Mit der Verhängung des Belagerungszustandes in Boston wurde eine historische Schwelle überschritten: Zum ersten Mal wurde eine amerikanische Großstadt praktisch unter Kriegsrecht gestellt. Das Bild einer stabilen, auf verfassungsmäßigen Prinzipien fußenden Demokratie war bereits brüchig, – jetzt liegt es in Trümmern.
Am Montag, dem 15. April, explodierten nahe der Ziellinie des Bostoner Marathons im Stadtzentrum zwei Bomben. Drei Menschen wurden getötet, mehr als 170 verletzt, einige davon schwer. Dies war ein Verbrechen mit tragischen Folgen. Aber Gewalt, auch Massenmorde und Katastrophen mit vielen Toten, kommen in der amerikanischen Gesellschaft regelmäßig vor. Praktisch gleichzeitig mit dieser Explosion, noch vor Ende des Bostoner Marathons, kamen in Texas bei einer Fabrik-Explosion infolge Sicherheitsmängel weit mehr Menschen ums Leben.
Die massive Mobilmachung von Militär-, Polizei- und Geheimdienstkräften vom 19. April in Boston, in einer Region mit über einer Million Einwohnern, ist ohne Beispiel. Tausende bis an die Zähne bewaffnete Polizisten und Nationalgardisten besetzten die Straßen, und gepanzerte Fahrzeuge mit Maschinengewehren, Humvee-Geländewagen und Black Hawk-Hubschrauber kamen zum Einsatz. Wie die WSWS schreibt, erinnerte das Schauspiel an die amerikanische Besetzung Bagdads.
Die Bewohner wurden angewiesen, in ihren Wohnungen zu bleiben, während Polizisten mit automatischen Waffen ohne Durchsuchungsbefehle Häuser durchsuchten. Einige Bewohner, die draußen blieben, wurden von der Polizei eingekreist und in ihre Häuser geführt. Das öffentliche Verkehrssystem wurde lahmgelegt, der Personenverkehr nach Nordosten unterbrochen, Geschäfte, Universitätsgebäude und andere öffentliche Einrichtungen geschlossen.
Boston, bekannt als Wiege der amerikanischen Revolution, als liberalste Stadt im liberalsten Bundesstaat, als Zentrum der höheren amerikanischen Bildung, – dieses Boston wurde praktisch unter Kriegsrecht gestellt. Die atemberaubende Maschinerie dieser staatlichen, bundesstaatlichen und städtischen Polizeimacht wurde eingesetzt, um einen neunzehnjährigen Jugendlichen zu ergreifen.
Weder von Seiten der Politiker, noch aus den Medien hat man bisher Proteste gegen dieses Vorgehen vernommen.
Als der angebliche Attentäter Dschochar Zarnajew festgenommen war, veröffentlichte Präsident Obama am späten Abend eine Stellungnahme des Weißen Hauses. Er hob darin die Rolle seiner Regierung in der Mobilisierung der Polizei hervor und brüstete sich damit, er habe alle staatlichen Mittel eingesetzt, um die Sicherheit soweit nötig zu erhöhen. Ohne Rücksicht auf die Unschuldsvermutung bezeichnete er den Verdächtigen und seinen toten Bruder als „Terroristen“.
Obamas Justizministerium kündigte kurz darauf an, es werde dem Verdächtigen seine Rechte nicht verlesen, d.h. es werde ihm nicht sagen, dass er die Aussage verweigern und einen Rechtsberater konsultieren könne, bevor er mit Ermittlern spreche. Stattdessen werde man den schwer verletzten Jugendlichen „ausführlich“ befragen, nicht nur über Fragen der öffentlichen Sicherheit, sondern auch über geheimdienstliche Angelegenheiten. Das schafft einen Präzedenzfall, so dass all jenen diese Rechte verweigert werden können, die unter den Antiterrorgesetzen verhaftet werden. Dabei wurden unter Obama bereits politische Dissidenten unter Antiterrorgesetzen verhaftet, zum Beispiel Occupy-Aktivisten oder Anti-Nato-Demonstranten.
Ermutigt durch die Mobilisierung von Polizei und Militär forderten die republikanischen Senatoren Lindsey Graham und John McCain, sowie der Kongressabgeordnete von New York, Peter King, Zarnajew müsse zum feindlichen Kämpfer erklärt und dem Militär übergeben werden. Es handelt sich um Politiker, die allesamt enge Beziehungen zu Militär und Geheimdiensten haben.
Die Ereignisse in Boston haben den Modus Operandi für die Einführung diktatorischer Herrschaftsformen in den USA gelegt: Die Gewalttat eines desorientierten und unzufriedenen Individuums, das möglicherweise von Elementen innerhalb des Staates unterstützt wird, wird zum Terroranschlag erklärt. Daraufhin wird der Belagerungszustand verhängt, demokratische Rechte werden ausgesetzt und Militär und Polizei übernehmen die Kontrolle.
Alle staatlichen Organe sind so tief in diese Pläne verwickelt, dass es für die Einführung diktatorischer Herrschaftsformen gar nicht nötig wäre, das äußere Erscheinungsbild der Politik stark zu ändern. Weder müsste der Präsident gestürzt, noch der Kongress aufgelöst werden. Diese Institutionen würden bereitwillig ihre zugewiesenen Rollen spielen, und der Oberste Gerichtshof würde den Aufbau einer Militärdiktatur absegnen.
Die Medien würden einfach weiter das tun, was sie jetzt schon tun: den Staat verteidigen, die notwendigen Vorwände liefern und gleichzeitig die Bevölkerung in Angst und Panik versetzen.
Das gesamte Establishment teilt offenbar die Ansicht, dass wegen der Gewalttat einer Handvoll Personen demokratische Normen nicht mehr gelten können. Dies zeigt den fortgeschrittenen Verfall der amerikanischen Gesellschaft.
Das Ausmaß der Reaktion auf die tatsächliche Bedrohung war so unverhältnismäßig, dass man nicht umhin kommt, anzunehmen, dass die Anschläge von Boston nicht Ursache, sondern Vorwand für die Abriegelung der Stadt waren. Die Mobilisierung der Polizei war der Höhepunkt einer intensiven Planung seit mehr als zehn Jahren und des unermüdlichen Aufbaus der staatlichen Repressionskräfte seit dem 11. September 2001, wobei der „Krieg gegen den Terror“ als Rechtfertigung diente.
Diese Operation ist kein Ausdruck der Stärke oder des Selbstvertrauens der herrschenden Klasse. Im Gegenteil, an ihr zeigt sich die Angst der Wirtschafts- und Finanzelite vor der wachsenden sozialen Unzufriedenheit, die durch die extreme Nervosität über die prekäre Lage an den internationalen Finanzmärkten nur verstärkt wird. Nicht die Angst vor Terroranschlägen treibt die herrschende Klasse um, sondern die Furcht vor einem neuen Finanzcrash, der zwangsläufig zu massiven sozialen Unruhen führen wird.
Der Zusammenbruch der amerikanischen Demokratie hat tiefgehende Ursachen, an erster Stelle die verheerende soziale Ungleichheit. Eine Demokratie kann nicht funktionieren, wenn die reichsten fünf Prozent der Bevölkerung über 60 Prozent des Reichtums kontrollieren. Durch die Wende zur Polizei- und Militärdiktatur geraten die Herrschaftsformen in Übereinstimmung mit der tieferen sozialen Realität des amerikanischen Kapitalismus.
Eine weitere wichtige Ursache für die Krise der Demokratie ist der Ausbruch des US-Militarismus. Die Macht des Militär- und Geheimdienstapparates ist vor allem seit Ende der Sowjetunion stark angewachsen, während die herrschende Klasse militärische Aggression als einen Weg entdeckt, den weltweiten Niedergang ihrer wirtschaftlichen Stellung auszugleichen. Das Berufsmilitär, das von der Gesellschaft getrennt ist und ihr feindselig gesonnen ist, hat immer größeren Einfluss auf die politischen Vorgänge und zivilen Autoritäten. Wie üblich ist imperialistischer Krieg nicht mit der Demokratie zu vereinbaren.
Der amerikanische Liberalismus existiert nicht mehr als eigenständige politische Tendenz. Dass sich die Demokratische Partei hinter den „Krieg gegen den Terror“ stellt und die damit verbundene Aggression nach außen und Unterdrückung nach innen mit organisiert, zeigt deutlich, dass keine Sektion der herrschenden Elite die demokratischen Rechte verteidigen wird. Die Obama-Regierung setzt die rechte und undemokratische Politik der Bush-Regierung fort. Ohne Zweifel ist sie die reaktionärste Regierung der amerikanischen Geschichte.
Wie üblich spielen die Medien und ihr Spitzenpersonal die übelste Rolle. Sie haben den Äther von Anfang an in eine ständig brodelnde Gerüchteküche verwandelt und eine haltlose Behauptung nach der anderen verbreitet, um Angst und Panik zu schüren und die Polizeistaatsmaßnahmen zu rechtfertigen. CNN-Sprecher Chris Cuomo, der Sohn des ehemaligen demokratischen Gouverneurs von New York und Bruder des derzeitigen Gouverneurs, erklärte den Zuschauern: „Wir haben Ihnen nur die Bilder gezeigt, die den Behörden genehm waren.“
Die Medien versuchen den Eindruck zu erwecken, die Bevölkerung unterstütze die Verhängung des Kriegsrechtes. Aber die anfängliche Verwirrung wird wachsender Unzufriedenheit weichen. Der abrupte Wechsel der Herrschaft wird in der Bevölkerung zu Widerstand führen, vor allem in der Arbeiterklasse.
Es ist wichtig, die richtigen Schlüsse zu ziehen: Soziale Ungleichheit und Krieg – die unausweichlichen Folgen des Kapitalismus – sind nicht mit Demokratie vereinbar. Eins von beiden – Kapitalismus oder Demokratie – muss abgeschafft werden. Das ist das Problem, vor dem die Arbeiterklasse steht.