Fast drei Jahre nachdem die griechische Regierungspartei Syriza (Koalition der radikalen Linken) das überwältigende „Nein“ im Referendum über die Sparpolitik mit Füßen trat, holt sie erneut zum Schlag gegen die griechischen Arbeiter, Rentner und Jugendlichen aus.
Am Donnerstag stimmte das griechische Parlament für ein Gesetzespaket, das angeblich den Abschluss des sogenannten „Rettungsprogramms“ am 20. August einleiten soll. Tatsächlich ist es der Auftakt für weitere Sozialangriffe, die über die bisherigen Sparmaßnahmen noch hinausgehen.
Von 298 anwesenden Abgeordneten votierten alle 154 Vertreter der Regierungsparteien Syriza und Anel (Unabhängige Griechen) für das Paket, die Oppositionsparteien dagegen. Laut Handelsblatt muss Griechenland insgesamt „88 Reform- und Sparvorgaben“ umsetzen, die von den internationalen Geldgebern – der Troika aus Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfonds (IWF) – verlangt werden.
Unter die Maßnahmen fallen erneut Rentenkürzungen von bis zu 18 Prozent ab dem 1. Januar 2019. Zugleich werden die Rentenbeiträge erhöht. Die griechischen Rentner waren in den letzten Jahren von mindestens 23 Sparrunden betroffen. Mehrfach hatten sie gegen die Einschnitte protestiert und wurden von der Polizei mit Tränengas attackiert. Da aufgrund der dramatischen Arbeitslosigkeit mittlerweile ganze Familien auf eine sichere Rente der Eltern oder Großeltern angewiesen sind, treffen diese Kürzungen die ganze Gesellschaft.
Der Steuerfreibetrag wird ab dem 1. Januar 2020 von etwa 8.600 Euro im Jahr auf 5.700 (ledig) bis 6.600 (bei drei oder mehr Kindern) gesenkt. Das bedeutet, dass schon Arbeitnehmer oder Rentner, die gerademal ein Monatseinkommen von 500 Euro haben, Steuern zahlen müssen. 1,9 Milliarden sollen hierdurch eingespart werden. (Zum Vergleich: In Deutschland gilt ein Steuerfreibetrag von 9.000 Euro Jahreseinkommen.)
Die reduzierte Mehrwertsteuer, die bislang noch für fünf ägäische Inseln galt, weil diese von der Flüchtlingskrise am stärksten betroffen sind, wird zum 1. Juli aufgehoben. Davon erhofft sich Premierminister Alexis Tsipras Einnahmen von 32 Millionen Euro.
Zusätzlich ist in dem Sparpaket in einigen Regionen eine Anhebung der verhassten Immobiliensteuer „Enfia“ vorgesehen, deren Abschaffung Syriza vor der Regierungsübernahme immer lauthals gefordert hatte. Sie trifft zahlreiche Arbeiterfamilien, die jahrelang auf eine Eigentumswohnung gespart haben. Außerdem soll der Energiemarkt dereguliert werden.
Die umfassendste Maßnahme der Regierung sind jedoch die weitreichenden Garantien für die Kreditgeber, die in dem Gesetzespaket festgeschrieben werden. Wenn Griechenland in den nächsten Jahren eine oder mehrere Raten des riesigen Schuldenbergs von aktuell 180 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP) nicht zahlen kann, werden die Gläubiger direkt auf den Privatisierungsfonds zugreifen und selbstständig griechischen Staatsbesitz im Wert von bis zu 25 Milliarden Euro verkaufen, um das Geld einzutreiben. Damit belegt die Regierung im Grunde das eigene Land mit einer Hypothek und liefert es dem Gutdünken der Geldgeber aus.
Im Privatisierungsfonds Hellenic Corporation of Assets and Participations (HCAP), der 2016 eingerichtet wurde und mindestens 99 Jahre in Betrieb sein soll, liegen mittlerweile 70.000 Vermögenswerte und mindestens 14 öffentliche Unternehmen und Einrichtungen: die Athener Verkehrsbetriebe, das Athener Olympiastadion, die Post, die Wasserbetriebe Athens und Thessalonikis, der staatliche Stromversorger DEI, der Internationale Flughafen Athens, die Griechischen Salzwerke, nationale Unternehmens- und Industrieparks, das Unternehmen des Korinther Kanals, die Organisation der zentralen Märkte und Fischereien, der zentrale Markt Thessalonikis, die Internationale Messe Thessalonikis sowie die Duty Free Shops. Der Treuhandfonds wird de facto von den Kreditgebern kontrolliert; die Erlöse dienen vor allem der Schuldentilgung. HCAP und sein Vorgängerfonds TAIPED haben bereits zahlreiche Privatisierungen durchgeführt, von denen unter anderem deutsche Unternehmen wie die Fraport profitieren.
In ihrer mittelfristigen Finanzplanung, die zusammen mit dem Paket verabschiedet wurde, kündigt die Regierung Primärüberschüsse an, die sogar die internationalen Sparvorgaben von 3,5 Prozent des BIP noch übertreffen. Daraus sollen auch angebliche „Gegenmaßnahmen“ finanziert werden, die dann der arbeitenden Bevölkerung zugute kommen (u.a. eine Erhöhung des Mindestlohns). Das ist reine Augenwischerei und ein leicht durchschaubarer Propagandatrick, der dazu dient, die Austeritätspolitik zu verschleiern.
Selbst wenn die Maßnahmen umgesetzt würden, wären die von Syriza und den regierungstreuen Medien vollmundig angekündigten Zugeständnisse bloße Almosen in Anbetracht der massiven Sozialeinschnitte, die die Regierung im gleichem Atemzug verkündet. Und dass sie je umgesetzt werden, ist hochgradig unwahrscheinlich.Laut der griechischen Online-Zeitung ThePressProject würden sie erst 2021 und 2022 greifen, und zwar nur dann, wenn die hoch angesetzten Primärüberschüsse erreicht werden und die Geldgeber der Auffassung sind, dass genug finanzieller Spielraum vorhanden ist und das 3,5-Prozent-Ziel nicht gefährdet wird. Die Gläubiger können zudem aus dem Überschuss noch einen Sicherheitspuffer für die Rückzahlung der Schulden verlangen.
Premierminister Alexis Tsipras hielt am Donnerstag im Parlament eine Rede, die unterstrich, welche Interessen er und Syriza vertreten: nicht die der griechischen Arbeiter, sondern die des europäischen und internationalen Finanzkapitals.
„Wir haben unsere Verpflichtungen eingehalten, wir haben das Vertrauen in unser Land gegenüber den Institutionen wiederhergestellt,“ erklärte Tsipras. Seine Regierung habe ein Land übernommen, „in dem der durchschnittliche Grieche das Wort Reform mit dem Wort Kürzung gleichsetzte. Heute haben wir bedeutsame Strukturreformen von historischem Ausmaß auf den Weg gebracht, mutige Entscheidungen getroffen und befinden uns in den vorderen Reihen der Länder der OECD [Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung] mit dem wichtigsten Reformprogramm.“
Tsipras prahlte damit, dass er und die Syriza-Regierung „von allen in der EU beglückwünscht werden – vor allem von Kommissionschef Juncker!“ Alle würden anerkennen, dass Griechenland heute „kein Dauerproblem mehr ist, sondern Teil der Lösung“. Das „Ende der Krise“ sei auch ein „europäischer Erfolg“. Die Gläubiger belohnten Tsipras’ Spareifer prompt noch am selben Tag mit der Auszahlung einer Tranche von einer Milliarde Euro aus dem europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM). Klaus Regling, Direktor des ESM, gratulierte der Regierung für ihren Kurs.
Auch im Bereich der Außen- und Verteidigungspolitik ließ es sich Tsipras nicht nehmen, seine Regierung als treuen Vasallen des Imperialismus zu preisen: „Wir haben ein Land übernommen, dass international isoliert war, und heute stellt es seine internationale Führungsrolle wieder her – sowohl auf dem Balkan als auch in der instabilen Region Südosteuropas.“ Damit meint er offenbar das verstärkte Nato-Engagement und das Namensabkommen mit Mazedonien, das jetzt den Weg für den Beitritt des kleinen Balkanstaates in die EU und Nato freimacht.
Das Vorgehen der Regierung bei der Aushandlung und Durchsetzung des neuen Pakets folgte einem typischen Muster: Aus Angst vor dem Widerstand in der Bevölkerung wurde die Sparagenda trotz ihres Umfangs und der weitreichenden Implikationen kaum öffentlich diskutiert und im Eilverfahren durch die Gremien gejagt. Am Freitag – nur fünf Tage vor der Abstimmung – hatte Finanzminister Euklid Tsakalotos (Syriza) das 321-seitige Mammutpaket eingereicht.
Die Wut der Arbeiter gegen die erneute Sparrunde und Syriza, die in Umfragen mittlerweile bei unter 20 Prozent liegt, zeigte sich am Donnerstag in mehreren Streiks und Protesten. Die Gewerkschaften versuchen verzweifelt, den Widerstand unter Kontrolle zu halten. Ende Mai hatten sie bereits zu einem eintägigen Generalstreik aufgerufen, der genauso wenig Auswirkungen hatte, wie all die zahllosen Generalstreiks der letzten Jahre. Am Donnerstag riefen sie zu einer vierstündigen Arbeitsniederlegung im Öffentlichen Dienst und einer Demonstration im Zentrum von Athen auf, an der 3.000 Menschen teilnahmen. Außerdem streikte der gesamte Nahverkehr.
Die Taxi-Fahrer in Athen und Thessaloniki traten in einen 24-Stunden-Streik. Sie fürchten aufgrund einer Flexibilisierung der Mietwagen-Regeln um ihre Existenz. Autoverleihe dürfen ab dem 1. Juni auch für einfache Fahrten Wagen mit Fahrer vermieten, was auch Konzernen wie Uber die Tore öffnet. Bisher galt eine Mindestdauer von drei Stunden, um zu verhindern, dass eine Konkurrenz zu den Taxis entsteht. Laut Streik-Aufruf der Taxi-Gewerkschaft hatten die Gläubiger, insbesondere der IWF, eine Aufhebung der Regelung verlangt. Die Taxi-Fahrer drohen damit, den Streik solange zu verlängern, bis die Gesetzesänderung zurückgenommen wird.