Diese Woche in der Russischen Revolution

6.–12. November: Bolschewiki erobern in Petrograd die Macht

Kerenskis letzter, verzweifelter Versuch, die bolschewistische Partei zu zerschlagen, führt nur noch zum Zusammenbruch der Regierungsautorität. Zu Beginn des Sowjetkongresses befindet sich Petrograd bereits fest in der Hand der Bolschewiki. Die neue, aus Bolschewiki gebildete Regierung verabschiedet zügig weitreichende Dekrete über Frieden, Land, Bildung und den Achtstundentag.

Petrograd, 6.–7. November (24.–25. Oktober): Bolschewiki reagieren auf Angriff der Regierung und übernehmen die Macht

Panzerkreuzer „Aurora“

In der Nacht vom 6. auf den 7. November wird der Bolschewik Georgi Oppokow („Lomow“) vom Dauerklingeln des Telefons geweckt. Es ist bitter kalt und Mitternacht ist lange vorbei. Lomow wartet einen Moment, ehe er die Decke aufschlägt und zum Telefon eilt. Am Apparat ist Trotzki. Von ihm erfährt Lomow, dass Kerenski Befehl gegeben hat, die bolschewistischen Führer zu verhaften. Regierungskräfte haben bolschewistische Druckereien überfallen und Kerenski zieht loyale Armeeeinheiten in der Hauptstadt zusammen. „Kerenski greift an“, sagt Trotzki erregt. „Wir brauchen jeden Mann im Smolny!“

Im Smolny-Institut, dem Hauptquartier des Militärischen Revolutionskomitees, versammeln sich rasch die bolschewistischen Führer, unter ihnen Trotzki, Lasimir, Swerdlow, Antonow, Podwoiski und Laschewitsch. Sie geben einen Dringlichkeitsbefehl an alle militärischen Einheiten heraus, den „Befehl Nummer eins“.

Der Petrograder Sowjet befindet sich in höchster Gefahr: Konterrevolutionäre Verschwörer haben in der Nacht versucht, Kadetten und Stoßtrupps aus den Vororten nach Petrograd zu beordern. Die Zeitungen Soldat und Rabotschi Put sind stillgelegt worden. Ihr seid hiermit angewiesen, euer Regiment gefechtsbereit zu machen [und] weitere Anweisungen abzuwarten. Jegliche Verzögerung oder Beeinträchtigung der Ausführung dieser Anordnung wird als Verrat an der Revolution angesehen.

Als erstes ergeht Trotzkis Befehl an das Litowski-Regiment, für die Wiedereröffnung der Druckerei für die bolschewistische Zeitung Rabotschi Put (Arbeiterweg) zu sorgen. Dieses Regiment, das loyal zu den Bolschewiki steht, überwältigt rasch die regierungstreuen Milizionäre, erobert die Druckerei zurück und bricht die Regierungssiegel auf. Damit kommt der Aufstand offiziell ins Rollen. Es ist der erste Test von vielen weiteren, die die bolschewistische Autorität in der Stadt bestätigen sollten.

Überall erhalten die Soldaten jetzt Befehle von zwei unterschiedlichen Seiten. Einerseits kommen die Befehle von den Offizieren der Provisorischen Regierung, und andererseits vom Militärischen Revolutionskomitee. Aber alle Bemühungen der Bolschewiki in den letzten Tagen haben gezeigt, dass breite Schichten der Soldaten und Arbeiter loyal zum Militärischen Revolutionskomitee stehen. Überall erklären die Soldaten, dass Befehle, die nicht die Unterschrift des Militärischen Revolutionskomitees tragen, ungültig sind und nicht befolgt werden.

Der Kreuzer „Aurora“, der bald zum Symbol der Oktoberrevolution werden sollte, erhält Befehl von der Provisorischen Regierung, ins offene Meer hinaus zu fahren. Dem widerspricht rasch ein Befehl des Militärischen Revolutionskomitees, der Kreuzer müsse bleiben und sich zum Kampf gegen die Konterrevolution bereithalten. Begeistert führt die „Aurora“ letzteren Befehl aus. Trotzki wird später schreiben: „Die ‚Aurora‘ auf der Newa bedeutete nicht nur eine vorzügliche Kampfeinheit im Dienste des Aufstandes, sondern war auch gerüstet für die Arbeit einer Radiostation.“ Ein „unschätzbarer Vorzug“, kommentiert Trotzki.

Das Regime von „Blut und Eisen“ unter Führung des „Oberhauptes“ Alexander Kerenski erweist sich als vollkommen machtlos. Die Bevölkerung von Petrograd ignoriert weitgehend seine Befehle und Dekrete. Praktisch auf jedem Feld, auf dem die Regierung die Bolschewiki herausfordert, ergibt die Konfrontation eine Erweiterung der Autorität der Bolschewiki und den Zusammenbruch der Regierungskontrolle.

Im ganzen Verlauf des 7. November nehmen die Bolschewiki und ihre Anhänger in der Stadt eine strategische Position nach der andern ein. Einer Versammlung des Zentralkomitees und von Delegierten des Sowjetkongresses erklärt Trotzki, er gehe von einem Sieg ohne Blutvergießen aus. Er erhält stehenden Applaus. Den Bolschewiki und ihren Anhängern war es gelungen, fast ganz Petrograd einzunehmen, ohne einen Schuss abzufeuern.

Der „gemäßigte“ Flügel der bolschewistischen Führung kritisiert Trotzkis Schritte. Seine Wortführer sind Kamenew und Rjasanow, die der Meinung sind, die Bolschewiki hätten den Bogen überspannt.

Lenin, der vom Zentralkomitee angewiesen wurde, sich versteckt zu halten, kommt mehr und mehr zur Überzeugung, dass seine Anwesenheit im Smolny nötig ist, um den Widerstand des Kamenew-Flügels zu überwinden. „Die Regierung wankt“, schreibt er. „Man muss ihr den Rest geben, koste es, was es wolle! Eine Verzögerung der Aktion bedeutet den Tod.“

In Verkleidung macht sich Lenin auf den Weg zum Smolny. Er entgeht knapp einer Kadetten-Patrouille (und damit in der aktuellen Lage dem sicheren Tod). Im Smolny angekommen, sucht Lenin das bolschewistische Zentralkomitee auf und gerät in eine Diskussion über die künftige Personalliste für die neue Regierung. Keiner der Anwesenden möchte weiter den Begriff „Provisorische Regierung“ oder „Minister“ verwenden. So schlägt Trotzki vor, die neuen Minister „Volkskommissare“ zu nennen. Lenin stimmt zu und sagt, der Ausdruck „riecht nach Revolution“. Er fügt hinzu, demnach könne man die bolschewistische Regierung „Rat der Volkskommissare“ nennen. In diesen Diskussionen beginnt die neue Regierung, Form anzunehmen.

In seiner „Geschichte der Russischen Revolution“ schreibt Trotzki: „Es gab in der Geschichte kein Beispiel einer revolutionären Bewegung, an der so gewaltige Massen beteiligt gewesen wären und die so unblutig verlief.“

Flandern, 6. November: An der Westfront erobern kanadische Truppen das Dorf Passendale

Kanadische Pioniere während der dritten Flandernschlacht beim Verlegen von Holzplanken

In der zweiten Schlacht von Passendale erobern kanadische Soldaten das Dorf Passendale (auch Passchendaele) von den deutschen Verteidigern. Der blutige Vormarsch von wenigen hundert Metern kostet auf beiden Seiten tausende Opfer. Drei Monate zuvor haben britische und alliierte Kräfte die Dritte Flandernschlacht eröffnet, deren erstes Ziel die Einnahme von Passendale war.

Die kanadische Offensive wird seit dem 26. Oktober in drei Stufen geführt. Zwei Wochen zuvor haben australische und neuseeländische Kräfte schon schreckliche Verluste erlitten, als sie vergeblich versuchten, das Dorf einzunehmen. Heftige Regenfälle erschweren die Operationen und verwandeln das Gelände in einen Sumpf. Berichten zufolge werden Soldaten, die auf dem Weg zur Front auf den schmalen Holzplanken ausgleiten, vom Gewicht ihrer eigenen Ausrüstung in Sumpflöcher gezogen, wo sie ertrinken.

Das kanadische Corps erleidet ungewöhnlich hohe Verluste. Vom 26. Oktober bis zum 9. November verliert es 15.654 Männer. Die britische Fünfte Armee verliert 14.219 Männer, und die Zweite Armee 29.454. Die Deutschen verlieren vom 21. bis zum 31. Oktober 20.500 und vom 1. bis zum 10. November noch einmal 9.500 Männer.

Die britischen und kanadischen Kräfte verfehlen ihr taktisches Ziel, höher gelegenes Gelände im Norden von Passendale einzunehmen. Die katastrophale Niederlage der Italiener in der Schlacht von Caporetto macht jede Aussicht auf weitere Angriffe zunichte, denn sie zwingt die britischen und französischen Befehlshaber, vom 10. November bis zum 12. Dezember zwölf Divisionen an die italienische Front zu verlegen.

Die Einnahme von Passendale beendet größere Kampfhandlungen im Rahmen der dritten Flandernschlacht. Alleine die Erwähnung des Dorfes wird später zum Synonym für das sinnlose Abschlachten von hunderttausenden jungen Männern auf beiden Seiten ohne nennenswerte Geländegewinne.

Petrograd, 7. November (25. Oktober): Bei Eröffnung des Sowjetkongresses ist Petrograd in der Hand der Bolschewiki

Matrosen von Kronstadt, 1917

Am frühen Morgen erheben sich die Matrosen der baltischen Flotte, einer bolschewistischen Hochburg. Im Morgengrauen befindet sich eine Marineflotille, bestehend aus fünf schwer bewaffneten Zerstörern, mit Volldampf auf dem Weg nach Petrograd. Die vorausfahrende Samson trägt ein Banner mit den Losungen „Nieder mit der Koalition! Lang lebe der Gesamtrussische Sowjetkongress! Alle Macht den Sowjets!“

Am frühen Vormittag dieses 7. Novembers sind ganze Kolonnen bolschewistischer Matrosen, in schwarze Wollmäntel gehüllt, mit Gewehren über der Schulter und Patronenbeuteln am Gürtel, in den Straßen der Hauptstadt zu sehen, wo sie überall Position beziehen. Sobald die Besatzung der „Aurora“ die Matrosen von Kronstadt zu sehen bekommt, werfen die revolutionären Matrosen auf beiden Seiten zum Gruß ihre Mützen in die Luft.

Bei einer Sitzung des Petrograder Sowjets proklamiert Trotzki unter donnerndem Applaus: „Ich erkläre, dass die Provisorische Regierung nicht mehr existiert!“ Während er noch spricht, erscheint Lenin im Saal. Die Delegierten springen hoch und jubeln noch lauter als zuvor. Trotzki ruft: „Lang lebe Genosse Lenin, der wieder bei uns ist!“ Nun stehen Trotzki und Lenin Seite an Seite am Rednerpult, während sich die Oktoberrevolution um sie herum entfaltet.

Der verzweifelte Kerenski hat Kornilow zum Kabinettsführer ernannt. Er setzt seine letzte Hoffnung auf konterrevolutionäre Truppen außerhalb Petrograds, die er gegen die Bolschewiki einsetzen will. Die amerikanische Botschaft unterstützt sein Unterfangen. Das ganze Jahr über hat Kerenski Lenin wegen dessen Reise in einem deutschen Zug immer wieder als „deutschen Agenten“ beschimpft. Jetzt lässt er sich selbst in einem Renault der amerikanischen Botschaft mit gut sichtbarem USA-Wimpel aus Petrograd herausbringen. Kerenski ist jedoch nicht in der Lage, eine nennenswerte Zahl von Soldaten als Unterstützer zu gewinnen.

Beim Sowjetkongress begrüßt Lunatscharski im Namen der Bolschewiki die Teilnahme anderer Parteien an der neuen Regierung. Aber viele Vertreter der anderen Parteien, hauptsächlich der Menschewiki und Sozialrevolutionäre, verlassen den Kongress und distanzieren sich von den Aktionen der Bolschewiki.

Diese „Sozialisten“ waren bereit, als Minister unter Kerenski an einer kriegführenden, prokapitalistischen Diktatur teilzunehmen. Jetzt sind sie jedoch nicht bereit, in eine tatsächlich sozialistische Regierung einzutreten. Die Menschewiki und Sozialrevolutionäre beschuldigen die Bolschewiki der „Verschwörung“. Sie fordern, dass die Bolschewiki die Macht an die Provisorische Regierung zurückgeben und in eine Koalition mit den gleichen Kräften eintreten, die noch tags zuvor verlangt haben, dass die Bolschewiki ins Gefängnis geworfen werden. Darauf antwortet Trotzki im Namen der Bolschewiki mit seiner berühmten Erklärung:

Eine Erhebung der Volksmassen bedarf keiner Rechtfertigung. Was sich ereignet hat, ist ein Aufstand, keine Verschwörung. Wir haben die revolutionäre Energie der Petersburger Arbeiter und Soldaten gestählt. Wir haben offen den Willen der Massen zum Aufstand, nicht zu einer Verschwörung geschmiedet. Die Volksmassen sind unserem Banner gefolgt, und unser Aufstand war erfolgreich. Und jetzt schlägt man uns vor: Verzichtet auf euren Sieg, macht Zugeständnisse, geht eine Verständigung ein. Mit wem? Ich frage: Mit wem sollten wir eine Verständigung eingehen? Mit jenen kläglichen Häuflein, die davon gelaufen sind oder diesen Vorschlag machen? Aber wir haben sie ja schon in all ihrer Größe gesehen. Niemand in Russland steht mehr hinter ihnen … Nein, hier ist eine Verständigung nicht am Platz! Jenen, die weggegangen sind, und jenen, die uns dies vorschlagen, müssen wir antworten: Ihr seid armselige Einzelkämpfer, ihr seid Bankrotteure, eure Rolle ist ausgespielt; geht dorthin, wohin ihr von nun an gehört: auf den Müllhaufen der Geschichte!

Während die menschewistischen und sozialrevolutionären Delegierten den Sowjetkongress wütend verlassen, verabschieden die verbliebenen Delegierten eine Resolution: „Der Rückzug der Kompromissler schwächt die Sowjets nicht, sondern stärkt sie, da er die Arbeiter- und Bauernrevolution von konterrevolutionären Einflüssen säubert … Nieder mit den Kompromisslern! Nieder mit den Dienern der Bourgeoisie! Es lebe die siegreiche Erhebung der Soldaten, Arbeiter und Bauern!“

John Reed erinnert sich, wie er Zeuge einer Menge von drei- oder vierhundert elegant gekleideten Stadtbürgern wird, die in der Nacht zum Winterpalast marschieren, um die Kerenski-Regierung zu unterstützen. Bolschewistische Matrosen, die den Newski absperren, halten sie auf. „Wir verlangen, durchgelassen zu werden“, schreit die Menge. Ein Matrose sagt ihnen ruhig, er werde sie nicht durchlassen. Da kommt ein anderer Matrose hinzu, und mit folgenden Worten beendet er diesen Umzug:

„Wir werden euch das Fell versohlen“, schrie er grob. „Und wenn nötig, werden wir euch zusammenschießen. Jetzt marsch nach Hause und lasst uns in Frieden.“

Während spätere Darstellungen der Oktoberrevolution die Einnahme des Winterpalastes im Sturm darstellen, ist es in Wirklichkeit so, dass die desorganisierten und demoralisierten Verteidigungskräfte sich bei der Einnahme durch die Bolschewiki von selbst zerstreuen. Als die Kräfte unter Führung der Bolschewiki schließlich in den Raum eindringen, wo die Provisorische Regierung um den Tisch herum sitzt, fragen die Minister: „Dies ist die Provisorische Regierung. Was wollen Sie?“ Der Bolschewik Antonow antwortet: „Sie sind alle verhaftet.“

Antonow sorgt dafür, dass die Namen aller Anwesenden aufgenommen werden, und lässt die Minister verhaften. Als ein Soldat auf der Seite der Bolschewiki schreit: „Schlachtet all diese Hundesöhne auf der Stelle mit euren Bajonetten ab“, hält ihn Antonow zurück. Mit fester Stimme sagt er, die Mitglieder der Provisorischen Regierung seien festgenommen, und fügt hinzu: „Ich dulde keine Gewalt gegen sie.“ Damit endet die Provisorische Regierung.

(Quelle: Alexander Rabinowitch, „Die Sowjetmacht. Die Revolution der Bolschewiki 1917“, Essen 2012, S. 365–440)

Petrograd, 8. November (26. Oktober): Sowjetkongress erlässt Dekret über den Frieden

Das Friedensdekret

Als erste Maßnahme nach der Machteroberung beschließt der Gesamtrussische Sowjetkongress der Arbeiter-, Soldaten und Bauerndeputierten das Dekret über den Frieden. Das Dekret aus Lenins Feder, das er selbst dem Kongress vorlegt, schlägt allen kriegführenden Ländern vor, sofortige Friedensverhandlungen ohne Annexionen und Entschädigungen aufzunehmen. Die Frage des Friedens sei, schreibt Lenin in der Einführung, „die aktuellste, die alle bewegende Frage der Gegenwart“.

Nach dem Beschluss über das Friedensdekret schließt Lenin seinen Bericht mit folgenden Worten ab:

Unser Aufruf muss sowohl an die Regierungen als auch an die Völker gerichtet werden. Wir können die Regierungen nicht ignorieren, denn das würde die Möglichkeit des Friedensschlusses hinauszögern, das aber darf eine Volksregierung nicht zulassen. Wir haben jedoch nicht das geringste Recht, uns nicht auch zugleich an die Völker zu wenden. Überall bestehen Gegensätze zwischen Regierungen und Völkern, und deshalb müssen wir den Völkern helfen, in die Fragen des Krieges und des Friedens einzugreifen …

Mit dem Vorschlag, unverzüglich einen Waffenstillstand zu schließen, wenden wir uns zugleich an die klassenbewussten Arbeiter jener Länder, die für die Entwicklung der proletarischen Bewegung viel getan haben. Wir wenden uns an die Arbeiter Englands, wo es die Chartistenbewegung gegeben hat, an die Arbeiter Frankreichs, die wiederholt in Aufständen die ganze Stärke ihres Klassenbewusstseins bewiesen haben, und an die Arbeiter Deutschlands, die den Kampf gegen das Sozialistengesetz bestanden und mächtige Organisationen geschaffen haben … Die Regierungen und die Bourgeoisie werden alles daran setzen, um sich zu vereinen und die Arbeiter- und Bauernrevolution in Blut zu ersticken. Aber drei Kriegsjahre haben die Massen genügend belehrt. Wir sehen eine Sowjetbewegung in anderen Ländern, wir sehen den Aufstand in der deutschen Flotte, der von den Schergen des Henkers Wilhelm niedergeworfen wurde. Und schließlich dürfen wir nicht vergessen, dass wir nicht im tiefen Afrika leben, sondern in Europa, wo alles schnell bekannt wird.

Die Arbeiterbewegung wird die Oberhand gewinnen und dem Frieden und dem Sozialismus den Weg bahnen.

Filmausschnitt aus „Vom Zar zu Lenin“ zeigt „Verbrüderung mit dem Feind“

Stehender Applaus folgt auf Lenins Rede, und die Delegierten singen die „Internationale“, ehe sie zum nächsten Tagesordnungspunkt übergehen. Das Dekret wird rasch in der Zeitung des Petrograder Sowjets, der „Iswestija“, publiziert, und sein Inhalt wird im Radio bekanntgegeben. Wie auch das Dekret über den Grund und Boden wird das Dekret über den Frieden in Form einer kleinen Broschüre im ganzen Land verteilt.

Das Dekret der bolschewistischen Regierung lässt die ganze Welt erzittern. Die Regierungen der kriegführenden Länder, die die Revolution in Petrograd schockiert und fassungslos verfolgen, reagieren nicht auf den Friedensvorschlag. Aber die Kämpfe an der Ostfront werden sofort eingestellt, und die russischen Soldaten verlassen die Front in Massen und kehren nach Hause zurück.

Petrograd, 8. November (26. Oktober): Sowjetkongress erlässt Dekret über den Grund und Boden

Dekret über den Grund und Boden, publiziert in Iswestija, Organ des Petrograder Sowjets

Unmittelbar nach dem Dekret über den Frieden diskutiert der Kongress das Dekret über den Grund und Boden, das ebenfalls von Lenin stammt. Gleich nach der Frage des Friedens ist die Agrarfrage die brennendste Frage der Revolution. Zehn Millionen Bauern und Bauernsoldaten sehnen sich nach der Enteignung der reichen Gutsbesitzer und möchten ihr eigenes Stück Land bebauen. Das ganze Jahr über, besonders im Sommer und Frühherbst 1917, haben Bauern im ganzen Land Grundstücke besetzt und Gremien der lokalen Selbstverwaltung gegründet.

Das Dekret schafft das Privateigentum an Grund und Boden ab. Alle Gutsbesitzer werden entschädigungslos enteignet. Die Landsitze und zahlreichen Ländereien der Zarenfamilie und der Kirche werden bis zur Konstituierenden Versammlung den neu entstanden Landkomitees und den lokalen Sowjets der Bauerndeputierten unterstellt. Aller Grund und Boden geht in die Hände derjenigen über, die ihn bebauen.

Mehrere Passagen des Dekrets sind von Mitgliedern der Sozialrevolutionären Partei entworfen worden. In wichtigen Punkten übernimmt das Dekret das Agrarprogramm der Sozialrevolutionäre, die viele Jahre lang die Vergesellschaftung des Bodens und die entschädigungslose Enteignung der Grundbesitzer proklamiert haben. Die Sozialrevolutionäre haben es jedoch während der ganzen Zeit, in der sie in der Provisorischen Regierung den Agrarminister stellten, nicht geschafft, auch nur den geringsten Teil des Programms zu verwirklichen. So haben sie breite Schichten der Bauernschaft, die ihnen die Treue hielten, vor den Kopf gestoßen. Dennoch unterstützen auch jetzt noch viele Bauern die Sozialrevolutionäre.

Auf dem Kongress konfrontieren mehrere Delegierte Lenin damit, er habe wichtige Programmpunkte von den Sozialrevolutionären übernommen. Er antwortet:

Sei's drum. Es ist einerlei, von wem sie abgefasst worden sind; als demokratische Regierung können wir einen Beschluss der Volksmassen nicht umgehen, selbst wenn wir mit ihm nicht einverstanden wären … Die Bauern haben in den acht Monaten unserer Revolution manches gelernt, sie wollen selber alle Bodenfragen lösen. Deshalb sind wir gegen jede Abänderung dieses Gesetzentwurfs, wir wollen keine Detaillierung, weil wir ein Dekret und kein Aktionsprogramm schreiben. Russland ist groß, und die örtlichen Verhältnisse in Russland sind mannigfaltig. Wir glauben, dass die Bauernschaft selbst es besser als wir verstehen wird, die Frage richtig, so wie es notwendig ist, zu lösen. Ob in unserem Geiste oder im Geiste des Programms der Sozialrevolutionäre – das ist nicht das Wesentliche. Das Wesentliche ist, dass die Bauernschaft die feste Überzeugung gewinnt, dass es auf dem Lande keine Gutsbesitzer mehr gibt, dass es den Bauern selbst überlassen wird, alle Fragen zu entscheiden, selbst ihr Leben zu gestalten.

Nach einer Pause wird das Dekret ohne weitere Diskussion von einer überwältigenden Mehrheit der Delegierten angenommen.

Petrograd, 8. November (26. Oktober): Sowjetkongress ernennt neue Regierung

Der erste Sownarkom

Der Gesamtrussische Sowjetkongress schafft eine neue Regierung, den Rat der Volkskommissare (Sowjet Narodnych Komissarow, abgekürzt: Sownarkom). Diese Liste ausschließlich bolschewistischer Kommissare, die das Zentralkomitee in der Nacht zuvor entworfen hat, wird vom Kongress wie folgt bestätigt:

Mit der Leitung der verschiedenen staatlichen Aufgaben werden besondere Kommissionen betraut, deren Mitglieder sicherstellen werden, dass das Programm des Kongresses in enger Zusammenarbeit mit den Massenorganisationen der Arbeiter, Soldaten, Matrosen, Bauern und Angestellten verwirklicht wird. Die Regierungsmacht ist in den Händen eines Kollegiums konzentriert, das aus den Vorsitzenden dieser Kommissionen, d.h. dem Rat der Volkskommissare, besteht.

Die Kontrolle über die Tätigkeit der Volkskommissare und das Recht auf Abberufung hat der Allrussische Sowjetkongress der Arbeiter-, Soldaten und Bauerndeputierten und sein Zentrales Exekutivkomitee.

Für den aktuellen Rat der Volkskommissare sind folgende Personen vorgesehen: als Ratspräsident: Wladimir Uljanow (Lenin), als Kommissar des Innern: A.I. Rykow, als Kommissar für Landwirtschaft: W.P. Miljutin, als Arbeitskommissar: A.G. Schljapnikow, für das Kriegs- und Marineamt: ein Komitee bestehend aus W.A. Antonow-Owssejenko, N.W. Krylenko und P.E. Dybenko, Handels- und Industriekommissar: V.P. Nogin, Kommissar für Volksbildung: A.W. Lunatscharski, Finanzkommissar: I.I. Skorzow (Stepanow), Kommissar für Auswärtiges: L.D. Bronstein (Trotzki), Justizkommissar: G.I. Oppokow (Lomow), Kommissar für Ernährung: I.A. Teodorowitsch, Kommissar für Post und Telegrafenwesen: N.P. Awilow (Glebow), Vorsitzender der Nationalitätenkommission: J.W. Dschugaschwili (Stalin), Kommissar für Verkehrswesen: bisher unbesetzt.

(Quelle: „Decrees of the Soviet Government“, Moskau 1957, Bd. I, S. 20–21, aus dem Englischen)

New York, 9. November: Die Times reagiert auf die Machteroberung der Bolschewiki

Schlagzeilen der New York Times

In mehreren Artikeln und Kommentaren reagiert die New York Times, die führende Stimme des amerikanischen Liberalismus, auf die Machteroberung der Bolschewiki mit einer Mischung aus Zorn, Verwirrung, Furcht, Verzweiflung und Unglauben.

Die konsequenteste (und blutrünstigste) Reaktion findet sich in einem Leitartikel vom 9. November unter der Unterschrift „Der russische Umsturz“. Darin wird Kerenski verurteilt, weil er „Blutvergießen“ vermieden und nicht schon viel früher „bis zum Tode“ gegen die „Anarchie“ gekämpft habe. Die Times schreibt: „Nehmen wir an, Kerenski hätte den Delegierten des Arbeiter und Soldatenrats von Anfang an mit Gewalt gedroht … Es hätte sicher Blutvergießen gegeben. Es hätte einen Machtkampf gegeben … Alles, worum die Anarchie gebeten hat, war Zeit und Kerenski gab sie ihr zur Genüge … Er hat die Bolschewiki nicht verboten und sich nicht die Armee gewandt …“

9.–11. November (27.–29. Oktober): Sownarkom verabschiedet Dekret über Bildung, Presse und Achtstundentag

Anatoli Lunatscharski

Am 11. November wird das Dekret des neuen Volkskommissars Anatoli Lunatscharski über die Volksbildung verabschiedet.

Unser Ideal ist die gleiche und bestmögliche Bildung für alle Bürger … Eine wirklich demokratische Organisation der Bildung ist natürlich besonders schwer in einem Land zu verwirklichen, das ein langer, krimineller imperialistischster Krieg verarmt hat. Aber die arbeitende Bevölkerung, die die Macht erobert hat, kann die Tatsache natürlich keinesfalls außer Acht lassen, dass Wissen sich als stärkste Waffe im Kampf für ein besseres Leben und für seine intellektuelle Entwicklung erweisen wird. Wie sehr andere Haushaltsposten auch gekürzt werden mögen, die Ausgaben für die Bildung müssen hoch sein … Der Kampf gegen Analphabetentum und Unwissenheit darf nicht nur auf die Allgemeinbildung für Kinder und Jugendliche beschränkt bleiben … Auch Erwachsene wollen aus dem niederen Stand derjenigen befreit werden, die nicht lesen und schreiben können. Schulen für Erwachsene müssen in dem Plan für Volksbildung großen Raum einnehmen … Überall in Russland, vor allem in den Städten, aber auch unter den Bauern, wächst ein großes Streben nach kultureller Bildung heran, überall sprießen Arbeiter- und Soldatenorganisationen hervor, die sich dieser Aufgabe widmen und alles tun werden, sie in jeder Weise zu unterstützen. Das ist die wichtigste Aufgabe einer revolutionären Volksregierung in der Sphäre der Volksbildung.

Weiter heißt es in dem Dekret: „Das ganze Schulsystem muss auf die Organe der örtlichen Selbstverwaltung übertragen werden.“ Ein besonderes Kapitel befasst sich mit dem „Lehrer in der Gesellschaft“.

Auf dem Gebiet der Volksbildung darf keine Entscheidung getroffen werden, ohne genau auf die Meinung der Bildungspraktiker zu hören. Auf der anderen Seite sollten Entscheidungen nicht nur von Spezialisten getroffen werden … Die Zusammenarbeit der Pädagogen mit den gesellschaftlichen Kräften: das ist es, wonach die Kommission aufgrund ihrer Zusammensetzung innerhalb des Staatskomitees sowie im Rahmen ihrer allgemeinen Tätigkeit streben wird.

Das Dekret schlägt einen Mindestlohn für die ärmsten russischen Lehrer, die Grundschullehrer, vor. Es heißt dort: „Es wäre eine Schande, wenn die Lehrer der großen Mehrheit der russischen Kinder in Armut leben müssten.“

Wie die anderen Regierungsdekrete wird auch dieses Dekret als provisorisch, bis zur Einberufung der Konstituierenden Versammlung, betrachtet.

Am gleichen Tag gibt der Sownarkom das Dekret zum Achtstundentag und zur Dauer und Verteilung der Arbeitszeit heraus. Das Dekret begrenzt die reguläre Arbeitszeit auf acht Stunden am Tag und erlässt klare Bestimmungen für Pausen und Überstunden. So festigt und erweitert der Sownarkom Errungenschaften der Arbeiterklasse, die in vielen Fällen schon in dem revolutionären Jahr, gestützt vor allem auf die Fabrikkomitees, erkämpft worden sind.

Am 9. November, (27. Oktober) hat der Sownarkom schon Maßnahmen ergriffen, um die konterrevolutionären Zeitungen zu schließen. „Sofort erhob sich von allen Seiten ein großes Wehgeschrei, dass die neue sozialistische Macht ein grundlegendes Prinzip ihres Programms verletze, weil sie sich an der Pressefreiheit vergreife“, schreibt der Sownarkom in seinem Dekret an diesem Tag. „Die Arbeiter- und Bauernregierung erinnert die Bevölkerung an die Tatsache, dass diese liberale Fassade in Wirklichkeit die Freiheit der besitzenden Klassen verteidigt. Diese besitzen den Löwenanteil an der gesamten Presse, und sie vergiften die Köpfe ungehindert und verdunkeln das Bewusstsein der Massen … Sobald die neue Ordnung sich konsolidiert hat, wird der administrative Druck auf die Presse aufhören, und sie wird im Rahmen ihrer juristischen Verantwortung die größte Freiheit genießen, gestützt auf ein Gesetz, welches das weitestgehende und progressivste auf diesem Gebiet sein wird.“

(Quelle: „Decrees of the Soviet Government”, Moskau 1957, Bd. I, S. 24–25, aus dem Englischen)

Luckau, 11. November: Karl Liebknecht feiert bolschewistische Machtübernahme

Karl Liebknecht

Der deutsche Revolutionär Karl Liebknecht, der seit Dezember 1916 den schweren Haftbedingungen des Zuchthauses Luckau südöstlich von Berlin ausgesetzt ist, erhält dort nur spärliche und zensierte Nachrichtenmeldungen von der Machteroberung der Bolschewiki in Russland. Dennoch erfasst er sofort den welthistorischen Charakter der Ereignisse. An seine Frau Sophie schreibt er:

Die Zeitungen konnte ich erst ganz oberflächlich ansehen. Der ungeheure Prozess der sozialen und wirtschaftlichen Revolutionierung Russlands vom Bodensatz bis zum Schaum, dessen Ausdruck nur die politische – die Verfassungs- und Verwaltungsrevolutionierung ist, steht nicht am Abschluss, sondern im Beginn, vor unbegrenzten Möglichkeiten – weit größer, als die große französische Revolution; die Spannung zwischen dem Gewesenen und dem jetzt Erstrebten und Möglichen ist größer; ebenso die Spannung zwischen dem Niveau, den Bedürfnissen und Möglichkeiten in den verschiedenen kulturell so sehr differierenden Gebieten und Volksteilen; und vor allem die Spannung zwischen der Lage, den Bedürfnissen und Zielen der verschiedenen Schichten und Klassen in den kulturell und wirtschaftlich entwickeltsten Gebieten und Volksteilen. Die soziale Revolution, deren Gefahr in Deutschland die bürgerliche Revolution verkrüppelte, scheint in Russland schon stärker als die bürgerliche Revolution, wenigstens zeitweilig, wenigstens in den konzentriertesten Zentren Russlands. Freilich steht der russische Kapitalismus nicht allein, der englisch-französisch-amerikanische stützt ihn. Ein Problem, für das eine provisorische Teillösung in der Kriegsfrage zu gewinnen schon Titanenarbeit fordert. Was ich über diese Vorgänge erfahre, ist so sporadisch, so zufällig, so äußerlich, dass ich mich mit Konjekturen begnügen muss. Nirgends empfinde ich die Abgeschnittenheit meiner heutigen geistigen Lage so wie in der russischen Frage.

Ungeachtet seiner Isolation im Zuchthaus ist Karl Liebknecht als Kopf der mutigen und prinzipiellen sozialistischen Opposition gegen die kaiserliche Militärdiktatur und ihren imperialistischen Krieg der populärste Mann, besonders in den Schützengräben und in breiten, sich radikalisierenden Arbeiterschichten. „Was sagt Liebknecht dazu?“ ist in Diskussionen dort oft die erste Frage. Trotz der scharfen Überwachung und Zensur gelingt es, seine erste politische Stellungnahme zur Russischen Revolution als Kassiber nach draußen zu bringen. Über Sophie Liebknecht kommuniziert er mit seinen Genossen im Spartakusbund, die die Russische Revolution aus vollem Herzen begrüßen.

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