Vor 14 Jahren beschloss die SPD die Hartz-Gesetze und schuf damit die Voraussetzungen für einen gewaltigen Niedriglohnsektor und weitverbreitete Armut. Nun hat sie die Konzeptionen, die den Hartz-Gesetzen zugrunde lagen, weiterentwickelt und verschärft.
Am Sonntag verabschiedete der SPD-Parteivorstand auf einer Klausur in Berlin einstimmig ein siebzehnseitiges Papier mit dem wohlklingenden Namen „Ein neuer Sozialstaat für eine neue Zeit“. Die Parteivorsitzende Andrea Nahles verkündete anschließend: „Wir lassen Hartz IV hinter uns.“ Die Süddeutsche Zeitung titelte: „SPD bricht mit Hartz IV“. CDU-Vize Volker Bouffier und CSU-Chef Markus Söder warnten gar, die SPD schlage einen „strammen Linkskurs“ ein.
Das alles ist barer Unsinn. Bouffier und Söder wissen das sehr genau. Ihre Parteien haben seit 2005 zehn Jahre lang im Bündnis mit der SPD regiert und gemeinsam mit ihr alle Angriffe auf Arbeitslose, Rentner und Arbeiter durchgeführt. Der Versuch, den neuen Kurs als Linksruck darzustellen, soll das Ansehen der SPD aufpolieren, die unter Arbeitern wegen ihrer rechten Politik verhasst ist und in den Umfragen seit Wochen bei 15 Prozent stagniert, Kopf an Kopf mit der rechtsextremen AfD.
Die im Bundestag vertretenen Parteien und die Leitartikler der Medien fürchten, dass sich die Empörung über Armut, Arbeitshetze und Niedriglöhne unabhängig von der SPD und den eng mit ihr verbundenen Gewerkschaften Bahn bricht, falls sich der Niedergang der SPD weiter fortsetzt – wie dies in Frankeich mit den Gelbwesten, in Mexiko mit den Autoarbeitern von Matamoros oder in den USA mit Lehrern bereits der Fall ist. Aus diesem Grund lobt auch Linken-Fraktionschef Dietmar Bartsch das SPD-Konzept als einen Schritt in die richtige Richtung.
Tatsächlich ist das SPD-Konzept ein zusammengerührtes Gericht aus Etikettenschwindel, falschen Versprechungen und neuen sozialen Angriffen, angerichtet in einer klebrigen Soße aus hohlen Phrasen über „Solidarität“, „Menschlichkeit“ und „Chancen“, die selbst im stärksten Magen Brechreiz verursacht.
Das Zukunftskonzept verfolgt das Ziel, die Folterinstrumente, die mit den Hartz-Reformen entwickelt wurden – Zeitarbeit, Leiharbeit, Scheinselbständigkeit, Werkverträge, Ein-Euro-Jobs, Zwang zur Annahme jeder Arbeit, usw. –, einer Entwicklung anzupassen, in der reguläre Arbeitsplätze zunehmend durch Computer und Künstliche Intelligenz verdrängt und menschliche Arbeit nur noch sporadisch, unter extremen Ausbeutungsbedingungen zum Einsatz kommt.
Der SPD geht es darum, ein gesetzliches und institutionelles Korsett zu schaffen, das den Staat in die Lage versetzt, die Arbeiter in dieser unerträglichen Tretmühle zu kontrollieren und zu disziplinieren. „Wir müssen das System und den Apparat auf die flexiblen, sich ständig verändernden Bedingungen der Arbeitswelt ausrichten“, heißt es gleich zu Beginn des Dokuments.
Ausführlich beschreibt das Papier die neuen Ausbeutungsformen, die um sich greifen, und bemüht sich, sie als „Chancen“, „Zeitsouveränität“, „Arbeit die zum Leben passt“ oder „Antworten auf die Wünsche nach mehr Flexibilität für Familie, Fürsorge, Pflege, aber auch Weiterbildung und soziales Engagement“ zu idealisieren.
So heißt es darin: „Der Wandel in der Arbeitswelt fördert neue Erwerbsformen und macht die individuellen Erwerbsverläufe vielfältiger. Er eröffnet neue Perspektiven, neue Chancen und neue Gestaltungsmöglichkeiten.“ So sei „im Bereich der Hochqualifizierten … flexible Projektarbeit auf Zeit nicht mehr wegzudenken, ebenso wenig wie gemischte Teams von internen und externen Beschäftigten sowie selbstständige Expertinnen und Experten, etwa bei Start-Ups und/oder im Innovations- und IKT-Bereich.“
Auch die sogenannte „Plattformwirtschaft“ wird von der SPD begrüßt, sofern die Geschäftsmodelle „nachhaltigen wirtschaftlichen Erfolg zum Ziel haben“. Sie könne „als Vorbote neuer ökonomischer Strukturen verstanden werden“, heißt es in dem Papier.
In der Plattformwirtschaft sind die Arbeiter oft nur über ihren Computer mit dem Arbeitgeber verbunden, müssen rund um die Uhr verfügbar sein und werden nur für die geleistete Arbeit bezahlt, die im Minutentakt abgerechnet oder derart schlecht bezahlt wird, dass auf die Stunde umgerechnet nur Cent-Beträge herauskommen.
Im SPD-Papier heißt es dazu: „Neue Selbständigkeit, Werkverträge, Leiharbeit oder befristete Beschäftigung greifen in der Plattformwirtschaft mehr und mehr um sich. Zugleich erleben wir, dass Arbeit und Leben immer mehr ineinander übergehen, wodurch neue Belastungen in der Arbeitswelt entstehen. Mit der Folge, dass die Schutzfunktion des Arbeitsrechts in diesen hochflexiblen Unternehmens- und Arbeitsorganisationen nicht mehr greift.“
Die SPD will diese Form der Ausbeutung jedoch nicht etwa verhindern, sondern fördern. Sie setzt sie sich unter der Parole der „Zeitsouveränität“ für eine Ausweitung der Heimarbeit ein, die die Grundlage der Plattformwirtschaft bildet. Es gehe dabei „um mehr Freiheit für die Beschäftigten, Leben und Arbeiten miteinander zu verbinden“, heißt es in dem Papier. 40 Prozent der Beschäftigten in Deutschland könnten laut DIW theoretisch von zuhause arbeiten, aber nur 12 Prozent bekämen ihren Wunsch nach flexibler Arbeit erfüllt. Die SPD werde daher „ein Recht auf mobiles Arbeiten und Homeoffice gesetzlich verankern, damit mehr Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer von den digitalen Vorteilen profitieren können.“
Was das bedeutet, davon können hunderttausende Betroffene ein Lied singen: Kein Feierabend, kein Wochenende, keine Sicherheit, keine Sozialleistungen, keine Sozialversicherung. Zum Schutz dieser modernen Sklaven verspricht die SPD lediglich, einige gesetzliche Leitplanken einzuziehen und dafür zu sorgen, dass sie für einige Stunden in der Woche für den Arbeitgeber nicht telefonisch erreichbar sein müssen.
Ausdrücklich wendet sich die SPD gegen ein „bedingungsloses Grundeinkommen“, das den Betroffenen einen gewissen Schutz vor dem ständigen Arbeitsdruck geben würde. Sie stellt ihm das „Recht auf Arbeit“ entgegen, das sich aber bei näherem Hinsehen eher als Arbeitszwang entpuppt.
So soll die „Solidargemeinschaft“ – d.h. die beitragszahlenden Arbeiter – in Zukunft „Arbeit statt Arbeitslosigkeit“ finanzieren. Darunter versteht die SPD eine Ausweitung des „sozialen Arbeitsmarkts“, auf dem Arbeitslose zu Hungerlöhnen von der Arbeitsagentur subventionierte Arbeiten erledigen müssen, und zusätzliche Weiterbildungsmaßnahmen, die den Unternehmen die Ausbildungskosten abnehmen.
Großen Wert legt das SPD-Papier auch auf die Stärkung der Gewerkschaften, die sie als Polizei zur Unterdrückung des Klassenkampf braucht. So heißt es in dem Papier, die Sozialpartnerschaft sei ein öffentliches Gut, sie stärke „den sozialen Zusammenhalt und die wirtschaftliche Stabilität“. Ausdrücklich begrüßt die SPD „das klärende Urteil des Bundesarbeitsgerichts, dass Tarifverträge Gewerkschaftsmitglieder grundsätzlich besserstellen dürfen“. Dies sei ein Anreiz, in eine Gewerkschaft einzutreten. „Sozialpartnerschaft ist im wirtschaftlichen und sozialen Interesse unseres Landes.“
Der Rest des Papiers ist reiner Etikettenschwindel. So soll der verhasste Begriff „Hatz IV“ durch „Bürgergeld“ ersetzt werden, ohne dass sich am Inhalt – bis auf einige kosmetische Details – etwas ändert. Der neue Begriff stehe „für ein neues Verständnis eines empathischen, unterstützenden und bürgernahen Sozialstaats“, heißt es in dem Papier.
Die Hartz IV-Empfänger werden dabei demselben sozialen Druck wie bisher ausgesetzt, nur die Sprache soll sich ändern. „Natürlich brauchen wir Mitwirkungspflichten,“ heißt es in dem Papier, „denn Rechte und Pflichten sind in einer Solidargemeinschaft zwei Seiten einer Medaille.“ Auch die berüchtigten Sanktionen bleiben – außer sie sind „sinnwidrig und unwürdig“, was immer dies bedeuten mag.
Die Anhebung des Mindestlohns auf 12 Euro, die in den Medien stets als Beweis für den angeblichen „Linksruck“ der SPD angeführt wird, strebt sie lediglich „perspektivisch“ an – d.h. über einen längeren Zeitraum, in dem der Mindestlohn ohnehin auf diese Höhe steigen würde. Dabei lässt sich von diesem Betrag, der bei Vollbeschäftigung auf knapp 2000 Euro brutto im Monat hinausläuft, in deutschen Großstädten mit ihren horrenden Mieten schon heute nicht mehr leben, von Teilzeitarbeit und der programmierten Altersarmut ganz zu schweigen.
Es ist bezeichnend, dass Finanzminister Olaf Scholz, der strikt auf der Schwarzen Null im Bundeshaushalt beharrt, dem SPD-Papier zugestimmt hat. Zusätzliche soziale Ausgaben sind darin offensichtlich nicht vorgesehen. Auch von einer höheren Besteuerung der Reichen ist mit keiner Silbe die Rede. Dabei hatte die SPD 2005 gleichzeitig mit den Hartz-Gesetzen die größte Steuersenkung der deutschen Geschichte beschlossen. Der Spitzensteuersatz sank von 53 auf 42 Prozent. Zwei Jahre später erhöhte die Große Koalition die Mehrwertsteuer, die vor allem von den Ärmeren bezahlt wird, von 16 auf 19 Prozent.
Seither vertieft sich sie Kluft zwischen Arm und Reich in rasantem Tempo. Daran will die SPD nichts ändern. Im Gegenteil, ihr „Sozialstaats“-Konzept ist der Auftakt zu einer neuen Runde sozialer Angriffe, die auch dazu dient, die gewaltigen Kosten für die Aufrüstung der Bundeswehr und des staatlichen Sicherheitsapparats zu finanzieren.