„Nur die Lüge braucht die Stütze der Staatsgewalt, die Wahrheit steht von alleine aufrecht“, erklärte vor mehr als 200 Benjamin Franklin, einer der Verfasser der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung. Auch im Fall des am 7. Januar 2005 im Dessauer Polizeigewahrsam verbrannten Asylbewerbers Oury Jalloh unternimmt die deutsche Justiz jede Anstrengung, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt.
Am vergangenen Donnerstag hat der Bundesgerichtshof das Urteil des Magdeburger Landgerichts gegen den Dienstgruppenleiter der Dessauer Polizeibehörde Andreas S. bestätigt. Ein Revisionsverfahren wird es nicht geben, und der Angeklagte kommt wegen fahrlässiger Tötung mit einer Geldstrafe in Höhe von 10.800 Euro davon. Weit schwerer wiegt aber, dass der 4. Strafsenat des BGH mit der Zurückweisung der Einsprüche gegen das Urteil des Magdeburger Landgerichts jede weitere justizielle Aufarbeitung und Aufklärung der Umstände des Todes von Oury Jalloh verhindert.
Beide Prozessparteien hatten die Revision beantragt. Die Verteidiger des Angeklagten wollten damit einen Freispruch durchsetzen, da angeblich alleine die mangelnde personelle und technische Ausstattung des Polizeireviers für den Tod des gebürtigen Guineers Oury Jalloh verantwortlich sei. Die Anwälte, die im damaligen Verfahren als Nebenkläger auftraten und die Familie sowie die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh vertreten, sahen hingegen gravierende Rechtsfehler bei der Urteilsfindung.
Zum einen seien neuere Erkenntnisse, die die vom Gericht behauptete Selbstverbrennung des Opfers als unglaubwürdig belegen und eine Brandlegung durch Dritte nahelegen, in keiner Weise gewürdigt worden. Zum anderen sei die Inhaftierung Oury Jallohs völlig rechtswidrig geschehen und eine Verurteilung wegen Freiheitsberaubung mit Todesfolge angezeigt. Der Dienstgruppenleiter hatte bei der Inhaftierung Oury Jallohs nicht, wie zwingend im Polizeigesetz vorgeschrieben, einen Richter hinzugezogen. Das Magdeburger Landgericht sah hierin aber nur einen „unvermeidbaren Irrtum“ des Angeklagten, da ihm dieses Gesetz nicht bekannt sei.
Diese Urteilsbegründung war in der Tat abenteuerlich. Sie öffnete polizeilicher Willkür Tür und Tor, da selbst ein Dienstgruppenleiter im Rang eines Hauptkommissars offensichtlich nicht elementarste Gesetzesvorschriften seiner Arbeit kennen muss.
Die Generalbundesanwaltschaft hatte daher in der Revisionsbegründung vor dem BGH zunächst die Argumentation der Nebenkläger anerkannt. Der zuständige Bundesanwalt hatte dem angeklagten Polizisten vorgeworfen, er habe „das für freiheitsentziehende Maßnahmen gesetzlich vorgeschriebene Verfahren umgangen und sich kategorische Entscheidungsbefugnisse angemaßt, die ausschließlich einem Richter vorbehalten sind“. Ein solches Handeln stelle „unter verfassungsrechtlichem Blickwinkel einen so fundamentalen Verstoß gegen rechtsstaatliche Grundsätze dar“, dass eine rechtswidrige Freiheitsberaubung auch dann vorliege, wenn die sachlichen Voraussetzungen für eine Anordnung vorlägen.
Bei der Verhandlung vor dem Bundesgerichtshof wiegelte Bundesanwalt Johann Schmid aber ab. Die Missachtung des Richtervorbehalts nannte er nun nur noch „eine Riesenschlamperei“. Es sei zwar davon auszugehen, dass der Angeklagte die Gesetzeslage durchaus gekannt und „nur aus Bequemlichkeit missachtet“ habe, aber das Urteil des Magdeburger Landgerichts habe nicht auf diesen Rechtsfehler beruht, da auch ein Richter nicht unbedingt die sofortige Freilassung Oury Jallohs angeordnet hätte.
Dieser plötzlichen Volte in der Argumentation hat sich nun der 4. Strafsenat des BGH angeschlossen. Die Senatsvorsitzende Beate Sost-Scheible lobte ausdrücklich die Beweisführung des Magdeburger Landgerichts und erklärte, dass es keine Rechtsfehler gegeben habe, weder bei der Feststellung, dass Oury Jalloh den Brand selbst gelegt habe, noch bei der Verurteilung wegen fahrlässiger Tötung. Die Unterlassung, einen Richter bei der Inhaftierung hinzuziehen sei „für den Tod von Oury Jalloh nicht ursächlich geworden“, weil „davon auszugehen ist, dass der zuständige Richter im Falle seiner Einschaltung wegen des selbstgefährdenden Verhaltens des Oury Jalloh und seiner hochgradigen Alkoholisierung den Gewahrsam zum Schutz vor Selbstverletzung für zulässig erklärt und dessen Fortdauer angeordnet hätte“.
Die Anwältin von Oury Jallohs Bruder, Gabriele Heinecke, kritisierte das Urteil des BGH scharf. „Wenn ein Richter Jalloh gesehen hätte, hätte er sicherlich keinen Anlass gesehen, den Gewahrsam fortzusetzen, und die Einweisung in ein Krankenhaus veranlasst.“ Oury Jalloh war nicht nur stark alkoholisiert, sondern wies auch schwere Kopfverletzungen auf, wie eine zweite, von der Familie des Opfers angestrengte Obduktion ergab. Unter anderem wurde ein Nasenbeinbruch und ein geplatztes Trommelfell festgestellt, Verletzungen, die er wahrscheinlich infolge polizeilicher Misshandlungen bei seiner Inhaftierung erlitten hatte.
Außerdem gab es auch gar keinen Grund, Jalloh festzuhalten. Er wurde keiner Straftat beschuldigt, die Dessauer Polizei hatte ihn nur aufgegriffen, weil zwei Frauen sich von ihm bei ihrer Arbeit gestört fühlten. Er wurde dann zur Polizeiwache gebracht, um seine Identität festzustellen. Doch nachdem dies geschehen war, hätte er zwingend freigelassen werden müssen.
Die Urteilsbestätigung durch den Bundesgerichtshof ist daher sehr aufschlussreich. Im Klartext bedeutet sie, dass die Polizei faktisch jederzeit jeden Menschen in Gewahrsam nehmen kann, da der gesetzlich vorgeschriebene Richtervorbehalt nicht mehr als eine lässliche Verwaltungsvorschrift ist. Das ist ein typisches Merkmal eines Polizeistaats.
In Dessau wurde diese rechtswidrige Praxis zudem bereits jahrelang durchgeführt. Schon bei dem Tod des Obdachlosen Mario Bichtermann, der drei Jahre vor Oury Jalloh in der selben Zelle unter bis heute ungeklärten Umständen ums Leben kam, hatte Dienstgruppenleiter Andreas S. bei der Inhaftierung keinen Richter hinzugezogen.
Die Bestätigung des Urteils gegen den Dienstgruppenleiter durch den BGH dient aber auch dazu, die weitere Aufklärung des tatsächlichen Sachverhalts des Tods von Oury Jallohs zu verhindern. Ein neuerliches Verfahren hätte zwingend die Beweise und Indizien würdigen müssen, die die Brandlegung durch Dritte und damit eine absichtliche Tötung nahelegen.
In allen Gerichtsverfahren wurde bislang nur die bizarre These vertreten, der an beiden Händen fixierte Asylbewerber habe trotz seines stark alkoholisierten Zustandes und seiner schweren Schädelverletzungen ein Feuerzeug aus seiner Hosentasche gezogen, das er eigentlich nicht haben durfte, da er zuvor gründlich durchsucht worden war, um damit seine feuerfeste Matratze anzuzünden. Dazu soll er die Hülle der Matratze zuvor so stark beschädigt haben, dass das brennbare Innenfutter für ihn erreichbar war.
Der Rauchmelder, der im Dienstzimmer des Polizeireviers anschlug, wurde zweimal ausgestellt. Angeblich, weil er immer Fehlalarme ausgelöst hatte, dabei war er erst wenige Monate zuvor repariert worden. Die Gegensprechanlage, durch die die Schreie des um sein Leben kämpfenden Jallohs zu hören waren, hatte der Dienstgruppenleiter leiser gestellt, um nicht gestört zu werden. Viel zu spät gingen die Beamten nach unten in den Zellentrakt.
Ein erstes Brandgutachten hatte einen derartigen Hergang nicht gänzlich ausgeschlossen. Es hatte jedoch haarsträubende Fehler aufgewiesen und konnte den Zustand der verkohlten Leiche nicht erklären. Ein zweites, unabhängiges und ergebnisoffenes Gutachten, das von der Familie und der Initiative im Gedenken an Oury Jalloh in Auftrag gegeben wurde, kam zu gänzlich anderen Schlüssen. Danach hatte das Brandbild mit der enormen Hitzeentwicklung nur durch die Nutzung von Brandbeschleunigern entstehen können. Darauf deutet auch die hohe Blausäurekonzentration hin, die man in Jallohs Leber gefunden hat.
Das Feuerzeug, mit dem sich Jalloh angeblich selbst verbrannt haben soll, tauchte in einer ersten Asservatenliste vom 10. Januar 2005 nicht auf. Einen Tag später wurde es aber praktisch aus dem Hut gezaubert. Allerdings lassen sich weder DNA-Spuren des Opfers daran finden, noch Faserrückstände der Matratze oder der Kleidung, obwohl es direkt unter dem völlig verbrannten Leichnam gelegen haben soll. Wichtige Beweismittel wie Einsatzpläne, Gewahrsamsprotokolle und Videoaufnahmen sind von der Polizei vernichtet worden. Der Nachweis von Brandbeschleunigern wurde durch schlampiges Vorgehen bei der Aufbewahrung sichergestellter Asservate verunmöglicht.
Vor Gericht taten sich die Polizeibeamten mit offensichtlich abgesprochenen Aussagen hervor oder konnten sich an nichts mehr erinnern. Eine Polizistin, die in ihrer Aussage ihre Kollegen zunächst schwer belastet hatte, widerrief diese plötzlich vor Gericht.
Ein erstes Verfahren hatte im Dezember 2008 mit dem Freispruch der wegen fahrlässiger Tötung angeklagten Polizisten geendet. Richter Manfred Steinhoff, der die eisige Mauer des Schweigens nicht durchbrechen konnte und wollte, schloss das Verfahren mit den Worten: „Ich habe keinen Bock mehr, zu diesem Scheiß noch irgendwas zu sagen.“
Die Nebenklage beantragte vor dem BGH Revision, der im Januar 2010, fünf Jahre nach Jallohs Tod, stattgegeben wurde. Es kam zu der Neuverhandlung vor dem Magdeburger Landgericht, das den Dienstgruppenleiter Andreas S. wegen fahrlässiger Tötung zu einer Geldstrafe verurteilte. In 67 Verhandlungstagen wurde die These der Selbsttötung vom Gericht nicht ein Mal angezweifelt, neuen Zeugenaussagen, dass die Polizisten Hans-Ulrich M. und Udo S. gegen 11.30 Uhr – eine halbe Stunde vor dem Brandausbruch – noch einmal bei Oury Jalloh in der Zelle gewesen seien, wurde nicht weiter nachgegangen, Beweisanträge der Nebenklage wurden immer wieder abgebügelt. Gleichzeitig wurden Mitglieder der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh von der Dessauer Polizei immer wieder drangsaliert, eine Demonstration schließlich von der Polizei gewaltsam aufgelöst.
Die Initiative hat inzwischen gestützt auf das neue Brandgutachten eine Anzeige wegen Mordes eingereicht. Die Staatsanwaltschaft in Dessau hat im Frühjahr deswegen neue Ermittlungen aufgenommen, doch deren Gutachter wollen bislang keine Hinweise auf Brandbeschleuniger gefunden haben. Oberstaatsanwalt Christian Preissner erklärte zwar, dass er die Akten noch nicht zugemacht habe, aber mit dem Urteil des BGHs wird dies immer wahrscheinlicher.
Mouctar Bah von der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh bemerkte zu der juristischen Aufarbeitung: „Das ist eine große Linie. Die arbeiten alle zusammen.“ Tatsächlich zeigt der Fall Oury Jalloh weit mehr als eine „Riesenschlamperei“ der zuständigen Polizei. Hier wird durch die Justiz und die Polizei ein Verbrechen gegen einen Asylbewerber vertuscht, das die Sicherheitsbehörden möglicherweise selbst begangen haben. Ganz ähnlich wie im Fall des NSU, der offenbar jahrelang vom Verfassungsschutz unterstützt und gedeckt wurde, werden Beweise unter den Teppich gekehrt, damit staatliche Verbrechen unentdeckt bleiben. An der offiziellen Version, der Staatsapparat habe mit den Morden nichts zu tun, darf nicht gerüttelt werden