Die italienische Regierung sucht einen Käufer für den Stahlkonzern Ilva und sein größtes Werk in Tarent (Apulien). Bis Ende Juni 2016 soll der Stahlgigant einen neuen Besitzer haben. Interessenten könnten sich bis zum 10. Februar melden, gab die Industrieministerin Federica Guidi am 4. Januar bekannt.
Ilva ist der drittgrößte Stahlkonzern Europas mit heute noch knapp 12.000 Beschäftigten; weitere 8000 Arbeiter sind bei den Zulieferfirmen beschäftigt. Der hundertzehnjährige Betrieb, der einst zum Staatskonzern Italsider gehörte, wurde 1995 an den Riva-Konzern verkauft.
Seit zwei Jahren steht Ilva unter Zwangsverwaltung der Regierung. Gegen die Eigentümer, die Familie Riva, läuft ein Gerichtsverfahren wegen Steuerhinterziehung sowie Umweltverseuchung mit vielhundertfacher Todesfolge. Vermögenswerte in Höhe von 1,2 Milliarden Euro, die Riva auf Schweizer Konten deponiert hatte, waren ursprünglich für die Sanierung des Werks und die Beseitigung der schlimmsten Umweltschäden in Tarent bestimmt, werden jedoch von Schweizer Banken und Behörden nicht freigegeben.
Die Stahlarbeiter, die sich auf die Werke in Tarent (Apulien), Cornigliano (Genua) und Novi Ligure (Piemont) verteilen, müssen mit Schließungen, Entlassungen oder massiven Lohnkürzungen rechnen. Über dreieinhalbtausend Beschäftigte sollen dieses Jahr „vorübergehend“ entlassen werden. Das teilten die staatlichen Ilva-Kommissare am 11. Januar mit. Die Maßnahme betrifft 1713 Arbeiter im Walz- und Röhrenwerk, 831 an den Hochöfen und 975 in Verwaltung, Reparatur und Wartung.
Schon im vergangenen Jahr waren durchschnittlich jeden Monat 2000 Arbeiter vorübergehend freigestellt worden. Diese Stahlarbeiter in Kurzarbeit erhielten seit Jahren jeweils bis zu achtzig Prozent des Lohns, finanziert durch die staatliche Cassa Integrazione. Seit 2005 übernahm ein betrieblicher „Solidaritätsvertrag“ eine gewisse Garantie für Arbeitsplätze und Einkommen.
Ab Januar 2016 greift jedoch der so genannte Jobs Act, die Arbeitsrechtsreform der Regierung von Matteo Renzi, die betriebliche Sondergarantien außer Kraft setzt. Kurzarbeiter müssen mit massiven Lohnkürzungen von zwanzig Prozent und längerfristig mit dem kompletten Wegfall der Bezüge rechnen.
Durch den geplanten Verkauf steht zudem die Wiedereinstellung der „vorübergehend“ entlassenen Arbeiter völlig in den Sternen. Weltweit herrscht ein Überangebot an Stahl, die Preise verfallen, und der Konkurrenzkampf ist gnadenlos. Mögliche Interessenten wie ArcelorMittal, JSW Steel oder Marcegaglia könnten rasch zu Schließungen und Entlassungen übergehen.
Die Stahlarbeiter sind von allen Seiten unter Druck, und so sind explosive Klassenkonflikte vorprogrammiert.
Rathausbesetzung in Genua
Wie ein erstes Wetterleuchten zeigte dies ein Protest der Stahlarbeiter von Cornigliano Anfang des Jahres.
Am Montagmorgen, dem 11. Januar 2016, besetzten fünfhundert Stahlarbeiter das Rathaus von Genua und forderten eine Garantie ihres „Solidaritätsvertrags“, für den sie 2005 große Opfer gebracht hatten, als die Hochöfen und das Warmwalzwerk stillgelegt wurden. Seither laufen in Cornigliano noch ein Kaltwalzwerk und zwei Verzinkereien; 1600 Stahlarbeiter sind noch hier beschäftigt.
Eine Demonstration, die ursprünglich zur Präfektur führen sollte, wurde kurzerhand zum feudalen Palazzo Tursi, Sitz der Stadtregierung, umgeleitet. Die Arbeiter drückten das Portal zum Gemeinderatssaal mit den Schultern auf und machten Anstalten, sich auf Dauer einzurichten.
Sie riefen Parolen gegen Premier Matteo Renzi (PD) und den Genoveser Bürgermeister Marco Dario und hinderten den örtlichen Parteisekretär der Demokraten (PD), Alessandro Terrile, an der Flucht. Auf der Straße stellten sie Terrile zur Rede, weil er kurz zuvor in einer regionalen Parteiversammlung dazu aufgerufen hatte, die Sondergarantien für Ilva-Stahlarbeiter zu streichen: „Wir können es uns nicht erlauben, die Leistungen für die Ilva-Arbeiter aufzustocken“, hatte Terrile gehetzt.
Schließlich gelang es den vereinten Bemühungen eines Gewerkschaftssekretärs und der herbeigeeilten Präfektin Fiamma Spena, die Arbeiter zur Aufgabe der Besetzung zu überreden.
Die Gewerkschaften bekräftigten ihre Forderung nach einem nationalen runden Tisch, zu dem die Renzi-Regierung alle Stahlgewerkschaften nach Rom einladen müsse. Maurizio Landini, Chef der größten Metallgewerkschaft FIOM, sagte der Presse: „Wir fordern von der Regierung, Gewerkschafter und Arbeiter zu versammeln, um über die Zukunft des gesamten Stahlsektors zu diskutieren.“
Am nächsten Tag meldete sich Bürgermeister Doria zu Wort, dem die Aktion der Arbeiter zunächst die Sprache verschlagen hatte. Er verurteilte die Besetzung vehement als „Angriff auf die demokratische Institution der Kommune von Genua“. Marco Dario, ein früheres Mitglied der Kommunistischen Partei (PCI), steht heute Matteo Renzis Demokraten nahe. Er ist ein Nachfahre des Genueser Adligen Andrea Doria, dem einstigen Besitzer des prächtigen Rathauspalastes, den die Arbeiter so schnöde besetzt hatten.
Über den Stahlkonzern Ilva sagte Doria, er sei „in komatösem Zustand“. Den Absturz des Stahlkonzerns habe bisher „nur die nationale Gemeinschaft mit vereinten Kräften verhindert“. Dario behauptete, Regierungschef Renzi werde sicherstellen, dass beim Verkauf der Ilva „der Schutz der heutigen Arbeitsplätze … durch Einführung einer Sozialklausel“ sichergestellt werde.
Die Mär von der Silva-Rettung
Dario ist nicht der einzige, der die Mär der Ilva-Rettung durch die „nationale Gemeinschaft“ verbreitet und die staatliche Übernahme durch die Renzi-Regierung schönredet. Schon der britische Labour-„Linke“ Corbyn hatte behauptet, in der Sache Ilva müsse man von der Renzi-Regierung lernen. „Die italienische Regierung hätte [der britischen] leicht beibringen können, dass man intervenieren kann, ob temporär oder permanent, und dass es zahlreiche Wege gibt, die wirtschaftliche Infrastruktur zu retten …“
All dies sind ebenso viele Lügen wie Worte. Die Renzi-Regierung und ihre Vorgänger haben weder die „wirtschaftliche Infrastruktur“, noch die Arbeitsplätze gerettet, von der Gesundheit der Arbeiter ganz zu schweigen. Nicht umsonst heißen die Gesetze, die die Milliarden schweren Steuergeschenke für den Ilva-Konzern legitimieren, im Volksmund „Decreti Salva Riva“ (Riva-Rettung). Die Regierung handelt im Interesse der italienischen Bourgeoisie und bürdet die Kosten der Arbeiterklasse auf.
Das zeigte letzte Woche ein weiteres, schlagendes Beispiel, als Renzi den Stahlingenieur Marco Pucci zum Übergangs-Generaldirektor von Ilva ernannte. Pucci war im Mai 2015 zu sechseinhalb Jahren Gefängnis verurteilt worden, wegen Mitverantwortung für einen verheerenden Unfall bei ThyssenKrupp vor acht Jahren.
Im Turiner ThyssenKrupp-Werk waren am 6. Dezember 2007 sieben Arbeiter bei lebendigem Leib verbrannt, als eine Explosion einen verheerenden Feuerstoß auslöste. Die Katastrophe hätte durch einfache Sicherheitsvorkehrungen verhindert werden können, doch im Werk wurde nichts mehr investiert, da es geschlossen werden sollte. Marco Pucci war damals einer der verantwortlichen Manager.
Seit über acht Jahren wird dieser Prozess von einer Instanz zur andern verschleppt, und auch heute noch ist Pucci auf freiem Fuß und wartet auf ein neues Berufungsurteil. Bis vor kurzem hat er das ThyssenKrupp-Werk AST in Terni geleitet. Gegen seine Ernennung zum Ilva-Generaldirektor protestierten die Angehörigen der damals verbrannten Stahlarbeiter, und kurz darauf verzichtete Pucci auf den Posten.
Arbeitsunfälle
Dennoch wirft dieser Fall ein Schlaglicht darauf, welche Haltung die Regierung zu Leben und Gesundheit der Stahlarbeiter einnimmt. In den zwei Jahren, in denen Ilva unter staatlicher Aufsicht stand, hat die Regierung keinen Finger gerührt, um die Umweltprobleme zu lösen oder die Werkssicherheit zu verbessern, im Gegenteil: Kaum jemals zuvor gab es kurz hintereinander so viele Arbeitsunfälle.
Angelo Iodice (54), Stahlarbeiter und Sicherheitsbeauftragter, starb am 4. September 2014, als sich ein Transportschlitten aus der Verankerung löste und ihn überrollte. Alessandro Morricella (35) wurde am 12. Juni 2015 bei einer Routineprüfung am Hochofen von glühendem Gussstahl überschüttet; er starb nach vier Tagen im Koma. Nur wenige Tage drauf verbrühte sich ein Zeitarbeiter an heißen Dämpfen schwer.
Cosimo Martucci (48), Arbeiter einer Zeitfirma, wurde am 17. November 2015 von einem Stahlrohr erschlagen, das sich beim Entladen eines Fernlasters vom Haken gelöst hatte. Nur Stunden später ereignete sich eine Verpuffung in einer Strangguss-Halle, die einen Feuerstoß auslöste. Zum Glück wurde kein Arbeiter verletzt.
Ein ähnliches Unglück, das gleichzeitig fatal an jenes bei ThyssenKrupp von 2007 erinnert, ereignete sich erst vor einer Woche: Am 14. Januar 2016 kam es nachts um eins in einer Stranggussanlage zu einer Explosion, die einen Ausstoß von etwa zwanzig Tonnen Flüssigstahl verursachte. Wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt.
Ein Arbeiter berichtete: „Wir hörten erst ein Getöse und sahen dann, wie der 1.600 Grad heiße Stahl in einer Stichflamme herausschoss, bis etwa drei Meter von uns entfernt. Ein Kollege stürzte, als wir wegrannten.“
Der Sicherheitsmann, der die schockierten Arbeiter in die Krankenstation schickte, berichtete, die Tränen seien ihnen heruntergelaufen. „Nicht auszudenken, wenn die Explosion auf der andern Seite der Halle passiert wäre, wo die sechs Arbeiter standen.“ Er beschuldigte den Konzern, keine Sicherheitsvorkehrungen getroffen und keine Konsequenzen aus dem Vorfall vom 18. November gezogen zu haben, als ein fast identischer Unfall in der gleichen Abteilung passiert war.
Die menschenverachtende Haltung zeigt sich auch im Umgang mit den Stahlarbeitern, ihren Familien und der ganzen Stadt Tarent: Hier breitet sich im Umfeld des Ilva-Stahlwerks seit Jahren eine Umweltkatastrophe ersten Ranges ungehindert aus.
Als die EU-Wettbewerbskommissarin am 20. Januar eine Untersuchung gegen die italienische Regierung einleitete, weil diese dem Stahlwerk Ilva mit zwei Milliarden Euro unter die Arme gegriffen hatte, antwortete Ministerin Guidi, das Geld sei hauptsächlich bezahlt worden, um den „Umwelt-Notstand“ zu beseitigen. Aber die Einwohner von Tarent merken davon nichts: Immer noch sind Straßen, Plätze, Autos, Gärten, Schulhöfe und Kindergärten von rotem Staub bedeckt. Die Emissionen des Werks werden offiziell für mindestens vierhundert vorzeitige Todesfälle verantwortlich gemacht.
Eine Arbeitslosigkeit von über zwanzig Prozent in der Region bewirkt, dass die Stahlarbeiter mit zusammengebissenen Zähnen weitermachen. Ein Ilva-Stahlarbeiter brachte das Dilemma mit den Worten auf den Punkt: „Entweder stirbst du hier an Krebs, oder deine Familie muss hungern.“