Die gesellschaftlich kriminellen Auswirkungen der Austerität in Europa

Es sind 125 Jahre vergangen, seitdem Delegierte am 14. Juli 1889 in Paris eine Versammlung abhielten, die später zur Zweiten Internationale wurde. Dort haben sie, durch das Beispiel der amerikanischen Arbeiter inspiriert, den Ersten Mai zum Tag der internationalen Arbeitersolidarität erklärt.

Die Versammlung selbst fand statt, um die hundertste Wiederkehr der Erstürmung der Bastille in derselben Stadt zu begehen – mit welcher der Startschuss zur Französischen Revolution abgefeuert wurde. Dies war vollkommen angemessen, denn damit wurde deutlich gemacht, dass Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit nur von der Arbeiterklasse in ihrem Kampf für den Sozialismus erreicht werden können.

Wir wissen, dass die Zweite Internationale dieses Ziel später verraten sollte, als sich politischer Opportunismus mit seinem Gerede durchsetzte vom „Krieg, der alle Kriege beenden wird“ und vom „langanhaltenden Marsch durch Reformen“, die unvermeidlich den Kapitalismus vervollkommnen würden.

Solche Behauptungen erreichten ihren Höhepunkt in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts, als die Europäische Union geschaffen wurde, um diese Perspektive zu verkörpern – ein vereinigtes, blühendes soziales Europa, in welchem die Rechte der Arbeiter von niemand anderem als der europäischen Bourgeoisie selbst getragen und garantiert würden.

Wie grotesk das jetzt klingt, wo ein Land nach dem anderen zum Opfer einer nicht endenden Kette brutaler Austeritätsmaßnahmen wird, die die „Troika“ aus EU, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfond diktiert, und die von Regierungen verhängt werden, welche kein demokratisches Mandat besitzen.

Wir, die Socialist Equality Party und die Partei für Soziale Gleichheit, haben in unserem gemeinsamen Wahlprogramm zu den Ende des Monats stattfindenden Wahlen zum Europaparlament erklärt, dass die Bourgeoisie die Finanzkrise von 2008 dazu nutzte, die sozialen Errungenschaften der Arbeiterklasse zu vernichten, um die Wettbewerbsfähigkeit des europäischen Kapitals gegen seine osteuropäischen und asiatischen Konkurrenten zu steigern.

Folglich ist heute in Europa eine soziale Situation entstanden, die jeder Sansculotte wiedererkennen würde. Wenn etwas anders ist, dann lediglich dass jetzt eine noch parasitärere und dekadentere Finanzaristokratie an der Spitze eines Kontinents thront, in welchem Millionen Menschen Armut, Arbeitslosigkeit, Unterbeschäftigung und der Zerschlagung ihrer Rechte ausgeliefert sind.

Offiziell leben 120 Millionen Europäer in Armut oder sind von ihr bedroht. 26 Millionen Menschen in der EU sind arbeitslos, ohne dass die Millionen miterfasst wurden, die Scheinarbeits- oder Null-Stunden-Verträge haben. Doch diese Statistiken vermitteln nicht das ungeheuerliche Verbrechen, das die europäische Bourgeoisie begangen hat und können dies auch nicht.

Vor über dreißig Jahren erklärte Margaret Thatcher, dass es so etwas wie eine Gesellschaft nicht gebe. Heute ist ihr Diktum der modus operandi der EU, die ganze Länder anweist, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Selbstmord zu begehen.

Am deutlichsten tritt das Ergebnis in Griechenland zutage, wo wieder Bedingungen herrschen, wie es sie seit der Nazi-Okkupation nicht mehr gegeben hat: Massenarbeitslosigkeit, die bei Jugendlichen bis 60 Prozent erreicht, während gleichzeitig das Durchschnittseinkommen einer griechischen Familie zwischen 2010 und 2013 um fast 40 Prozent gesunken ist.

Die Zahl derer ohne Krankenversicherung hat sich seit 2008 vervierfacht und beträgt mindestens 2,3 Millionen Menschen d .h. einer von fünf Griechen; und die Zahl steigt täglich um 2.300. Es gibt Berichte von Frauen mit Brustkrebs, die offene Wunden tragen, weil sie keinen Zugang zu Medikamenten erhalten. Kürzlich weigerte sich ein Krankenhaus, einer Mutter ihr Neugeborenes auszuhändigen, bis sie ihren Versicherungsbeitrag beglichen hatte. Aber die Sadisten von der Troika verlangen immer mehr.

Wen wundert es da noch, dass Frau Merkel, als sie kürzlich Athen besuchte, um mit dem Erfolg der EU zu prahlen, Griechenland zurück auf die Geldmärkte gebracht zu haben, von 5.000 schwerbewaffneten Bereitschaftspolizisten beschützt werden musste?

Die World Socialist Web Site warnte, dass Griechenland als Laboratorium für ganz Europa dient. Und so ist es. In Spanien erlitt die Arbeiterklasse einen solch massiven Absturz ihres Lebensstandards, wie dies seit dem Sieg der faschistischen Kräfte unter Franco im Jahr 1939 nicht mehr der Fall war. Allein 2012 fielen die Löhne um 8,5 Prozent und dreizehn Millionen Menschen leben in Armut– eine Zahl, von der Oxfam erwartet, dass sie in den nächsten sieben Jahren auf 18 Millionen anwachsen werde, knapp 40 Prozent der Bevölkerung.

In Irland, der Musterknabe für die Kürzungspolitik der EU, schoss die Einkommensungleichheit zwischen 2009 und 2010 in die Höhe: die zwanzig oberen Prozent verdienen mehr als fünf Mal so viel wie die unteren zwanzig Prozent.

In Portugal und Italien ist die Situation ähnlich. Aber das ist keineswegs ausschließlich das Schicksal der sogenannten Länder an der „Peripherie“. Die Löhne sind in jedem Land gesunken. Gesundheitsvorsorge, Bildung und Sozialleistungen werden in jedem Land gekürzt. Und es verschlimmert sich.

Die Entscheidung der sozialdemokratischen Regierung von Präsident François Hollande, Manual Valls zum neuen Premierminister zu ernennen, markiert einen scharfen Rechtsschwenk, nicht allein für Frankreich, sondern für ganz Europa. Das Ziel des Mannes, der der „französischer Blair“ genannt wird, besteht darin, sofort Haushaltskürzungen von 50 Milliarden Euro durchzusetzen und in den drei kommenden Jahren weitreichende Arbeitsrechtsreformen einzuführen.

Der Unterbietungswettlauf, der im Gange ist, wird von Forderungen unterstrichen, dass Frankreich seine öffentliche Ausgaben von gegenwärtig 56 Prozent des BIP auf 45 Prozent senken solle, um mit Deutschland gleichzuziehen – dies stellt eine Reduzierung von 200 Milliarden Euro jährlich dar. Das erklärte Ziel der britischen Regierung ist indessen eine Haushaltskürzung von 48 (im Jahr 2010) auf 38 Prozent.

Auf diese Weise verankert die Koalition der Konservativen und Liberaldemokraten die Austerität im Gesetz, um sicherzustellen, dass auch zukünftige Regierungen sich an strikte Sparvorgaben halten.

Die Reallöhne in Großbritannien sind um über 1.600 Pfund (fast 2000 Euro) jährlich gesunken, eine Größenordnung, wie sonst kaum in Europa, sodass zum ersten Mal überhaupt mehr Haushalte von Erwerbstätigen in Armut geraten sind als Haushalte ohne einen Erwerbstätigen. Infolgedessen aber auch aufgrund der Leistungskürzungen breiteten sich explosionsartig Essensausgabestellen aus – etwas, das vor wenigen Jahren noch unbekannt war. Seit dem 2012 hat sich der Bedarf verdreifacht, sodass im vergangenen Jahr fast eine Million Menschen auf Lebensmitteltafeln angewiesen waren.

Und immer noch ist kein Ende abzusehen, denn als Maßstab gelten nicht einmal die osteuropäischen Länder, die vor zehn Jahren in die EU aufgenommen wurden, wie Polen und Ungarn – wo Millionen Menschen gezwungen werden, das Land zu verlassen, um Arbeit zu finden –, sondern Bulgarien, Rumänien und jetzt die Ukraine, wo der monatliche Mindestlohn bloß 91 Euro beträgt.

Die herrschende Elite täuscht nicht einmal mehr vor, dass es sich um vorübergehende Anpassungen handeln würde. Eine „neue Normalität“ wird eingeführt, gemäß welcher der Kontinent kaum mehr als ein gigantisches Reservoir von Billigarbeit für die transnationalen Konzerne und eine Art Gefängnis für seine Einwohner darstellt, die unter elenden sozialen Bedingungen hausen sollen.

Alle diese Angriffe wurden in jedem einzelnen Falle von sozialdemokratischen Regierungen begonnen und durchgesetzt. Erleichtert haben dies die Gewerkschaften, die lediglich zum Schein Proteste organisieren, um damit ihre Komplizenschaft bei diesen Verbrechen zu verwischen. Sechsunddreißig Generalstreiks in Griechenland seit 2010, 1.300 Streiks in Spanien allein im Jahr 2012, und nicht ein einziger darunter, bei dem überhaupt das Verlangen vorgetragen wurde, die Regierung zu Fall zu bringen, gegen welche man doch zu protestieren vorgibt! Was die europäischen Gewerkschaftsverbände angeht, so haben sie nicht einen Finger gekrümmt, um sich mit den Arbeitern in Griechenland oder andernorts zu solidarisieren.

Die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften erhalten Hilfestellung von pseudo-linken Organisationen wie Syriza, die mit dem erbärmlichen Versprechen daherkommt, fünf Prozent der griechischen Schulden nicht anzuerkennen, doch auch dies nur, solange sie nicht in die Regierung gekommen ist. Diese Organisationen spielen sich als links auf. Sie jammern und sie winseln über dieses und jenes, aber sie haben nicht die Absicht, sich mit der Bourgeoisie anzulegen, denn das könnte ihren privilegierten Lebensstil gefährden. Dies erklärt, warum sie zum überwiegenden Teil die hysterischsten Verteidiger der EU sind.

Eben dadurch ist die gefährliche Situation entstanden, in welcher zu erwarten ist, dass Rechtsextreme bei den Europawahlen die Hauptprofiteure sein werden.

Es ist aber dessen ungeachtet keineswegs unvermeidlich, dass Europa das Elend und die Schrecken der 1930er Jahre wiedererlebt. Diese Kundgebung selbst belegt dies. Vor allen Dingen ist erforderlich, dass die Orientierung der internationalen Arbeiterklasse von den Realitäten der neuen Weltsituation bestimmt wird.

Trotzki erklärte im Jahre 1939: „Die historische Entwicklung ist an einer ihrer entscheidenden Etappen angelangt, wo einzig die direkte Intervention der Massen fähig ist, die reaktionären Hindernisse wegzufegen und die Grundlagen einer neuen Ordnung zu errichten. Die Vernichtung des Privatbesitzes an den Produktionsmitteln ist die erste Bedingung einer Ära der Planwirtschaft, das heißt der Intervention der Vernunft auf dem Gebiete der menschlichen Beziehungen, zuerst im nationalen Maßstab, und in der Folge im Weltmaßstab. Hat die soziale Revolution einmal begonnen, wird sie sich mit einer unendlich größeren Kraft, viel größer als die Kraft, mit der sich der Faschismus ausbreitete, von einem Land zum anderen ausbreiten. Durch das Beispiel und mit Hilfe der fortgeschrittenen Länder werden die zurückgebliebenen Länder ebenfalls in den großen Strom des Sozialismus einbezogen. Die völlig verfaulten Zollschranken werden fallen. Die Gegensätze, welche Europa und die ganze Welt teilen, werden ihre natürliche und friedliche Lösung im Rahmen der vereinigten sozialistischen Staaten finden, in Europa und in den anderen Teilen der Erde. Die befreite Menschheit wird ihrem höchsten Gipfel zustreben.“ [Leo Trotzki: Marxismus in unserer Zeit; nach http://www.marxists.org/]

Das ist unsere Perspektive, und sie ist die Grundlage, von der aus wir uns die revolutionären Traditionen des Maifeiertages wieder zu eigen machen. Sie ist der Grund, warum Ihr in diese Bewegung eintreten und sie als Führung der internationalen Arbeiterklasse aufbauen solltet.

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