Die Deutsche Bahn reagiert auf das Debakel am Mainzer Hauptbahnhof, der wegen fehlender Fahrdienstleiter seit Tagen weitgehend vom Bahnverkehr abgehängt ist, indem sie die Eisenbahnergewerkschaft EVG in die Personalabteilung einbezieht und zum Co-Manager macht. Die seit jeher enge Zusammenarbeit zwischen Bahnvorstand und Gewerkschaft erhält dadurch eine neue Qualität. Sie richtet sich direkt gegen die Interessen der Belegschaft.
Bahn-Personalvorstand Ulrich Weber traf sich am Mittwochabend in Frankfurt mit der Führung der EVG zu einem Spitzengespräch. Es wurde vereinbart, dass die Personalabteilung der Bahn, die Gewerkschaft und ihre Betriebsräte das Unternehmen gemeinsam „durchforsten“. Das gilt nicht nur für die Stellwerke, wo nach Angaben der Gewerkschaft bundesweit 1.000 Fahrdienstleiter fehlen, sondern für alle Betriebe der Bahn.
Der Ausfall des Mainzer Hauptbahnhofs hatte die Bahn bundesweit in die Schlagzeilen gebracht. Die Öffentlichkeit reagierte empört und fassungslos auf den weitgehenden Ausfall des öffentlichen Verkehrs, dessen Folgen im ganzen Rhein-Main-Gebiet spürbar waren.
Der größte Teil des Fernverkehrs wird derzeit ganztägig um Mainz herumgeleitet, der Regional- und S-Bahnverkehr ist massiv eingeschränkt. Bereits zuvor hatte nach 20 Uhr kein Fernzug mehr in Mainz gehalten.
Grund ist der akute Personalmangel im Stellwerk, wo wegen Urlaub und Krankheit die Hälfte der Mannschaft ausfiel. Bahnvertreter mussten eingestehen, dass die Lage in anderen Stellwerken ähnlich prekär ist und dass sich das Debakel von Mainz jederzeit anderswo wiederholen könnte. So sind in Bebra und Zwickau bereits Züge wegen Personalmangels in den Stellwerken ausgefallen.
Laut EVG-Chef Alexander Kirchner ist Mainz nur „die Spitze des Eisbergs“. Im ganzen Konzernbereich sind wegen Personalmangels acht Millionen Überstunden und neun Millionen Stunden ausstehender Urlaub aufgelaufen.
Der Personalmangel ist eine Folge der Privatisierungspolitik der 1990er und 2000er Jahre. Die Bahn wurde in ein profitorientiertes Unternehmen umgewandelt und sollte unter Bahnchef Hartmut Mehdorn an die Börse gebracht werden, was 2008 aufgrund der internationalen Finanzkrise allerdings scheiterte.
Um die Bahn aus einem staatlichen Dienstleister in ein profitables Unternehmen zu verwandeln, wurde die Belegschaft zwischen 1994 und 2010 um 150.000 auf 190.000 verringert. Allein die Netzsparte, zu der auch die Stellwerke gehören, schrumpfte von 2001 bis 2012 von 54.000 auf 35.000 Beschäftigte.
Dank des Personalabbaus erzielt die Netztochter einen hohen Überschuss, den sie an den Mutterkonzern abführt. Laut Informationen der Süddeutschen Zeitung geht die Bahn für die nächsten fünf Jahre von Renditen über 20 Prozent aus, Tendenz steigend. Der Alleineigentümer Bund verlangt vom Mutterkonzern seinerseits jährliche Überweisungen von 500 Millionen Euro. Ab 2014 soll die Bahn sogar 700 Millionen Euro abwerfen.
Die Gewerkschaftsfunktionäre und die SPD-Politiker, die jetzt über den überzogenen Arbeitsplatzabbau klagen, waren alle enthusiastische Befürworter der Bahnprivatisierung, bevor der Börsengang 2008 ad acta gelegt wurde.
Eisenbahn-Bundesamt und Netzagentur haben die Bahn inzwischen angewiesen, „unverzüglich ihrer Betriebspflicht für den Bahnverkehr wieder nachzukommen und für das Mainzer Stellwerk sofort ausreichend qualifiziertes Personal bereitzustellen“. Andernfalls drohten der Bahn Zwangsmaßnahmen bis hin zu einem Strafgeld von 250.000 Euro.
Dabei gibt es keine schnelle Lösung. Die Fahrdienstleiter, die vom Stellwerk aus die Weichen und Signale bedienen und für den sicheren Ablauf des Bahnverkehrs sorgen, können nicht von heute auf morgen ersetzt werden. So braucht ein Fahrdienstleiter, der beispielsweise von Köln nach Mainz wechselt, mindestens drei Monate, bis er in Mainz eingearbeitet ist und den Schienenverlauf, die Weichen und den Fahrplan in diesem Bereich ausreichend kennt. Mit einem regelmäßigen Bahnverkehr ist in Mainz nicht vor September zu rechnen – wenn nicht weitere Fahrdienstleiter krank werden.
Die Eingliederung der Gewerkschaft in die Personalabteilung der Bahn verfolgt das Ziel, den Konzern aus der Misere zu holen, ohne die hohe Rendite der Netzsparte und die Überweisungen der Bahn an den Bund zu gefährden.
Wie weit es zu Neueinstellungen kommt, ist dabei völlig offen. Im Bereich der Stellwerke sind bisher eher Maßnahmen im Gespräch, die zu einer zusätzlichen Belastung der Fahrdienstleiter führen. Sie sollen auch an anderen Stellwerken, die in der Nähe liegen, ausgebildet werden, damit sie noch flexibler und effektiver eingesetzt werden können. Solche Maßnahmen lassen sich in Zusammenarbeit mit der Gewerkschaft leichter durchsetzen.
Für die Rolle als Co-Manager der Bahn ist die EVG bestens gerüstet. Sie, bzw. ihre Vorgängerorganisation Transnet unter ihrem damaligen Vorsitzenden Norbert Hansen, arbeitet schon seit Jahren als verlängerter Arm des Bahnkonzerns und vertritt dessen Interessen. In den 2000er Jahren zählte sie zu den Hauptbefürwortern des Börsengangs. Norbert Hansen wurde dafür 2008 mit dem Posten des Arbeitsdirektors im Konzernvorstand belohnt, mit einem Salär von rund 150.000 Euro im Monat!
Hansens Interims-Nachfolger im Vorsitz der Gewerkschaft Transnet, Lothar Krauß, verteidigte Hansens Wechsel in den Bahnvorstand als „Bestandteil der deutschen Mitbestimmungskultur“. Krauß erklärte, er halte es „für vollkommen ok“ und sei stolz darauf, dass Gewerkschafter auch Verantwortung in der Funktion eines Arbeitsdirektors übernähmen.
Im Jahr zuvor hatte Transnet sich offen als Streikbrecherorganisation für die deutsche Bahn betätigt. Einem Streik der Lokführer fiel Transnet in den Rücken, denunzierte die Lokführer-Gewerkschaft GdL und stellte sich offen auf die Seite des Konzerns. Sie schreckte nicht einmal davor zurück, gemeinsam mit dem Bahnvorstand die Justiz gegen die GdL einzuspannen.
Auch den Abbau von 150.000 Stellen zur Vorbereitung des Börsengangs hatte die Gewerkschaft wohlwollend begleitet.