Unmittelbar nach dem Sondergipfel der Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union mit der türkischen Regierung am vergangenen Montag in Brüssel offenbart sich die erbärmliche Abschottungspolitik Europas gegen Flüchtlinge. Die Balkanroute ist für Flüchtlinge seit Mittwoch komplett verschlossen, Ungarn hat den Krisenzustand ausgerufen, um die Armee an die Grenzen zu beordern, und auch Bulgarien hat das Militär in Alarmbereitschaft versetzt, um gewaltsam gegen Flüchtlinge vorzugehen.
Mit dem Abkommen zwischen der EU und der Türkei treiben die europäischen Regierungen die Auslagerung der Flüchtlingsabwehr energisch voran und zertrampeln dabei elementare Grundsätze des internationalen Flüchtlingsschutzes. Jahrelang hatte die Europäische Union den Begriff der „Festung Europa“ von sich gewiesen. Nun wird der „Schutz der Außengrenzen“ zum hohen Gut erhoben, Flüchtlinge werden wie eine feindliche Invasionsarmee behandelt und mit Kriegsschiffen, Stacheldrahtzäunen und Soldaten abgewehrt.
Am Dienstag hatte die slowenische Regierung angekündigt, nur noch Menschen mit gültigen Reisepässen und Visa einreisen zu lassen. Kroatien, Serbien und Mazedonien schlossen sich diesem Schritt an, wodurch kein einziger Flüchtling mehr die Balkanroute passieren kann. Der Ratspräsident der Europäischen Union, Donald Tusk, betonte am Mittwoch über Twitter, dass die Schließung der Balkanroute keineswegs eine einsame Entscheidung der Regierung in Ljubljana gewesen sei, sondern von den 28 EU-Mitgliedsstaaten auf dem Sondergipfel gemeinsam vereinbart wurde.
Tusk bezog sich auf die Abschlusserklärung des Gipfels, in der es heißt: „Bei den irregulären Migrationsströmen entlang der Westbalkanroute ist das Ende erreicht.“ Er entlarvte damit zugleich Berichte, die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel habe sich erfolgreich gegen die Schließung der Balkanroute gewehrt. Das wird auch in einem Interview der österreichischen Innenministerin mit der deutschen Tageszeitung Die Welt deutlich. Johanna Mikl-Leitner erklärt dort: „Das Schließen der Balkanroute verläuft planmäßig, und diese Uhr wird nicht zurückgedreht.“
Die Schließung der Grenzen auf dem Westbalkan hat katastrophale Auswirkungen auf die Lage der Flüchtlinge, die nun in Griechenland festsitzen. Im provisorischen Flüchtlingslager nahe Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze warten inzwischen mehr als 14.000 Flüchtlinge auf ihre Weiterreise. Der seit Tagen anhaltende Regen hat das Lager in eine Schlammlandschaft verwandelt, die winzigen Zwei-Mann-Zelte, in denen zuweilen sechsköpfige Familien ausharren müssen, sind mit Wasser vollgelaufen. Die hygienischen Bedingungen stinken zum Himmel. Hunderte Flüchtlinge, darunter viele Kinder, leiden unter schweren Erkältungen und Durchfall, berichteten Ärzte eines Krankenhauses nahe Idomeni.
Insgesamt sitzen in Griechenland nach offiziellen Angaben bereits mehr als 36.000 Flüchtlinge fest. Das infolge des Spardiktats der Europäischen Union wirtschaftlich und sozial nahe am Zusammenbruch stehende Land hat aber nur Kapazitäten für rund 25.000 Flüchtlinge. Nach Angaben des griechischen Krisenstabes befinden sich rund 7.300 Flüchtlinge in den Lagern auf den Ägäisinseln, etwa 9.400 in Athen und mehr 18.000 in Lagern in Nordgriechenland.
Der griechische Außenminister Nikos Kotzias erwartet, dass bis Monatsende rund 150.000 Flüchtlinge in Griechenland gestrandet sein werden. In diesem Jahr sind bereits 131.847 Flüchtlinge in der Ägäis registriert worden, mindestens 347 sind während der Überfahrt ertrunken. Die letzten 25 starben bei einem Bootsunglück, das sich praktisch während der Verhandlungen in Brüssel ereignete.
Die sich anbahnende humanitäre Katastrophe lässt die politische Elite der EU jedoch völlig kalt. Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz antwortete in der vergangenen Woche in der Süddeutschen Zeitung auf die Frage, ob die Bilder aus dem Lager bei Idomeni abschreckend wirken sollen: „Ich habe schon früher gesagt, dass wir mit solchen Bildern rechnen müssen – auch wenn man sich nicht gut fühlen kann, wenn man diese Bilder sieht.“ Aber „es gibt nur zwei Wege. Wir lassen die Menschen durch, oder wir stoppen sie.“
Deal mit der Türkei
Gestoppt werden sollen sie demnächst bereits in der Türkei. Das sieht zumindest der schmutzige Deal vor, den die Staats- und Regierungschefs der EU mit der türkischen Regierung beschlossen haben und dessen Einzelheiten auf einem weiteren EU-Gipfel in einer Woche ausgehandelt werden sollen.
Danach soll die Türkei zukünftig alle Flüchtlinge zurücknehmen, die über die Ägäis oder die nördliche Landgrenze nach Griechenland oder Bulgarien gelangen. Nach einem „eins zu eins“-Prinzip will die Europäische Union im Rahmen eines „Resettlement-Programms“ für jeden abgeschobenen syrischen Flüchtling einen Syrer aufnehmen, der sich in einem Flüchtlingslager der Türkei aufhält. Dabei wird es sich um handverlesene Flüchtlinge handeln, da die EU selbst entscheidet, wen sie aufnimmt.
Außerdem stockt die EU die Finanzhilfen für die Türkei von 3 Milliarden Euro auf 6 Milliarden Euro auf, die bis 2018 an die türkische Regierung fließen sollen. Hinzu wünscht sich die Türkei die Abschaffung der Visapflicht für türkische Staatsangehörige bei der Einreise in die EU sowie die Eröffnung weiterer Kapitel bei den Beitrittsverhandlungen.
Nach stundenlangen Verhandlungen sprachen der Ratspräsident der EU, Donald Tusk, und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel von einem „Durchbruch“. Merkel meinte, dass es ein „qualitativ neuer Vorschlag ist, der uns in der Frage voranbringen kann, wie wir Illegalität bekämpfen“. Es sei, so Merkel, „gelungen, die Perspektive zur Rückkehr zu geordneten Verhältnissen vorzuzeichnen“.
Ganz abgesehen davon, dass die angebliche „Illegalität“ des Flüchtlingszuzugs nur das Ergebnis der europäischen Abschottungspolitik ist, die Flüchtlinge einfach zu „illegale Immigranten“ erklärt, werden die „geordneten Verhältnisse“ darin bestehen, dass die EU die Türkei zum Türsteher macht, der der EU die Drecksarbeit bei der Flüchtlingsabwehr abnimmt.
Zwar gibt es innerhalb der EU noch Vorbehalte gegen dieses zynische Tauschgeschäft, jedoch nur hinsichtlich der Frage, ob die Zugeständnisse, die die Türkei fordert, nicht zu weit gehen. So hat insbesondere die französische Regierung Vorbehalte gegen die Visafreiheit, und Zypern verlangt die volle Anerkennung der griechisch-zypriotischen Regierung in Nikosia durch die Türkei, bevor weitere Beitrittsverhandlungen aufgenommen werden können.
Kein Wort wurde jedoch darüber verloren, dass die Türkei elementare demokratische Rechte mit Füßen tritt. Unmittelbar vor dem Gipfel hatte sie die regierungskritische Zeitung Zaman gewaltsam unter ihre Kontrolle gebracht, ebenso die Nachrichtenagentur Cihan. Eine Demonstration anlässlich des Weltfrauentags wurde von der Polizei niedergeknüppelt. Im Osten des Landes führt die Regierung von Präsident Recep Tayyip Erdogan einen blutigen Krieg gegen die unterdrückte Minderheit der Kurden.
Bereits vor dem Gipfel hatte der deutsche Innenminister Thomas de Maizière deutlich gemacht, dass die EU über Menschenrechtsverletzungen hinwegsehen wird. „Wir sollten nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein“, sagte de Maizière der Passauer Neuen Presse. Damit verteidigt er letztlich im Voraus die Verbrechen und Rechtsbrüche, die die EU bei der Flüchtlingsbekämpfung begeht.
Wie in einem schlechten Film, in dem Türsteher mit zweifelhafter Biografie aber dafür umso bedrohlicherer Visage auftreten, lagert die Europäische Union die Flüchtlingsabwehr in einen Staat aus, der mit äußerster Brutalität gegen Flüchtlinge vorgeht und sich nicht um international gültige Normen des Flüchtlingsschutzes schert.
Der Vizedirektor der Menschenrechtsorganisation Amnesty International, Gauri van Gulik, protestierte gegen das Abkommen. „Es ist absurd, die Türkei zu einem sicheren Drittstaat zu erklären. Viele Flüchtlinge leben unter schrecklichen Bedingungen, einige wurden zurück nach Syrien abgeschoben und Sicherheitskräfte haben sogar auf syrische Flüchtlinge geschossen, die die Grenze überschreiten wollten.“
Der türkische Ministerpräsident Ahmet Davutoglu stellte noch auf dem Rückflug klar, dass die Türkei die aus Griechenland zurückgenommen Flüchtlinge selbst umgehend weiter deportieren wird. „Nichtsyrer, die wir in der Ägäis aufgreifen, schicken wir in ihre Heimatländer zurück“, sagte Davutoglu. „Die Syrer bringen wir in Lager.“
Die türkische Regierung verhandelt derzeit mit 14 Staaten Rücknahmeabkommen aus. Es kann kein Zweifel bestehen, dass die türkischen Behörden Afghanen, Iraker, Jemeniten, Somalier und Eritreer rücksichtslos deportieren wird. Flüchtlinge aus den kurdischen Gebieten Iraks und Syriens müssen sogar befürchten, von türkischen Sicherheitskräften als „Terroristen“ verfolgt zu werden.
Die Türkei hat die Genfer Flüchtlingskonvention bis heute nur mit einem geographischen Vorbehalt ratifiziert, so dass nur Flüchtlinge aus Europa anerkannt werden. Die 2,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan, die in der Türkei leben, sind hingegen nur als Gäste geduldet. Syrische Flüchtlinge werden zudem an der Grenze einfach abgewiesen.
Da die Türkei aber weder die Genfer Flüchtlingskonvention noch das Verbot der Zurückweisung von Schutzsuchenden vollständig umgesetzt hat, kann die Türkei rein rechtlich überhaupt nicht zu einem „sicheren Drittstaat“ erklärt werden. Das würde nicht nur gegen die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) verstoßen sondern selbst gegen die butterweiche Asylverfahrensrichtlinie der Europäischen Union. Zu diesem Schluss kommen gleich mehrere Rechtsgutachten, die von ProAsyl, Human Rights Watch und Statewatch in Auftrag gegeben worden sind.
Der Präsident der Europäischen Kommission, Jean-Claude Juncker, setzt sich über diese rechtlichen Bedenken jedoch einfach hinweg. Er wird im britischen Guardian damit zitiert, dass die Abschiebung in die Türkei legal sei, da Griechenland ja die Türkei zu einem „sicheren Drittstaat“ erklärt habe. Zu diesem Schritt war die griechische Regierung vor allem auf Druck des deutschen Innenministers Thomas de Maizière genötigt worden.
Geld für Abschiebelager
Die sechs Milliarden Euro, die die EU der Türkei versprochen hat, sollen nach Worten von Bundeskanzlerin Angela Merkel, „für die Unterstützung der Situation der Flüchtlinge ausgegeben werden“. Tatsächlich baut die Türkei unter Mithilfe der EU hauptsächlich Abschiebelager für Flüchtlinge. Der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, Markus Ederer, bestätigte eine Anfrage der Grünen im Bundestag, dass die EU „Aufbau und Ausstattung von Zentren für die Aufnahme und Rückführung von Drittstaatenangehörigen“ in der Türkei finanziert. Sie bezahlt damit faktisch die Deportation der Flüchtlinge zurück in die Kriegsgebiete.
„Für Erwachsene gibt es keine Arbeit, für Kinder keine Schule – so sieht der Alltag für viele syrische Flüchtlingsfamilien in der Türkei aus“, schreibt der Bayerische Rundfunk in einem Bericht, der sich auf Analysen des türkischen Migrationsforschers Murat Erdogan stützt. „Manche Flüchtlingsfamilien schicken ihre Kinder zur Arbeit, damit das Geld zum Überleben reicht. Und wer seine Kinder zur Schule anmelden will, scheitert oft an der Bürokratie. In Wirklichkeit sind nur etwa 70.000 syrische Kinder in das türkische Bildungs-System integriert, also nur etwa acht Prozent“, erklärt Erdogan.
Laut einem Bericht des britischen Independent werden Flüchtlinge aus Syrien von türkischen Grenzpolizisten systematisch beschossen. Die Regierung in Ankara bestreitet diese Verbrechen noch nicht einmal, sondern tut sie als Verteidigungsmaßnahmen ab. Der Independent zitiert einen hohen türkischen Regierungsbeamten mit den Worten, „in bestimmten Fällen hat die Grenzpolizei gar keine andere Möglichkeit, als Warnschüsse abzugeben, da sie von syrischer Seite von Schmugglern und Terrorbanden attackiert werden.“
Amnesty International hatte bereits im Dezember berichtet, dass in dem Krankenhaus von Azaz nahe der türkischen Grenze täglich im Schnitt zwei Flüchtlinge mit Schusswunden eingeliefert werden, die ihnen von türkischen Grenzpolizisten beigebracht worden sind. Unter den Eingelieferten befand sich ein zehnjähriges Mädchen und ein einjähriges Baby, die mit Kopfschüssen regelrecht hingerichtet worden sind. Der Orthopäde Ali al-Saloum vom Hospital in Azaz bestätigte jetzt diesen Bericht gegenüber dem Independent. „Früher gab es viel weniger Vorfälle, und wenn es passierte, handelte es sich um Schusswunden in Armen oder Beinen. Aber seit Kurzem beginnen Leute zu sterben.“
Mit der Schließung der Balkanroute und dem Abschiebeabkommen mit der Türkei hat die Europäische Union ganz bewusst die letzten Reste des Flüchtlingsschutzes beiseite gewischt. Der Migrationsforscher Olaf Kleist erklärt im Schwäbischen Tageblatt, die EU habe sich freigekauft. „Das ist keine Politik, die auch nur im Geringsten auf den Schutz der Flüchtlinge abzielt“, sagt Kleist und befürchtet, dass viele Flüchtlinge diese Abschottungspolitik auf der Suche nach Alternativrouten mit dem Leben bezahlen werden.
Kleist meint: „Erste Alternative ist wahrscheinlich der Weg über Nordafrika und das Mittelmeer nach Italien. Ein sehr gefährlicher Weg, nicht nur wegen des Meeres, sondern auch wegen der Ablegestaaten Ägypten und Libyen, also eine Diktatur und ein ‚failed state‘. Es sind in diesem Fall nicht nur viele Tote zu befürchten, sondern auch, dass der Deal, den wir jetzt mit der Türkei sehen, ein Vorbild für weitere Migrationsverhinderungsabkommen mit nordafrikanischen Staaten wird.“