den unterwürfigen Tonfall in diesen Briefen hin und erklärt: „Der Stolz auf den gesellschaftlichen Vorrang war zu Elizabeths Zeit so wichtig, dass die Vorstellung, der mächtige Earl of Oxford würde im 43. Lebensjahr solche Worte an einen von [Lord] Burghleys [William Cecil war der Baron des Lehens Burghley] jugendlichen Schutzbefohlenen schreiben würde, noch unwahrscheinlicher ist als die, dass er nach seinem Tod noch Stücke schreiben würde.“

The Genius of Shakespeare widmet sich ausführlich den Argumenten gegen Shakespeare, die im späten viktorianischen Zeitalter aufkamen, als „die englische Kultur zum ersten Mal unter die strenge Vorherrschaft der Mittelklasse geriet. Die Mittelklasse war sehr besorgt über ‚Eindringlinge von unten‘ und zutiefst den Idealen der Oberklasse ergeben… William Shakespeare aus Stratford wurde zu einem Bauern gemacht, als Autor ausgeschlossen, und der Ruhm für seine Werke einem Lord zugeschrieben.“

Bates zitiert die Kommentare eines gewissen Christmas Humphreys, eines Anwalts, der 1955 ein Buch namens Wer war Shakespeare? schrieb; darin vertrat dieser die These, der Earl of Oxford habe die Werke geschrieben: „Es ist eine Schande für die Wissenschaft, unsere nationale Würde und unser Gerechtigkeitsempfinden, das Andenken an einen kleingeistigen Kaufmanns hochzuhalten und den wahren Autor der Stücke und Gedichte nicht zu ehren und zu ignorieren. Außerdem fand ich die Stücke viel interessanter, wenn man sie sich als die Werke eines großen Edelmannes vorstellt, der sehr nahe am Ursprung des elisabethanischen Englands stand.“

Bates fügt treffend hinzu: „‘Unsere nationale Würde‘, ‚ein kleingeistiger Kaufmann‘, ‚ein großer Edelmann‘: Diese drei Sätze sagen alles, was man wissen muss. Wie so viele Fragen in England, ist es letztlich eine Klassenfrage.“

Anonymus ist ein schlampiger, verantwortungsloser, modisch daherkommender, drittklassiger, kitschiger, postmoderner Beitrag zur „Autorenschaft-Kontroverse“ um Shakespeare. Seine Anmaßungen und Fälschungen sind ausschließlich das Werk von Orloff und Emmerich.

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