In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 und an den folgenden Tagen brannten in ganz Deutschland über 1.400 Synagogen nieder. Tausende jüdische Geschäfte wurden zerstört, Wohnungen geplündert, Menschen angegriffen und Friedhöfe geschändet. Rund 30.000 Juden wurden in Konzentrationslager gesperrt, etwa 1.500 ermordet.
Die Novemberpogrome kennzeichneten zwar nicht den Anfang der Judenvorfolgung in Nazi-Deutschland, die unmittelbar nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler im Januar 1933 begann. Aber sie markierten den Übergang von der Diskriminierung jüdischer Bürger zu ihrer systematisch Verfolgung, die drei Jahre später in ihre planmäßige Vernichtung mündete.
Die Nazis gaben sich große Mühe, das November-Pogrom als spontanen Ausbruch des Volkszorns darzustellen, als Reaktion auf das Attentat, das der 17-jährige Herschel Grünspan (Grynszpan) am 7. November in Paris auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath verübt hatte. Tatsächlich wurde es auf höchster Ebene von Partei und Staat geplant und organisiert.
Hitler und die gesamte Parteiführung befanden sich in München, um den Jahrestag des Hitler-Ludendorff-Putsches vom 9. November 1923 zu feiern, als Rath zwei Tage nach dem Attentat an den Folgen seiner Schussverletzungen starb. Propagandaminister Joseph Goebbels persönlich heizte dann in einer Radioansprache die antisemitische Stimmung an.
Bereits am Tag vorher hatte der Völkischer Beobachter die Marschrichtung vorgegeben: „Es ist ein unmöglicher Zustand, dass in unseren Grenzen Hunderttausende von Juden noch ganze Ladenstraßen beherrschen, Vergnügungsstätten bevölkern und als ‚ausländische’ Hausbesitzer das Geld deutscher Mieter einstecken, während ihre Rassegenossen draußen zum Krieg gegen Deutschland auffordern und deutsche Beamte niederschießen“, schrieb das Nazi-Blatt.
Nach Goebbels Ansprache gaben die in München anwesenden Gauleiter und SA-Führer Anweisungen an die örtlichen Parteigliederungen. Goebbels Propagandaministerium sandte entsprechende Telegramme an untergeordnete Behörden und an die Gestapo, die ihrerseits ihre Untergebenen instruierten.
So hieß es in einer Anweisung der SA-Stelle „Nordsee“: „Sämtliche jüdische Geschäfte sind sofort von SA-Männern in Uniform zu zerstören. […] Jüdische Synagogen sind sofort in Brand zu stecken, jüdische Symbole sind sicherzustellen. Die Feuerwehr darf nicht eingreifen. […] Der Führer wünscht, dass die Polizei nicht eingreift. Sämtliche Juden sind zu entwaffnen. Bei Widerstand sofort über den Haufen schießen. An den zerstörten jüdischen Geschäften, Synagogen usw. sind Schilder anzubringen, mit etwa folgendem Text: ‚Rache für Mord an vom Rath. Tod dem internationalen Judentum. Keine Verständigung mit Völkern, die judenhörig sind.‘“
Im Laufe der Nacht begann dann ein beispielloser Terror gegen die jüdische Bevölkerung. In einem Augenzeugenbericht aus Nürnberg, den der Historiker Jörg Wollenberg in seinem Buch „Niemand war dabei und keiner hat's gewusst“ zitiert, wird das typische Vorgehen geschildert:
„Zuerst kamen die großen Ladengeschäfte dran; mit mitgebrachten Stangen wurden die Schaufenster eingeschlagen, und der am Abend bereits verständigte Pöbel plünderte unter Anführung der SA die Läden aus. Dann ging es in die von Juden bewohnten Häuser. […]
Viele der ‚spontanen‘ Rächer waren mit Revolver und Dolchen ausgestattet; jede Gruppe hatte die nötigen Einbrecherwerkzeuge wie Äxte, große Hammer und Brechstangen dabei. Einige SA-Leute trugen einen Brotbeutel zur Sicherstellung von Geld, Schmuck, Fotos und sonstigen Wertgegenständen, die auf einen Mitnehmer warteten. […]
Glastüren, Spiegel, Bilder wurden eingeschlagen, Ölbilder mit den Dolchen zerschnitten, Betten, Schuhe, Kleider aufgeschlitzt, es wurde alles kurz und klein geschlagen. Die betroffenen Familien hatten am Morgen des 10. November meistens keine Kaffeetasse, keinen Löffel, kein Messer, nichts mehr. Vorgefundene Geldbeträge wurden konfisziert, Wertpapiere und Sparkassenbücher mitgenommen. Das schlimmste dabei waren die schweren Ausschreitungen gegen die Wohnungsinhaber, wobei anwesende Frauen oft ebenso misshandelt wurden wie die Männer.“
An den Schauplätzen der Pogrome sammelten sich Schaulustige, die die Täter teilweise anfeuerten oder sich an den Plünderungen betätigten. In ländlichen Gegenden beteiligten sich auch Angehörige der Hitlerjugend an den Misshandlungen. Insgesamt war die Reaktion der breiten Bevölkerung aber eher von Passivität, zum Teil auch von Entsetzen und Ablehnung geprägt.
Das geht unter anderem aus bisher unveröffentlichten Berichten in Deutschland stationierter Diplomaten hervor, die das deutsche Außenministerium anlässlich des 75. Jahrestags gesammelt hat. Sie sind zurzeit in der Neuen Synagoge an der Oranienburger Straße in Berlin ausgestellt.
Die Diplomaten zeigten sich über das Ausmaß und die Brutalität des Pogroms gut informiert und schilderten auch Reaktionen aus der Bevölkerung. So berichtete der finnische Botschafter Aarne Wuorimaa laut Spiegel: „’Ich schäme mich als Deutscher’ ist eine ganz häufige Äußerung, die man hört.“
Auch der in der Regel gut informierte Vorstand der Exil-SPD (Sopade) meldete aus mehreren Landesteilen „große Empörung über diesen Vandalismus“ und zum Teil sogar öffentlich gezeigte Ablehnung.
Die deutsche Bevölkerung war zu diesem Zeitpunkt seit fünfeinhalb Jahren systematisch mit antisemitischer Propaganda überschwemmt worden. Schon im April 1933 hatten die Nazis den ersten landesweiten Boykott jüdischer Geschäfte organisiert. Im selben Monat hatten neue Gesetze über die Zulassung von Berufsbeamten und Rechtsanwälten 37.000 Juden ihrer beruflichen Existenz beraubt. Zwei Jahre später degradierten die Nürnberger Rassengesetze die Juden dann zu Bürgern zweiter Klasse. Sie verboten Ehen und sexuelle Kontakte zwischen Juden und Nichtjuden, beraubten Juden ihrer bürgerlichen Rechte und schlossen sie von zahlreichen Berufen aus.
Wer öffentlich Widerstand leistete, musste mit Denunziation und Verfolgung rechnen. Parteien und Organisationen, die den Widerstand hätten organisieren können, gab es nicht mehr. Die beiden einzigen nicht völlig gleichgeschalteten Organisationen, die evangelische und die katholische Kirche, hüllten sich entweder in Schweigen oder unterstützten die Pogrome.
So begrüßte der evangelische Landesbischof von Thüringen, Martin Sasse, den Brand der Synagogen unter Berufung auf Martin Luther, dessen Geburtstag auf den 10. November fiel und den er einen „Warner seines Volkes wider die Juden“ nannte.
Der Oberkirchenrat der Evangelisch-Lutherischen Landeskirche Mecklenburgs erklärte: „Kein im christlichen Glauben stehender Deutscher kann, ohne der guten und sauberen Sache des Freiheitskampfes der deutschen Nation gegen den jüdischen antichristlichen Weltbolschewismus untreu zu werden, die staatlichen Maßnahmen gegen die Juden im Reich, insbesondere die Einziehung jüdischer Vermögenswerte bejammern.“
Mit ihrem Vorgehen gegen die Juden verfolgten die Nazis mehrere Ziele.
Erstens hatte der Antisemitismus – wie bis heute jede Form von Rassismus – die Aufgabe, einen Keil zwischen die Arbeiterklasse und politisch rückständige Schichten des Kleinbürgertums zu treiben. Ein Meister dieser Technik war der Wiener Bürgermeister Karl Lueger, der zu Hitlers wichtigsten politischen Vorbildern zählt. Lueger gewann mit einer Mischung von Antisemitismus und antikapitalistischer Rhetorik eine große Anhängerschaft im Kleinbürgertum und regierte von 1897 bis 1910 die österreichische Hauptstadt.
Hitlers eigener Antisemitismus war von seinem Hass auf die sozialistische Arbeiterbewegung geprägt. Der Historiker Konrad Heiden hat darauf hingewiesen, dass „nicht Rothschild der Kapitalist, sondern Karl Marx der Sozialist“ Hitlers Antisemitismus schürte. Er verachtete die Arbeiterbewegung nicht, weil sie von Juden geführt wurde, sondern er verachtete die Juden, weil sie die Arbeiterbewegung führten.
Die Zerschlagung der organisierten Arbeiterbewegung war dann ihrerseits die Voraussetzung dafür, dem Antisemitismus freien Lauf zu lassen. Im Gegensatz zu den bürgerlichen Parteien hatte die marxistische Arbeiterbewegung den Antisemitismus stets energisch bekämpft. Das Schicksal der Juden war untrennbar mit ihrem Schicksal verbunden.
Zweitens diente die Enteignung und Beraubung der Juden der Bereicherung der Nazi-Elite und der Finanzierung der Aufrüstung für den Weltkrieg. Nicht wenige unterstützten die Pogrome, weil sie persönlich von der „Arisierung“ jüdischen Eigentums profitierten.
Unmittelbar nach dem Pogrom ging das Nazi-Regime dazu über, die Juden vollends aus der deutschen Wirtschaft auszuschließen. Als „Sühneleistung“ für „die feindliche Haltung des Judentums gegenüber dem deutschen Volk“ erhob es eine Vermögensabgabe von einer Milliarde Reichsmark. Jeder jüdische Bürger, der mehr als 5.000 Reichsmark besaß, musste 20 Prozent seines Vermögens an den Staat abgeben.
Dies war eine erhebliche Summe für den Staatshaushalt, der sich kurz vor dem Zusammenbruch befand. Hermann Göring, der die Maßnahme vorgeschlagen hatte, notierte damals in einem Vermerk: „Sehr kritische Lage der Reichsfinanzen. Abhilfe zunächst durch die der Judenschaft auferlegte Milliarde und durch die Reichsgewinne bei der Arisierung jüdischer Unternehmen.“
Waren die Juden nach der Machtübernahme der Nazis verfolgt und gesetzlich diskriminiert worden, so wurden sie mit den Novemberpogromen außerhalb jeglichen Rechts gestellt. Sicherheitsbehörden und Justiz wurden von höchster Stelle angewiesen, der Zerstörung ihres Eigentums und teilweise ihres Lebens tatenlos zuzusehen und die Täter nicht zu verfolgen. 30.000 Juden wurden aufgrund ihrer Religionszugehörigkeit in die Konzentrationslager Buchenwald, Dachau und Sachsenhausen verschleppt, wo sie unter unmenschlichen Bedingungen leben und arbeiten mussten und viele umgebracht wurden.
Die Novemberpogrome waren so eine direkte Vorstufe zum Holocaust. Mit dem Kriegsausbruch fielen alle Hindernisse dafür weg.
Der Massenmord an den deutschen und europäischen Juden verschmolz mit dem Vernichtungskrieg im Osten, der von Anfang an darauf abzielte, die gesamte politische und intellektuelle Führungsschicht der Sowjetunion auszurotten. Die kaltblütige Ermordung von sechs Millionen Juden war der Höhepunkt eines Vernichtungsfeldzugs, dem in Polen, Osteuropa und der Sowjetunion Millionen Kommunisten, Partisanen, Intellektuelle und einfache Leute zum Opfer fielen.
Verantwortlich für dieses historisch bespiellose Verbrechen waren nicht nur Hitler und seine unmittelbaren Schergen, sondern die gesamte herrschende Elite Deutschlands. Sie hatte Hitler mit der Macht betraut, als inmitten der tiefsten Krise des Kapitalismus alle anderen Mechanismen zur Unterdrückung der Arbeiterklasse und zur Verwirklichung ihrer expansionistischen Ziele versagten.
Thyssen, Krupp, Flick und andere Großindustrielle hatten der NSDAP Millionenbeträge gespendet. Hindenburg, die Symbolfigur des Heeres, hatte Hitler zum Kanzler ernannt. Und schließlich hatten alle bürgerlichen Parteien dem Ermächtigungsgesetz zugestimmt, das Hitlers Diktatur besiegelte.
Der 75. Jahrestag der Novemberpogrome ist deshalb nicht nur ein Anlass zum Gedenken, er ist auch eine Warnung für die Zukunft. Die herrschende Klasse reagiert auf die tiefe, weltweite Krise des Kapitalismus und die wachsenden Klassengegensätze, indem sie wieder zu autoritären Herrschaftsformen, Rassismus und Krieg greift.
In der Barbarei der Nazis, die in der Ermordung von Millionen Juden und dem Vernichtungsfeldzug im Osten gipfelte, fand der brutale Charakter des Kapitalismus seinen schärfsten Ausdruck. Eine Wiederholung ähnlicher Katastrophen kann nur verhindert werden, wenn der Kapitalismus gestürzt und durch eine sozialistische Gesellschaft ersetzt wird.