100. Geburtstag Willy Brandts

Wie der Gegner der Trotzkisten zum ersten sozialdemokratischen Kanzler wurde

Der hundertste Geburtstag von Willy Brandt am 18. Dezember hat eine wahre Flut von Sondersendungen, Veranstaltungen, Ausstellungen, Dokumentationen und Kommentaren ausgelöst.

Bereits vor vier Wochen erschien Der Spiegel mit der Schlagzeile „100 Jahre Willy Brandt – Der Patriot, geliebt, bekämpft, verraten“. Die Wochenzeitung Die Zeit folgte wenige Tage später mit einem ganzseitigen Titelbild des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers (Brandt melancholisch, als Mandolinenspieler) mit der Überschrift „Warum er uns nicht loslässt?“. Es folgte ein 50-seitiges Hochglanzmagazin „Willy Brandt – Visionär, Weltbürger, Kanzler der Einheit“.

Zu Lebzeiten erhielt Brandt den Friedens-Nobelpreis. Nun hat man den Eindruck, er solle bald heilig gesprochen werden.

Die Brandt-Euphorie hat etwas Bizarres. Die herrschende Elite in Wirtschaft, Politik und Medien versucht ihn als gesellschaftlichen Übervater zu stilisieren. Im Rückblick wird seine Rolle als Politiker, der während der großen Streiks der sechziger und siebziger Jahre die Arbeiter „mit dem Kapitalismus versöhnte“, die protestierenden Studenten durch die Bildungsoffensive von der Straße holte und mit der „neuen Ostpolitik“ die deutsche Wiedervereinigung vorbereitete, grandios überhöht. Sein Kniefall vor dem Ehrenmal des Warschauer Ghettos im Dezember 1970 wird als begnadeter Einfall eines Genies dargestellt.

Ein Psychologe würde diese Glorifizierung von Willy Brandt wohl als typischen Ausdruck von Angst bezeichnen. Im Blick zurück in die Vergangenheit wird das geschaffen, was man in der Gegenwart am stärksten vermisst: eine charismatische Führungsfigur.

Die herrschende Klasse weiß, dass die historische Krise des Kapitalismus, die heute noch tiefer und umfassender ist als in den dreißiger Jahren, zu gewaltigen Klassenkämpfen und gesellschaftlichen Erschütterungen führt. Es ist unmöglich, die Politik des Sozialabbaus fortzusetzen, ohne dass sich massiver Widerstand dagegen entwickelt.

Willy Brandt war für die herrschende Klasse in den Nachkriegsjahrzehnten zweifellos sehr nützlich. Er war Antifaschist – im Gegensatz zu vielen alten Nazis im Umkreis der Adenauer-Regierung – und konnte linke Reden halten, vertrat aber eine außerordentlich rechte Politik.

So jemanden hätte die herrschende Klasse heute gerne wieder. Aber sie hat nur eine ostdeutsche Pfarrerstochter als Kanzlerin, die die politischen Konsequenzen ihrer radikalen Kürzungspolitik nicht abzusehen vermag, und einen DDR-Pastor als Bundespräsidenten, dessen politisches Talent sich in antikommunistischen Predigten erschöpft. Dazu kommt noch ein SPD-Vorsitzender, der Staatsräson, Agenda 2010 und Law-and-Oder-Politik als die wichtigsten sozialdemokratischen Errungenschaften betrachtet.

Die große Mehrheit der arbeitenden Bevölkerung steht der Brandt-Euphorie distanziert und abweisend gegenüber. Bei vielen ruft der Name Willy Brandt nur Erinnerungen an enttäuschte Illusionen hervor. Einige der Älteren erinnern sich noch an die großen Demonstrationen und Streiks der sechziger und siebziger Jahre, die vergeblich versuchten, die Brandt-Regierung zu Sozialreformen zu zwingen. Der Ausspruch „Wir halten Willy in der Reichweite unserer Peitsche“ war damals unter Arbeitern verbreitet, erwies sich aber schnell als Illusion.

Heute erwartet niemand mehr soziale Verbesserungen oder auch nur den Ansatz einer fortschrittlichen Initiative von den Sozialdemokraten. Die SPD wird als das gesehen, was sie ist: eine rechte Staatspartei.

Brandt, die SAP und die Vierte Internationale

In den viele Veröffentlichungen über den politischen Werdegang von Willy Brandt werden einige Perioden gezielt ausgeblendet. Kaum jemand spricht darüber, dass Brandt während seines Exils in Norwegen heftige Angriffe auf Trotzki und die Linke Opposition gegen den Stalinismus führte. Sein späterer Aufstieg in der westdeutschen Nachkriegs-SPD war eng mit diesen Attacken auf die Trotzkisten verbunden. Dieser äußerst lehrreiche Zusammenhang soll hier genauer beleuchtet werden.

Im jungen Alter von nur 16 Jahren trat Brandt – der damals noch Herbert Frahm hieß – in seiner Heimatstadt Lübeck der SPD bei. Doch diese erste Mitgliedschaft in der SPD währte nicht lange. Als sich im Herbst 1931 die Sozialistische Arbeiterpartei Deutschland (SAP) formierte, verließ er die SPD und trat in die SAP ein. Nach der Machtübernahme der Nazis emigrierte er nach Norwegen und übernahm in Oslo die Leitung der SAP-Jugendorganisation.

Brandt als junger Mann

Die SAP war eine klassisch zentristische Partei. Das heißt, sie kritisierte die rechte Politik der SPD, weigerte sich aber, revolutionäre Schlussfolgerungen aus dieser Kritik zu ziehen, und schwankte zwischen dem reformistischen und revolutionären Lager der Arbeiterbewegung hin und her.

Die SAP war als linke Abspaltung der SPD entstanden und hatte sich zu einem Sammelbecken für unterschiedliche Strömungen entwickelt, die in der SPD und der KPD keinen Platz fanden. Darunter waren linke Sozialdemokraten, ehemalige Führer der USPD, Restbestände der Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands (KAPD), Überläufer aus dem Leninbund und der KPD-Opposition (Brandlerianer) und verschiedene Gruppen, die sich als „radikale Pazifisten“ bezeichneten.

Trotzki charakterisierte die SAP als „Gruppe verzweifelter sozialdemokratischer Beamter, Advokaten und Journalisten“ und fügte hinzu, ein verzweifelter Sozialdemokrat sei aber noch kein Revolutionär.

Unter den Schlägen des Nationalsozialismus bewegte sich die SAP vorübergehend nach links. Max Seydewitz und Kurt Rosenfeld, zwei linke Sozialdemokraten, wurden an der Parteispitze durch Jacob Walcher und Paul Frölich abgelöst, zwei Gründungsmitglieder der KPD, die aus der von Brandler geführten KPD-Opposition kamen.

Im August 1933 rief die Internationale Linke Opposition (IKL) zum Aufbau der Vierten Internationale auf. Trotzki zog damit die Lehren aus der deutschen Katastrophe. Die verheerende Politik der KPD, die eine Einheitsfront mit der SPD gegen die Nazis strikt ablehnte, hatte es Hitler erlaubt, legal – d.h. ohne einen Schuss abzugeben – die Macht zu übernehmen. Als die Dritte, Kommunistische Internationale diese Politik verteidigte und keine einzige Sektion dagegen protestierte, zog Trotzki daraus den Schluss, dass sie für die Revolution tot sei und nicht reformiert werden könne.

Die SAP unterzeichnete gemeinsam mit der Internationalen Linken Opposition und zwei holländischen Parteien einen Aufruf zum Aufbau der Vierten Internationale. In dieser „Erklärung der Vier“ heißt es kategorisch, „dass die neue Internationale keinerlei Versöhnlertum gegenüber Reformismus und Zentrismus dulden kann. Die notwendige Einheit der Arbeiterbewegung kann nicht durch eine Verwischung der revolutionären und der reformistischen Auffassungen oder durch eine Anpassung an die stalinistische Politik erreicht werden, sondern nur, wenn die Politik der beiden bankrotten Internationalen überwunden wird.“

Willy Brandt, der sich diesen Namen im norwegischen Exil zugelegt hatte, stimmte dieser Erklärung zu – um den Aufbau der Vierten Internationale dann systematisch zu boykottieren und zu bekämpfen. Dabei stützte er sich sowohl auf schmutzige bürokratische Tricks wie auf heftige politische Denunziationen. Er sorgte für den Ausschluss der Trotzkisten aus dem Internationalen Jugendbüro und verfasste Artikel, die dem Trotzkismus „schlimmstes Sektierertum“ vorwarfen.

In einem Bericht an Trotzki und das Internationale Sekretariat der Linken Opposition schilderte Walter Held, wie Brandt auf einer Sitzung des Internationalen Jugendbüros am 18. August 1935 seinen Ausschluss bewirkte.

Walter Held, ein führender deutscher Trotzkist, war 1933 von Berlin nach Norwegen emigriert und arbeitete später als Trotzkis Sekretär. Auf einer Reise in die USA wurde er 1941 zusammen mit Frau und Kind von der stalinistischen Geheimpolizei GPU verhaftet und später ermordet.

Die Sitzung vom 18. August 1935 war auf Initiative Walter Helds einberufen worden. Die Arbeit des Jugendbüros ruhte seit dem 17. Juni. „An diesem Tag richtete ich zusammen mit Willy Brandt einen Brief an den SJV (Sozialistischer Jugendverband) Schwedens“, berichtet Held, „in dem wir diesen aufforderten, seinen Vertreter der Gruppe Mot Dag zurückzuziehen und einen anderen Vertreter zu bestimmen, da eine Zusammenarbeit mit Mot Dag aufgrund der opportunistischen Haltung dieser Gruppe zur norwegischen und internationalen Fragen unmöglich geworden war.“

Mot Dag (deutsch: „Dem Tag entgegen“) war eine Vereinigung norwegischer Intellektueller, die der Sozialdemokratie und dem Stalinismus nahe standen.

In der Vorbereitung der Sitzung hatte Willy Brandt die Initiative Walter Helds unterstützt, den Vertreter von Mot Dag auszuschließen. Doch auf der Sitzung verbündete sich Brandt mit dem Vertreter von Mot Dag, griff die IKL wütend und unsachlich an und verlangte, dass sich Held von Trotzkis Kritik am Jugendbüro distanziere. Als Held ablehnte, wurde er ausgeschlossen. Wenige Wochen später wurde das internationale Jugendbüro aufgelöst.

Politisch führte Brandt im theoretischen Organ der SAP Marxistische Tribüne eine intensive Kampagne gegen Trotzki und die Gründung der Vierten Internationale. Er veröffentlichte mehrere Artikel zum Thema „Trotzkismus oder revolutionäre Realpolitik“ und forderte: „Unser Verhältnis zu den Trotzkisten muss überprüft werden. Die Allianz mit ihnen im Viererpakt 1933 hat sich als falsch und schädlich herausgestellt.“

In einem anderen Artikel begründete Brandt seine Ablehnung der Vierten Internationale folgendermaßen: „Unserer Auffassung nach besteht der wesentliche Gegensatz – ein Gegensatz prinzipieller Natur – zwischen uns und den Trotzkisten in der Stellung zum Werdegang der proletarischen Partei und zum Verhältnis zwischen Partei und Klasse. Für die Trotzkisten steht die Aufgabe der Schaffung einer ideologisch exakt ausgerichteten Avantgarde über die Arbeiterklasse. Vor uns steht die Pflicht, an der Schaffung wahrhaft kommunistischer proletarischer Massenorganisationen mitzuwirken, auf dem Boden der westeuropäischen Arbeiterbewegung, aus dem praktischem Leben und der Tradition der arbeitenden Klasse unseres Landes heraus.“

Das lässt an Deutlichkeit nicht zu wünschen übrig.

Die Gegenüberstellung „einer ideologisch exakt ausgerichteten Avantgarde über die Arbeiterklasse“ und „wahrhaft kommunistischer proletarischer Massenorganisationen“ ist ein übler demagogischer Trick. Die historische Erfahrung, vor allem die der russischen Oktoberrevolution, hat bewiesen, dass der Aufbau einer „ideologisch exakt ausgerichteten Avantgarde“ – das heißt einer Partei, die auf marxistischen Grundsätzen und einem klar durchdachten sozialistischen Programm beruht – die Voraussetzung für den Aufbau einer „wahrhaft kommunistischen proletarischen Massenorganisationen“ ist. Lenins und Trotzkis Kampf gegen die Sozialrevolutionäre und den Menschewismus sicherte den Bolschewiki die Unterstützung der großen Mehrheit der Arbeiterklasse, als diese in Konflikt mit der Provisorischen Regierung geriet.

Brandt stellte hier eine Partei, die sich auf die Lehren der Geschichte, auf die internationale Entwicklung des Klassenkampfs, auf eine historisch materialistische Analyse stützt, einer Partei gegenüber, die sich an die vorherrschende bürgerliche Ideologie und das nationale Milieu anpasst.

Brandts Feindschaft gegen den Trotzkismus bereitete ihn auf seine spätere Rolle als führender Vertreter des deutschen Imperialismus vor.

Brandt im spanischen Bürgerkrieg

Doch bevor Brandt nach Deutschland zurückkehrte und Regierender Bürgermeister von Berlin, der Frontstadt des Kalten Krieges wurde, reiste er 1937 als Kriegsberichterstatter nach Spanien.

Die spanische Revolution war das letzte große Aufbäumen des europäischen Proletariats im Kampf gegen Faschismus und Krieg. Hatte in Deutschland die stalinistische Theorie des Sozialfaschismus die Arbeiterklasse gespalten und Hitler den Weg an die Macht geebnet, war es in Spanien die Politik der Volksfront, die die Arbeiterklasse in die Niederlage führte. Im Namen der Einheit gegen den Faschismus schloss sich die stalinistische Kommunistische Partei der bürgerlichen Regierung der Republik an, die die Arbeiterklasse weit mehr fürchtete als die faschistischen Truppen Francos.

Hinter den Fronten des Bürgerkriegs führte die stalinistische Geheimpolizei einen blutigen Feldzug gegen revolutionäre Arbeiter, Anarchisten, Anhänger der POUM, Trotzkisten und alle, die sich dieser Politik widersetzten. So sicherte sie Franco den Sieg.

Die spanische Arbeiterpartei der Marxistischen Einheit (POUM) stand mit Trotzki in Verbindung, war aber nicht bereit, einen konsequenten Kampf gegen die Volksfront-Politik zu führen. Auf dem Höhepunkt des revolutionären Aufschwungs im September 1936 trat sie in die Volksfront-Regierung in Barcelona ein und unterstützte das reaktionäre Bündnis der Stalinisten mit den bürgerlichen Parteien. Dieser Verrat hatte katastrophale Konsequenzen. Nur neun Monate später wurden die Führer der POUM von der stalinistischen Geheimpolizei GPU verhaftet und ermordet.

Willy Brandt war ein vehementer Anhänger der Volksfront. Er kam Anfang Februar 1937, sechs Wochen nach dem Ausschluss der POUM aus der Volksfrontregierung, in Barcelona an und arbeitete eng mit der POUM-Führung zusammen. Er verließ Spanien ein halbes Jahr später, unmittelbar bevor viele Führungsmitglieder der POUM verhaftet wurden.

Zurück in Oslo gab er vor der erweiterten Reichsleitung der SAP einen Bericht, in dem er die Kommunistische Partei Spaniens als „außerordentlich fortschrittliche“ Kraft darstellte. Der POUM warf er linksradikales Sektierertum vor. Sie habe mit ihren sozialistischen Forderungen das Bündnis mit den bürgerlichen Kräften geschwächt und zu einer „Zuspitzung der Klassenkampfsituation“ geführt. Brandts damalige Attacken auf die POUM-Führer lesen sich wie eine Rechtfertigung des stalinistischen Terrors.

Der österreichische Historiker Hans Schafranek berichtete Ende der achtziger Jahre über wiederholte Vorwürfe gegen Willy Brandt, er habe während seines Spanienbesuchs 1937 in Verbindung mit der GPU gestanden. Brandt hat derartige Beschuldigungen zurückgewiesen. Fakt ist aber, dass er während seines Spanienaufenthalts mit den von der GPU kontrollierten Behörden in Barcelona nie Schwierigkeiten hatte und zwei Jahre später den Stalin-Hitler-Pakt verteidigte.

Brandt in Berlin

Nach Kriegsende löste sich die SAP auf. Einige ihrer Funktionäre gingen über die KPD in die SED, die Staatspartei der DDR, während sich Willy Brandt und Otto Brenner, der spätere Vorsitzenden der IG Metall, der SPD anschlossen. Brandt stieg in der Berliner SPD schnell auf, wurde 1949 Bundestagsabgeordneter und 1957 Regierender Bürgermeister.

Adenauer und Brandt während des Mauerbaus in Berlin (Bundesarchiv, B 145 Bild-P046883 / CC-BY-SA)

Während des Aufstands der DDR-Arbeiter am 17. Juni 1953 verhinderte er, dass sich die Revolte auf Westdeutschland ausweitete. Als eine Delegation von streikenden Bauarbeitern aus der Stalinallee und von Stahlarbeitern aus Hennigsdorf nach West-Berlin zog und versuchte, im Rundfunksender RIAS einen Aufruf zum gemeinsamen Generalstreik in Ost- und Westdeutschland zu verbreiten, half Brandt, dies zu unterbinden.

Ein solcher Aufruf der DDR-Arbeiter an die Arbeiter der Bundesrepublik hatte große Brisanz. Denn es gab damals auch eine starke Streikbewegung in Westdeutschland. Die Gewerkschaft IG Druck und Papier hatte im Mai 1953 einen bundesweiten Streik gegen das geplante Betriebsverfassungsgesetz organisiert. Am 6. Juni wurde ein 6-wöchiger Streik von 14.000 Werftarbeiter in Bremen von der IG-Metall-Führung abgebrochen. Vorher hatten 21.000 Textilarbeiter wochenlang für höhere Löhne gestreikt.

Die DDR-Arbeiter erhofften sich aus dem Westen Unterstützung. Im Bahnhof Halle wandten sich streikende Chemiearbeiter an Interzonenreisende mit einem Transparent, auf dem stand: „Räumt Euren Mist in Bonn jetzt aus – in Pankow säubern wir das Haus!“

Brandt lehnte einen gemeinsamen Kampf der Arbeiter in Ost und West entschieden ab und nutzte seine Verbindung zu den Gewerkschaften, um den Widerstand unter Kontrolle zu halten. Ähnlich war es 1956, als sowjetische Panzer die revolutionäre Erhebung in Ungarn niederwalzten. Wieder riefen DDR-Arbeiter zum gemeinsamen Kampf auf, und wieder eilte Brandt im Lautsprecherwagen der Polizei an die Zonengrenze, um die Situation unter Kontrolle zu halten und die bürgerliche Herrschaft zu stabilisieren.

Als im August 1961 die Berliner Mauer gebaut wurde, war Brandt in der Frontstadt des Kalten Krieges fest etabliert. Dass es Vorabsprachen mit dem DDR-Regime gegeben habe, hat er zwar immer bestritten, doch er war zur Stelle, um die aufgebrachte Menge vor der Russischen Botschaft zu beruhigen und für Ruhe und Ordnung zu sorgen.

Brandt stand auch in der Bundespolitik auf dem rechten Flügel der SPD. Er trat für die Wiederbewaffnung ein und unterstützte das Godesberger Programm, mit dem die SPD ihre letzten Beziehungen zur Arbeiterklasse kappte. Dem Godesberger Parteitag im Herbst 1959 war eine Parteisäuberung vorausgegangen, in der jeder, der auch nur ansatzweise sozialistische Ideen vertrat, ausgeschlossen wurde.

Victor Agartz, der ehemalige Leiter des Wirtschaftswissenschaftlichen Instituts des DGB, der auf dem Gründungsparteitag der SPD 1946 über „demokratischen Sozialismus“ referiert hatte, wurde ebenso ausgeschlossen, wie der Chefredakteur des Vorwärts, der Sozialisierungsforderungen aus den Betrieben unterstützt hatte.

Im März 1959 wurden alle Teilnehmer einer „gesamtdeutschen Arbeiterkonferenz“, die in der DDR getagt und Perspektiven eines gemeinsamen Kampfes gegen den wiederaufkommenden deutschen Militarismus beschlossen hatte, ausgeschlossen. Im Sommer des selben Jahres begannen die Auseinandersetzungen mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenverband (SDS), die zum Ausschluss der SPD-Studentenorganisation führten. Gestützt auf diese „Säuberung“ der Partei übernahm Willy Brandt 1964 den Vorsitz der SPD.

Außenminister der Großen und Kanzler der Kleinen Koalition

Bereits im Jahr zuvor hatte sich der Klassenkampf in Deutschland mit einem Metallerstreik in Baden-Württemberg deutlich verschärft. Die Streikenden forderten nicht nur höhere Löhne, sondern verabschiedeten auch Resolutionen gegen die geplanten Notstandsgesetze. Die Unternehmer reagierten, indem sie zum ersten Mal seit 1928 Hunderttausende Arbeiter aussperrten. Im Ruhrgebiet mobilisierten die Bergarbeiter gleichzeitig gegen das Zechensterben.

Bundeskanzler Brandt empfängt den DGB-Vorstand (Bundesarchiv, B 145 Bild-F031703-0001 / Schaack, Lothar / CC-BY-SA)

Die christlich-liberale Koalition Ludwig Erhards (CDU) erwies sich als unfähig, der Arbeiterklasse ein Sparprogramm zu diktieren. Sie wurde 1966 durch die Große Koalition abgelöst. Zum ersten Mal seit Ende der 1920er Jahre sah sich die Bourgeoisie gezwungen, die Sozialdemokratie in die Regierung zu holen, um die Arbeiterklasse unter Kontrolle zu halten.

Unter Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU), einem früheren NSDAP-Mitglied, übernahm Willy Brandt das Amt des Außenministers und Vizekanzlers. Die wichtigste Aufgabe der Großen Koalition bestand in der Verabschiedung der Notstandsgesetze. Dagegen entwickelte sich eine breite außerparlamentarische Opposition, die 1967/68 in die Studentenrevolte mündete. 1969 folgten die Septemberstreiks, eine Welle spontaner Arbeitsniederlegungen in der Stahl- und Metallindustrie, die der Kontrolle der Gewerkschaftsbürokratie zeitweise entglitten.

Die politische Elite reagierte, indem sie die Große durch die Kleine Koalition ablöste und Brandt an die Spitze der Regierung stellte. Die FDP, bisher am rechten Rand des politischen Spektrums angesiedelt, wechselte die Seiten und verschaffte ihm die nötige Mehrheit. Brandt brachte die Lage durch umfangreiche soziale Zugeständnisse unter Kontrolle. In der Privatwirtschaft und im öffentlichen Dienst kam es zu hohen Tarifabschlüssen. Die Jugend wurde durch ein Reform- und Bildungsprogramm „von der Straße geholt“.

Der Anteil der Abiturienten stieg von 5 Prozent aller Jugendlichen in den 1960er auf 30 Prozent in den 1970er Jahren. Die Zahl der Arbeitsplätze für Mittel- und Hochschulabsolventen an Universitäten, Forschungsinstituten, Krankenhäusern, Schulen, Sozialeinrichtungen und in der Verwaltung wurde stark vermehrt. Der Einfluss der SPD erreichte in diesen Jahren seinen Zenit: Bei der Bundestagswahl 1972 erhielt sie 46 Prozent der abgegebenen Stimmen, die Mitgliederzahl überschritt die Million.

Gleichzeitig grenzte Brandt alle aus, die nicht bereit waren, sich in die bürgerliche Ordnung einzufügen. Der Radikalenerlass von 1972 bedeutete für Tausende Berufsverbot, an deren Eintreten für die „freiheitliche demokratische Grundordnung“ Zweifel bestanden. Er übte einen ungeheuren Druck aus, sich anzupassen und jeder antikapitalistischen Zielsetzung abzuschwören.

Auch in der Außenpolitik leistete Brandt der herrschenden Klasse einen wichtigen Dienst. Er verbesserte die politischen und wirtschaftlichen Beziehungen zu Osteuropa und beendete die Blockadehaltung gegenüber der DDR. Seine Ostpolitik, die anfangs in konservativen Kreisen auf heftigen Widerstand stieß, verschaffte der deutschen Wirtschaft Zugang zu neuen Absatzmärkten in Osteuropa und der Sowjetunion, die sie dringend benötigte, um die Auswirkungen der Rezession zu überwinden. Langfristig untergrub die Ostpolitik die Stabilität der osteuropäischen Regime.

Als sich im Winter 1973/74 die Klassenauseinandersetzung in ganz Europa verschärfte und sich in Deutschland 11 Millionen Arbeiter im Lohnkampf befanden, verlangte die herrschende Klasse schärferes Durchgreifen und drängte auf einen Kanzlerwechsel. Die Enttarnung des DDR-Spions Günter Guillaume, der seit Jahren als persönlicher Referent von Willy Brandt arbeitete, lieferte den erforderlichen Vorwand. Brandt trat als Kanzler zurück, blieb aber SPD-Vorsitzender.

Die Regierungsgeschäfte übernahm Helmut Schmidt, der gestützt auf die Gewerkschaften die Offensive der Arbeiter zurückdrängte. Brandt leitet den Parteiapparat und sicherte die Regierungspolitik erst von Schmidt, dann von Helmut Kohl (CDU) politisch ab.

Er beendete seine politische Karriere 1989, als er gemeinsam mit Kanzler Kohl die kapitalistische Restauration in Osteuropa und später der Sowjetunion begrüßte und angesichts der deutschen Wiedervereinigung am Brandenburger Tor die Nationalhymne sang.

Aus dem ehemaligen SAP-Mitglied, das den Trotzkisten Sektierertum vorwarf und den Aufbau „wahrhaft kommunistischer Massenparteien“ forderte, war ein deutschnationaler Interessensvertreter des Imperialismus geworden.

Auch in seinem persönlichen Leben vollzog Willy Brandt in seinen letzten Jahren eine scharfe Rechtsentwicklung. 1983 heiratete er die Publizistin Brigitte Seebacher, die als Mitglied des Veldensteiner Kreisesextrem reaktionäre Standpunkte einnimmt und heute mit dem ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank, Hilmar Kopper, verheiratet ist.

„Loyalität gegen rechts, Kampf gegen links“, so hatte Walter Held als Vertreter der Trotzkisten im Internationalen Jugendbüro 1935 die Position von Willy Brandt bezeichnet und erklärt: „Es ist klar, dass es gegen solche Auffassungen von unserer Seite nichts als scharfen Kampf gegeben kann.“

Das Leben von Willy Brandt zeigt, wie recht er hatte.

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