Die Abschiebung mehrerer Flüchtlinge trotz entgegenstehender gerichtlicher Verbote ist eine ernste Warnung. In der bewussten Missachtung gerichtlicher Entscheidungen zeigt sich der Aufbau autoritärer Staatsstrukturen, der sich heute gegen die Schwächsten der Gesellschaft und morgen gegen die gesamte Arbeiterklasse richten wird.
Sami A., ein seit Jahren in Bochum lebender Tunesier, ist von den Behörden als „Gefährder“ und angeblicher früherer Leibwächter des getöteten Al-Quaida-Chefs Osama bin Laden geführt worden. Er bestreitet beides. Hierzu muss man wissen, dass die Kategorisierung als „Gefährder“ nicht einheitlich legal definiert ist und nicht voraussetzt, dass jemand nachgewiesenermaßen an Straftaten beteiligt war oder sie vorbereitet. Es genügt die Vermutung staatlicher Behörden, man könnte irgendwann schwere Straftaten begehen.
Aufgrund dessen sollte Sami A. nach Tunesien abgeschoben werden.
Dort droht ihm als Terrorverdächtigem Folter. Bislang konnte er daher nicht abgeschoben werden. Anfang Mai äußerte sich Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) direkt zu seinem Fall. „Wir werden alle Mittel einsetzen, um die Abschreckung gefährlicher Personen zu erreichen“, so Seehofer. „Ich glaube, seit 2007 läuft diese Angelegenheit. Wir müssen erreichen, dass diese Abschiebeverbote durch Gerichte aufhören“, sagte der Innenminister. „Mein Ziel ist es, diese Spirale aus Gerichtsentscheidungen zu durchbrechen.“
Was er damit meinte, wurde einige Wochen später deutlich. Mitte Juni wurde die Bundespolizei vom Land Nordrhein-Westfalen ersucht, die Abschiebung von Sami A. vorzubereiten. NRW wird von einer Koalition aus CDU und FDP regiert. Der FDP-Landesvorsitzende Joachim Stamp ist der zuständige Minister für Integration und Flüchtlinge.
Am 25. Juni kam Sami A. in Abschiebehaft. Plätze in einem Flug am 12. Juli wurden gebucht. Seine Anwältin stellte daraufhin einen Antrag auf Abschiebeschutz und teilte dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen mit, die Abschiebung sei für den 29. August geplant. Das Gericht bat daraufhin das BAMF (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, untersteht dem Bundesinnenministerium), „unverzüglich mitzuteilen“, falls eine frühere Abschiebung geplant sein sollte. Kurz danach wurden die Plätze im Linienflug am 12. Juli wieder storniert, die Bundespolizei soll dem NRW-Ministerium mitgeteilt haben, ein Charterflug am darauf folgenden 13. Juli sei möglich.
In einem parallelen Verfahren gegen den Widerruf eines bestehenden Abschiebeverbots wegen Foltergefahr in Tunesien entdeckte ein Richter in der Akte der Bochumer Ausländerbehörde einen Hinweis, für den Abend des 12. Juli sei die Abschiebung geplant. Das Gericht rief am 11.07. beim BAMF an und fordert eine Zusage abzugeben, bis zur Entscheidung über den Antrag nicht abzuschieben, ansonsten werde es einen vorläufigen Beschluss fassen, um bis zur Entscheidung über den Antrag keine vollendeten Tatsachen entstehen zu lassen.
Medienberichten zufolge ergibt sich dann folgender Ablauf der Ereignisse:
Am 12.07. vormittags übermittelte das BAMF eine Stellungnahme, in der letztlich erklärt wurde, eine solche Zusage sei nicht erforderlich, der Flug am Abend des 12.07. sei storniert worden – was man nur so verstehen kann, dass es bis zur Entscheidung ohnehin keine Abschiebung geben werde. Die Flugbuchung für den Morgen des 13.07. wurde mit keinem Wort erwähnt. Aufgrund dessen fasste das Gericht den angedrohten vorläufigen Beschluss nicht, sondern eine auf 22 Seiten ausführlich begründete Entscheidung, die am 13.07. gegen 8:15 Uhr per Fax bzw. elektronisch an die Prozessbeteiligten – Anwältin von Sami A., BAMF und Ausländerbehörde übermittelt wurde.
Auch auf der Website des Gerichts wird um kurz vor 8 Uhr eine Mitteilung über den Beschluss veröffentlicht. Da eine diplomatisch verbindliche Zusicherung der tunesischen Regierung fehle, dass Sami A. dort keine Folter drohe, dürfe er nicht abgeschoben werden. In der Nacht zum 13.07. um 3 Uhr wird Sami A. von der Landespolizei NRW zum Flughafen Düsseldorf gebracht, dort wird er von der Bundespolizei übernommen. Nach Angaben der Süddeutschen Zeitung bleibt es unklar, warum er nicht seine Anwältin informiert, deren Telefonnummer er hatte. Womöglich verweigerte ihm die Polizei den Anruf. Das Boulevardblatt Bild ist aber informiert und macht Fotos, als schließlich um kurz vor 7 Uhr das Flugzeug abhebt.
Um kurz vor 9 Uhr erfuhr Flüchtlingsminister Joachim Stamp nach eigener Aussage von der Abschiebung. Zu diesem Zeitpunkt war das Flugzeug mit Sami A. noch nicht in Tunis gelandet. Nach Auskunft der Bundespolizei hätte ein Funkspruch ausgereicht, um die Abschiebung zu stoppen. Der Pilot hätte die Maschine dann auftanken lassen und mit Sami A. nach Deutschland zurückkehren können.
Eine Sprecherin von Bundesinnenminister Seehofer teilte mit, es habe zwischen ihm, der Bundespolizei und den Behörden in NRW zu jedem Zeitpunkt einen engen Austausch gegeben. Später präzisierte sie, Seehofer habe schon am 11. Juli von der Bundespolizei gewusst, dass es Planungen für den Flug am 13. Juli gebe – also bevor sein BAMF durch Unterlassen dieser Angabe das Verwaltungsgericht in die Irre führte. Letzteres bestritt Seehofer selbst später, räumte aber ein, andere ihm Ministerium hätten den Termin womöglich gekannt.
Das BAMF selbst behauptet, keine Kenntnis von der geplanten Abschiebung am 13.07. gehabt zu haben, laut NRW-Flüchtlingsminister Stamp sei diese von der landeseigenen Zentralstelle für Flugabschiebungen in Zusammenarbeit mit der Bundespolizei erfolgt.
Klar ist bei alldem eines: Obwohl ein Gericht ein Abschiebeverbot eindeutig bestätigt hatte, wurde Sami A. nach diesem Beschluss gleichwohl abgeschoben. Die Abschiebung wurde zumindest nicht abgebrochen, obwohl dies möglich gewesen wäre, nachdem die zuständigen Ministerien Kenntnis von dem Abschiebeverbot hatten. Dass nicht schon früher ein vorläufiger Gerichtsbeschluss erlassen wurde, der die Abschiebung untersagte, war nur der Tatsache geschuldet, dass dem Gericht von den zuständigen Behörden Informationen vorenthalten wurden und es dadurch in die Irre geführt wurde.
Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen erklärte die Abschiebung am 13.07. für „grob rechtswidrig“. Sie „verletzt grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien“, so das Gericht. Deshalb sei Sami A. „unverzüglich auf Kosten der Ausländerbehörde in die Bundesrepublik Deutschland zurückzuholen“.
Wie zum Hohn wollen die Ausländerbehörde der Stadt Bochum und das Flüchtlingsministerium des Landes NRW hiergegen Beschwerde zum Oberverwaltungsgericht erheben. Währenddessen erklärte Tunesien, man werde Sami A. keinesfalls zurückschicken, es werde gegen ihn ermittelt. In Tunesien gilt seit den Terroranschlägen von 2015 der Ausnahmezustand.
Ilyas Saliba, Nordafrika-Experte der Menschenrechtsorganisation Amnesty International berichtet dem Handelsblatt von Foltermethoden wie Schlafentzug, Waterboarding, Stockschlägen oder Elektroschocks. „Das sind die gängigen Verhörmethoden der Antiterrorpolizei in Tunesien“, sagt er.
Der angebliche Gefährder Sami A. ist nicht der einzige, der trotz eines gegenteiligen Gerichtsbeschlusses abgeschoben worden ist. Gleiches gilt für den afghanischen Flüchtling Nasibullah S., der am 3. Juli mit 68 weiteren Flüchtlingen nach Afghanistan abgeschoben worden war. Er hatte im Dezember 2015 Asyl beantragt, dies wurde jedoch im Februar 2017 vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) abgelehnt. Dagegen reichte der jetzt 20-jährige Afghane Klage ein. Diese Klage war beim Verwaltungsgericht Greifswald noch anhängig, als er von Polizisten aus seiner Unterkunft in Neubrandenburg (Mecklenburg-Vorpommern) geholt und abgeschoben wurde. "Wegen des laufenden Asylklageverfahrens hätte keine Abschiebung erfolgen dürfen", teilte der Gerichtssprecher auf Anfrage des NDR mit. Dies war dem BAMF auch bekannt. In der Woche nach der Abschiebung hätte Nasibullah S. vor Gericht angehört werden sollen. Der junge Mann war weder Straftäter noch „Gefährder“.
Nachdem die CSU bereits mit Forderungen nach einer „konservativen Revolution“ und Hetze gegen eine „Anti-Abschiebe-Industrie“ in den rassistischen und antidemokratischen Kurs der rechtsradikalen AfD eingeschwenkt war, setzt sie nun als Regierungspartei diese aggressive Rechtsentwicklung in der Praxis durch.
Die bewusste Missachtung gerichtlicher Entscheidungen folgt einer reaktionären Logik, die vom Innenminister und der gesamten Regierung vertreten wird: Wer in den Augen des Staates diesen nach dessen Vermutung „gefährdet“, auch ohne dass ihm etwas nachgewiesen werden kann, gegen den wird „mit allen Mitteln“ vorgegangen, auch entgegen anderweitigen gerichtlichen Entscheidungen, auch wenn dies bedeutet, Gerichte zu täuschen oder zu übergehen, auch wenn dies für den Betroffenen Einkerkerung, Folter und Tod bedeuten kann.
Die Kritik aus SPD, Grünen und Linkspartei an diesen Praktiken ist durch und durch verlogen. Die SPD sitzt mit Seehofer in der Bundesregierung und hat gerade erst seinem sogenannten „Masterplan“ im wesentlichen zugestimmt. Dazu gehört auch die Einrichtung von so genannten „Ankerzentren“, in die Flüchtlinge massenhaft gesperrt werden, wo sie kaum Zugang zu Rechtsschutz haben sollen, um möglichst schnell wieder abgeschoben werden zu können.
Mehrere Herkunftsländer – darunter Tunesien! – sollen außerdem den Status eines „sicheren Herkunftsstaates“ erhalten, was nach dem Asylverfahrensgesetz bedeutet, dass der Antrag von einem Flüchtling aus einem solchen Staat von vornherein als „offensichtlich unbegründet“ gelten soll, was der Asylsuchende dann widerlegen muss.
Grüne und Linkspartei setzen überall wo sie mitregieren, die Abschiebungen mit um. Wo die Grünen, wie in Baden-Württemberg, den Ministerpräsidenten stellen, haben sie sogar den Asylrechtsverschärfungen der Bundesregierung im Bundesrat zugestimmt.