Militärhistoriker fordert mehr politische Macht der Armeeführung

Wer verstehen will, wie weit die Rückkehr des deutschen Militarismus unter der Oberfläche bereits fortgeschritten ist, sollte die Außenansicht in der Süddeutschen Zeitung vom Dienstag lesen. Sie ist ein direkter Appell an die deutsche Generalität wieder in die Außen- und Innenpolitik einzugreifen, um Deutschland aufzurüsten und auf Kriegskurs zu bringen.

Unter der Überschrift „Staatsbürger in Uniform“ fordert der Militärhistoriker Sönke Neitzel „Die Bundeswehr befindet sich in der Krise. Jetzt wäre an der Zeit, dass die Generäle ihre Stimme erheben.“

Neitzel leitet seine Forderung direkt aus der internationalen und nationalen Krisensituation ab. Er schreibt: „Schon lange nicht mehr hat die Bundeswehr die Öffentlichkeit so beschäftigt wie in diesen Tagen. Trump, Putin, der IS, Mali und dann noch Pfullendorf. Das ganze Themenspektrum ist betroffen: von der großen Strategie über Rüstungspannen, die heikle Frage nach der deutschen Rolle bei fehlgeleiteten Luftangriffen in Syrien bis hin zur Inneren Führung.“

In Kriegszeiten sei „die Generalität“, also „jene knapp 200 Spitzenbeamten der Besoldungsgruppen B 6 bis B 10“ schlicht die besseren Politiker, so Neitzel. „Journalisten und Wissenschaftler mögen mit historischem oder politischem Wissen die Konflikte dieser Zeit mehr oder minder intelligent kommentieren“, schreibt er. „Was aber wirklich in Syrien, im Irak oder in Mali vor sich geht, können militärische Experten viel besser beurteilen.“ Ihre Meinung sollte also „gehört werden, und zwar nicht nur im kleinen vertraulichen Zirkel, auch von der Gesellschaft, die diese Männer (und zwei Frauen) mit ihren Steuern schließlich bezahlt.“

Als Militärhistoriker weiß Neitzel genau, an welche düstere Tradition er mit seiner Forderung anknüpft. Die deutsche Generalität nahm im Kaiserreich und auch in der Weimarer Republik die Rolle eines Staats im Staate ein, der maßgeblich zur Errichtung eines autoritären Regimes und zum Aufstieg Hitlers beigetragen und jeden Widerstand im Inneren dagegen brutal unterdrückt hatte.

Nach den ungeheuerlichen Verbrechen der Obersten Heeresleitung (OHL) im Ersten Weltkrieg beteiligte sich General Ludendorff 1920 am Kapp-Putsch und spielte drei Jahre später eine führende Rolle bei Hitlers Marsch auf München. General Paul von Hindenburg wurde 1925 Reichspräsident und ernannte im Januar 1933 Hitler zum Reichskanzler.

Nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs attestierte selbst der nationalkonservative Historiker Friedrich Meinecke, dass der deutsche Militarismus, „diejenige geschichtliche Macht“ sei, „die den Aufbau des Dritten Reichs wohl am stärksten gefördert hat.“ Und der erzkonservative erste Bundeskanzler nach dem Krieg, Konrad Andenauer (CDU), sah sich 1954 im Bundestag gezwungen zu versprechen, dass es in Deutschland nie wieder die „zentrale Stellung“ eines ambitionierten Offizierskorps vergangener Zeiten geben werde.

Das soll sich nun ändern. Neitzel erklärt: „Freilich war es nie gewollt, dass die Generalität im öffentlichen Diskurs oder gar in der Politik der Bundesrepublik eine nennenswerte Rolle spielt“. Dann fügt er provokativ hinzu: „Doch 60 Jahre nach Gründung der Bundeswehr ist das Unbehagen über die Generalität nicht mehr zeitgemäß. An der Loyalität dieser kleinen staatlichen Eliten kann kein vernünftiger Mensch zweifeln. Sie mögen als soziale Gruppe ihre Eigenarten haben, doch das trifft auf andere Gruppen nicht minder zu. Es ist schlicht eine Vergeudung von Kompetenz, ihre Stimmen nicht zu hören und sie von der Öffentlichkeit abzuschotten.“

Tatsächlich gibt Neitzel de facto selbst zu, dass die „Eigenarten“ der deutschen Generäle immer noch die gleichen sind wie am Vorabend des Ersten und Zweiten Weltkriegs. Es geht um Aufrüstung und Vorbereitung auf Krieg!

Neitzel klagt: „Diese Armee ist ein Schatten ihrer selbst, was man gerade auch von ausländischen Militärs hinter vorgehaltener Hand immer wieder hört. Allenfalls für kleinere Ausbildungs- und Stabilisierungsmissionen und eine Machtdemonstration reicht es noch - solange alles ruhig bleibt und keine ernsthaften Gefechte zu bestehen sind. Acht bis zehn Jahre wird es wohl dauern bis die Bundeswehr selbst bei steigendem Wehretat wieder über einsatzbereite Großverbände verfügt.“

Niemand sollte diese Worte unterschätzen. Es besteht kein Zweifel daran, dass Neitzels Kommentar mit den höchsten Kreisen in Politik und Militär abgestimmt ist, die seit langem fieberhaft daran arbeiten, Deutschland trotz des massiven Widerstands in der Bevölkerung wieder zur führenden Militärmacht Europas zu machen.

Neitzel spielt dabei eine zentrale Rolle. In den Jahren 2015 und 2016 arbeitete er das neue Weißbuch 2016 der Bundeswehr mit aus, die offizielle außenpolitische Doktrin Deutschlands, die mehr Auslandseinsätze und den Einsatz der Bundeswehr im Innern vorsieht. Der von ihm betreute Studiengang „War and conflict studies“ an der Universität Potsdam beruht auf einer direkten Zusammenarbeit mit dem Zentrum für Militärgeschichte und Sozialwissenschaften der Bundeswehr (ZSMBw).

In seiner Funktion als „Historiker“ spielt Neitzel eine ähnliche Rolle wie die beiden Humboldt-Professoren Herfried Münkler und Jörg Baberowski. Wie sie arbeitet Neitzel systematisch daran, die Geschichte des Ersten und Zweiten Weltkriegs umzuschreiben, um die Verbrechen des deutschen Imperialismus reinzuwaschen und neue Kriege und Verbrechen vorzubereiten.

Bezeichnenderweise war Neitzel Anfang 2014 der Mitautor eines Artikels in der Welt mit dem Titel, „Warum Deutschland nicht allein Schuld ist“, der den Historiker Fritz Fischer (1908-1999) heftig angriff und behauptete, dass die deutsche Führung, „getrieben von Abstiegsängsten und Einkreisungssorgen“ vor allem ein „defensive[s] Ziel“ verfolgt hätte. Fischer hatte in seinem bekanntesten Werk „Griff nach der Weltmacht“ die deutsche Verantwortung für den Ersten Weltkrieg und die Kontinuität der deutschen Kriegsziele im Ersten und im Zweiten Weltkrieg aufgezeigt.

Auch an der Kampagne zur Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus ist Neitzel beteiligt. Zum 75. Jahrestag des Überfalls der Wehrmacht auf die Sowjetunion trat er gemeinsam mit Baberowski im öffentlich rechtlichen Fernsehen auf, um die historische Tatsache in Frage zu stellen, dass der Ostfeldzug ein geplanter Vernichtungskrieg war. Als er vom Moderator der Diskussion gefragt wurde: „War das der Vollzug von Hitlers lang gehegtem Plan von Lebensraum nach Osten, oder reagierte er vor allen Dingen auf die Kriegslage?“, antwortete Neitzel: „Ein Stück weit war es beides. Es ist immer die Frage, ob wir wirklich daran glauben, dass Hitler einen Plan hatte.“

Heute geht Neitzel noch einen Schritt weiter und verharmlost den Nazi-Führer selbst. Vergleichbar mit Donald Trumps Pressesprecher Sean Spicer, ließ er sich vor wenigen Tagen in einem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung zur monströsen Aussage hinreißen, Adolf Hitler habe im Krieg kein Giftgas eingesetzt. „International geächtet seit dem Genfer Protokoll von 1925, setzte es selbst Hitler im Zweiten Weltkrieg nicht ein, obgleich seine Arsenale unter anderem mit dem Nervengas Sarin prall gefüllt waren“, schrieb er.

Während Spicer international heftig kritisiert wurde, störte sich niemand in Medien und Politik an Neitzels Kommentar. Genauso wenig stieß sein im Kern grundgesetzwidriger Appell an die Generalität auf Kritik. Im Gegenteil: Die gleichen politischen Kreise, die seit mehr als drei Jahren hinter dem Rücken der Bevölkerung die Rückkehr des deutschen Militarismus planen, versuchen nun verzweifelt den wachsenden Widerstand dagegen zu unterdrücken.

An der Berliner Humboldt-Universität hat das Präsidium die Kritik an den militaristischen und geschichtsrevisionistischen Positionen von Neitzels Kollegen Münkler und Baberowski für „inakzeptabel“ erklärt. Die amtierende Präsidentin der Humboldt-Universität ist dabei keine andere als die SPD-Politikerin Sabine Kunst, die Neitzel 2015 als damalige Wissenschaftsministerin in Brandenburg zum Professor für Militärgeschichte/Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam ernannt hat.

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