Schlichterspruch im Kita-Streik

Verdi-Chef Bsirske attackiert Delegierte auf Streikkonferenz

Auf einer bundesweiten Streikdelegiertenversammlung in Frankfurt am Main kam es gestern zu einer heftigen Auseinandersetzung mit der Verdi-Führung. Rund 500 Delegierte aus den regionalen Streikleitungen lehnten das Schlichtungsergebnis einhellig ab. Kein einziger Delegierter sprach für die Annahme.

Der Schlichterspruch wurde als „Frechheit“, als „Provokation“, als „Schlag ins Gesicht“, als „völlig inakzeptabel“ bezeichnet. Ein Delegierter nach dem andern stand auf, um über die Wut und Empörung „an der Basis“ zu berichten.

Verdi-Chef Bsirske reagierte seinerseits wütend und attackierte die Streikdelegierten. Erst versuchte er das Ergebnis schön zu reden und behauptete, eine durchschnittliche Einkommensverbesserung von 3,3 Prozent bei einer Laufzeit von fünf Jahren entspreche einem Drittel der ursprünglichen Forderung. Dann gab er zu, dass das Schlichtungsergebnis im Bereich der Sozialarbeiter praktisch einer Nullrunde gleichkomme und rechtfertigte das mit der Bemerkung, die Sozialarbeiter seien „schon 2009 aufgewertet worden“.

Dann drohte er, wer den Schlichterspruch ablehne, müsse sich über die Konsequenzen im Klaren sein. Die Kommunalen Arbeitgeber würden nur darauf warten. Der Streik füge den Arbeitgebern keinen ökonomischen Schaden zu. Im Gegenteil, sagte Bsirske und übernahm vollständig die Argumente der Arbeitgeber und der Regierung. „Dort, wo den Eltern die Beiträge nicht zurückbezahlt wurden, haben die Arbeitgeber mit dem Streik große Gewinne gemacht. Das waren bisher 45 Millionen Euro.“ Die Auseinandersetzung könne nur schwieriger werden, behauptete Bsirske.

Wer jetzt ablehne, werde später mit noch weniger dastehen, drohte er und warnte vor einer unkontrollierten Verschärfung des Klassenkampfs. Am Ende würden die Erzieherinnen „verbrannte Erde“ zurücklassen. Wer weiter kämpfen wolle, dürfe nicht davor zurückschrecken, „zerrüttete Verhältnisse“ in Kauf zu nehmen: „ein zerrüttetes Verhältnis zu den Eltern, zu den Arbeitgebern und so weiter“.

Als der Verdi-Chef die rhetorische Frage aufwarf: „Sollen wir den Streik wirklich fortsetzen?“ schallte ihm ein lautstarkes „Ja!“ der Delegierten entgegen.

Der Schlichterspruch, der am Dienstag bekannt gegen worden war, hat den Charakter eines Knebelvertrags. Nach vier Wochen Streik sollen die 240.000 Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst mit einer minimalen Lohnerhöhung von durchschnittlich 3,3 Prozent bei einer Laufzeit von fünf Jahren (bis zum 30. Juni 2020) abgespeist werden. Für die unteren Lohngruppen bedeutet das gerade mal fünfzig Euro mehr und die meisten Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter gehen ganz leer aus. Fünf Jahre Laufzeit bedeutet fünf Jahre Friedenspflicht und Streikverbot.

Das Ergebnis wird nicht nur für den öffentlichen Dienst gelten, auch die Löhne und Gehälter von über einer halben Million weiterer Angestellter in freien und kirchlichen Trägern werden sich danach richten.

„Dafür haben wir nicht gestreikt“, war die einhellige Meinung der Delegierten.

„Bei uns haben viele Sozialarbeiter mitgestreikt, die jetzt komplett leer ausgehen. Unsere jungen Erzieherinnen sagen: „Dann wollen wir lieber gar nichts haben. Was sollen wir mit lumpigen eins Komma zwei Prozent?’“ rief ein aufgebrachter Delegierter aus Hannover.

Martin aus Stuttgart fragte: „Kam dieses Ergebnis unter Folter zustande? Wir hatten gestern in Stuttgart eine Versammlung, und statt hundert kamen 180 Leute, mit der einhelligen Reaktion: Das ist kein Ergebnis, das ist eine Beleidigung. Wir wollten mit diesem Streik erreichen, dass der Erzieherberuf auf Bachelor-Niveau angehoben wird. Aber jetzt kriegen die Sozialarbeiter überhaupt nichts. Unser Votum ist eindeutig: Ablehnung.“

„Bei uns bekommt man als Heilpädagogin jetzt 5,75 Euro mehr in die Lohntüte, und das nach vier Wochen Streik; das ist lächerlich“, sagte eine Delegierte aus Nordwest-Brandenburg. „Dafür sind die Leute nicht auf die Straße gegangen.“

Ein Münchner Delegierter berichtete: „Bei uns herrscht nur eine Reaktion: Fassungslosigkeit. Wir lehnen das Ergebnis einstimmig ab. Es ist in keiner Weise das, wofür wir gestreikt haben. Das ist keine Aufwertung, das ist Flickschusterei. Die Sozialarbeiter waren bei uns in München in der Überzahl am Streik beteiligt, es sind fast alles junge Kolleginnen und Kollegen, die jetzt, nach dem Vorschlag, einen feuchten Händedruck bekommen sollen.“

Die meisten Delegierten hatten ein Votum ihrer örtlichen Streikversammlungen mitgebracht, die sich fast in allen Kommunen am Dienstagabend getroffen hatten. Ein Delegierter aus Reutlingen berichtete: „Auf unserer gestrigen Versammlung herrschte Unverständnis, Erschütterung und Entsetzen. Die Sozialarbeiter, die den Streik voll mitgetragen haben, kriegen gar nichts. Mir persönlich würden zwei Prozent Gehaltserhöhung zustehen, aber ich frage mich ernsthaft: Will ich die überhaupt? Mir ist das gute Verhältnis mit den Kollegen lieber.“

Eine Delegierte aus dem Bezirk Weser sagte: „Ich bringe euch das klare Votum von über 300 Mitgliedern: Wir lehnen diesen Vorschlag in Gänze ab. Das Gros der Menschen, die auf die Straße gegangen sind, wird jetzt abgestraft. Es kann nicht sein, dass man uns diesen Hohn für alle Zeiten aufs Butterbrot schmieren wird.“

Eine Kölnerin sprach im Namen von zweitausend Streikenden: „Ich überbringe euch die komplette Ablehnung. Wir wollen keine Urabstimmung, sondern ihr sollt diesen Vorschlag ablehnen. Der Streik soll so schnell wie möglich wieder aufgenommen werden.“

„Für uns war der Streik ein Aufbruch in die Zukunft“, sagte eine Delegierte aus dem Ruhrgebiet etwas theatralisch. „Immer mehr Kolleginnen schlossen sich an, und alle Kitas waren dicht. Du hast uns gesagt, Käpten Bsirske, das sei ein historischer Streik zur Aufwertung der Frauenberufe. Dafür führten wir einen unbegrenzten Erzwingungsstreik. Dieses Ergebnis ist ein Hohn, es spaltet die Belegschaften. – Wir sind nach wie vor bereit, für die ursprüngliche Forderung weiter zu streiken“, fügte sie hinzu. „Seht doch, was gerade in Deutschland los ist: Auch die Postler streiken und die Belegschaft der Charité in Berlin.“

Auch andere Delegierte wiesen auf die parallel laufenden Streiks hin. Einer sagte: „Wisst ihr eigentlich, was bei der Charité läuft? Wenn wir jetzt aufhören, fallen wir denen in den Rücken.“ Beatrix aus Sachsen-Anhalt fragte: „Warum bündeln wir denn nicht all unsre Kräfte in den sozialen, den medizinischen und den Pflegediensten?“

Claudia aus Bochum-Herne fragte: „Was geben wir den Kollegen bei der Charité in Berlin eigentlich für ein Signal, wenn wir jetzt akzeptieren?“ Sie fuhr fort: „Wir machen uns in der Öffentlichkeit lächerlich. Für dieses Ergebnis haben die Kollegen nicht gestreikt. Die Lage ist hochpolitisch. Auch die Postler streiken unbefristet, und das ist gerade der Grund, warum die öffentlichen Arbeitgeber so unnachgiebig sind. Das alles wussten wir schon vorher. Die Kollegen waren bereit, hart zu kämpfen. Aber dann habt ihr uns die Schlichtung dazwischen geballert.“

Viele Delegierte, die seit Jahren Gewerkschaftsfunktionäre sind, warnten, dass sie die Kontrolle verlieren könnten. „Ihr präsentiert uns hier ein Minusergebnis“, sagte einer. „Jeder von uns hier weiß doch, was das für Verdi bedeutet.“

Mehrere Sprecher begannen mit der versöhnlichen Floskel: „Wir wissen, dass ihr nicht schuld seid, aber…“, um dann die anwachsende Unzufriedenheit an der Basis auszudrücken. Einige wandten sich direkt gegen den Verdi-Vorsitzenden Frank Bsirske, und sagten zum Beispiel: „Ihr habt der Presse gesagt, es sei ‚ein Schritt in die richtige Richtung’. Du siehst doch, Frank, hier brennt die Luft. Wie könnt ihr Statements und Bewertungen herausgeben, ohne vorher mit uns, euren Mitgliedern, zu sprechen?“

„Im Stuttgarter Jugendamt sind die Kollegen fassungslos“, sagte eine Sprecherin und fügte hinzu: „Wir hatten erstmals auch die Sozialarbeiter an unsrer Seite, die jetzt leer ausgehen sollen.“ Stefan aus München berichtete, er sei schon 2009 dabei gewesen: „Damals haben wir unter Schmerzen zugestimmt, weil einige junge Kollegen was davon hatten. Diesmal sieht es so aus, als ob die Kita-Leitungen ein kleines bisschen mehr bekommen, aber unsere Arbeit als Ganzes wird nicht aufgewertet, und für die Sozialpädagogen gibt es so gut wie nichts. Das kann nur zu Verwerfungen innerhalb von Verdi selbst führen.“

Viele forderten die sofortige Wiederaufnahme des Streiks. „Wenn wir nach vier Wochen Streik nichts erreicht haben, dann müssen wir den Streik ausweiten, aber nicht abbrechen. Sonst sind wir auf zwanzig Jahre hinaus am Boden.“ Eine Delegierte aus Emscher-Süd im Ruhrgebiet sagte: „Was haben wir denn zu verlieren? Schlimmer als jetzt kann es doch nicht werden. Jetzt sind die Kollegen motiviert und streikbereit, aber ihr wollt sie nach Hause schicken.“

Die heftige Debatte dauerte mehrere Stunden. Zweimal musste die Verdi-Leitung die angekündigte Pressekonferenz verschieben. Am späten Nachmittag gab der Verdi-Vorstand in eine kurzen Mitteilung bekannt, dass die Streikdelegiertenkonferenz den Schlichterspruch abgelehnt habe.

Die Schärfe und Aggressivität mit der Frank Bsirske und die Verdi-Führung gegen die Streikdelegierten auftrat, bestätigt die Einschätzung der World Socialist Web Site, die vor der Rolle von Verdi, GEW und DGB warnte, und vor zwei Wochen schrieb: „Die Verteidigung von Löhnen, sozialen Errungenschaften und demokratischen Rechten erfordert einen entschieden Bruch mit den Gewerkschaften und ihrer Unterordnung unter Regierung und Staat. Die Erzieherinnen und Erzieher […] müssen sich unabhängig organisieren.“

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