Am Samstag protestierten in Berlin rund 40.000 Menschen gegen dramatisch steigende Mieten. Dazu aufgerufen hatte das „Bündnis gegen Verdrängung und Mietenwahnsinn“, in dem sich mehr als 270 Gruppen und Organisationen zusammen geschlossen haben. In zahlreichen anderen deutschen Städten gab es ähnliche Demonstrationen. In insgesamt 19 Städten, darunter Bochum, Dresden, Frankfurt, Jena und Stuttgart gingen über 55.000 Menschen auf die Straße.
In Berlin startete die Demonstration am Alexanderplatz, dem Sitz der Berliner Landesbank. Von dort zog der kilometerlange Demonstrationszug über die Karl-Marx-Allee durch Friedrichshain und Kreuzberg – zwei Viertel, die extrem von Gentrifizierung und explodierenden Mieten betroffen sind – zum Arena-Gelände. Dort fand zur gleichen Zeit die Berliner Immobilienmesse statt.
Die Forderung nach Enteignung von Immobilienunternehmen stand im Zentrum der Demonstration und stieß unter Arbeitern und Jugendlichen auf enorme Unterstützung. „Je nach Umfrage stehen knapp 40 bis über 50 Prozent der Berliner hinter ihr“, beklagte die Neue Züricher Zeitung in einem Artikel. Besorgt stellte das Hausblatt der Schweizer Banken fest: „30 Jahre nach der Implosion der DDR denkt Berlin über die ‚Vergesellschaftung‘ von Immobilienfirmen nach. In Berlin flackert der Klassenkampf auf.“
Die wachsende antikapitalistische Stimmung unter Arbeitern und Jugendlichen und in Teilen der Mittelschicht war auf der Demonstration allgegenwärtig. Auf den vielen Plakaten und Postern standen Parolen wie: „Euer Reichtum ist unser Wohnungsmangel“, „Enteignen statt abkaufen“, „Das Problem heißt Kapitalismus“ oder „Mieter aller Länder vereinigt Euch!“. Vertreter der etablierten Parteien und der Gewerkschaften waren auf der Demo so gut wie nicht zu sehen. Die entschädigungslose Enteignung der „Miethaie“ oder gar eine sozialistische Wohnungspolitik lehnen sie vehement ab. Das gilt auch für die Linkspartei.
Sven Wurm, Kandidat der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP) zur Europawahl, warnte in einem Videostatement auf der Demonstration, dass Die Linke einen erneuten „Betrug“ vorbereite. Zunächst habe sie als „Teil der Berliner Landesregierung, gemeinsam mit der SPD, über hunderttausend Wohnungen privatisieren lassen und den großen Konzernen damit unglaubliche Profite ermöglicht. Jetzt, wo der Wert dieser Wohnungen um das 17fache gestiegen ist, fordert die Linkspartei eine so genannte Enteignung. Doch die soll mit 30 Milliarden Euro entschädigt werden. Das ist keine Enteignung. Das ist ein Geschenk an die Reichen auf Kosten der Arbeiterklasse.“
Die SGP fordere „als einzige Partei die entschädigungslose Enteignung aller großen Wohnkonzerne“, betonte Wurm. Doch Arbeiter seien „nicht allein mit profitgierigen Konzernen und korrupten Senatsparteien konfrontiert.“ In der tiefsten Krise des Kapitalismus seit den 1930er Jahren könne „kein einziges soziales Problem mehr gelöst werden, ohne die Macht der Banken und Konzerne zu brechen. Egal ob es um Wohnungsnot, soziale Ungleichheit, um Aufrüstung, Krieg und Diktatur geht, jedes dieser Probleme erfordert, die internationale Arbeiterklasse zu mobilisieren, auf der Grundlage eines revolutionären, sozialistischen Programms.“
Das Eingreifen der SGP auf der Demonstration stieß auf große Resonanz. Mitglieder und Unterstützer verteilten tausende Kopien der Erklärung „Für die entschädigunglose Enteignung der Miethaie!“ und bewarben die Wahlauftaktveranstaltung der SGP zur Europawahl am kommenden Sonntag. Der Info-Tisch der SGP auf dem Alexanderplatz wurde stark frequentiert. Ausgehend von der Mietenfrage entwickelten sich interessante Diskussionen über die wachsende soziale Ungleichheit, die Kriegsgefahr, den Aufstieg der Rechten und die Notwendigkeit einer sozialistischen Gegenoffensive.
Ulrike und Birgit waren zusammen mit drei Mietergemeinschaften aus Schöneberg gekommen. Schöneberg ist ein innenstadtnaher Bezirk im Westen von Berlin, der aktuell beschleunigt gentrifiziert wird. Ihre Straße, die Hohenfriedbergstraße, stehe glücklicherweise unter Milieuschutz, berichten die beiden. Das biete einen gewissen Schutz, der aber nicht wirklich weit trage. Die Häuser der beiden anderen Mietergemeinschaften, die mit ihnen gemeinsam zur Demonstrationen gekommen seien, hätten nicht einmal diesen kleinen Vorteil.
„Die Wohnungen der Mieter werden einzeln verkauft“, berichtet Ulrike. „Die Mieter haben sieben Jahre lang ein Vorkaufsrecht, und dann?“ – „Ja, und wer hat schon das Geld, sich eine Eigentumswohnung zu kaufen?“, wirft ihre Nachbarin ein. „In meinem Alter will ich mir erstens keinen Kredit ans Bein binden, und zweitens würde ich ihn wahrscheinlich sowieso nicht bekommen.“ „Auseinandergerupft“ würden die großen, schönen alten Häuser von den Investoren, meint Birgit. „Richtig Geld bringt es ihnen, wenn sie die Wohnungen einzeln verscherbeln.“
Wenn Wohneinheiten unter „Milieuschutz“ stehen, haben die Berliner Bezirke ein Vorkaufsrecht. Der Bezirk Schöneberg hat davon jedoch insgesamt nur fünf Mal Gebrauch gemacht. Der Investor, so Birgit und Ulrike, gehe außerdem juristisch gegen das Vorkaufsrecht vor. „Nun ist alles in der Schwebe“, meint Ulrike. „Keiner weiß, wie es weitergeht. Es herrscht eine enorme Unsicherheit. Und es wird nichts mehr am Haus gemacht. Bei uns ist seit sechs Wochen die Beleuchtung im Hausflur kaputt. Ich kann im Dunkeln nur mit der Taschenlampe hinein. Wir haben ein Seniorenquartett im Haus, deshalb begleite ich einen über 80-jährigen Nachbarn immer mit der Taschenlampe durchs Treppenhaus. Was, wenn er einmal stürzt?“
„Es gibt bestimmte Grundrechte“, sagten Ulrike und Birgit. „Und dazu gehört das Recht auf eine Wohnung.“
Auch Christine aus dem Wedding hält die Enteignung der großen Immobilienfirmen für „total richtig“. Das Haus in dem sie lebt, sei erst verkauft und dann systematisch „entmietet“ worden. Sie sei die einzig verbliebene Mieterin und werde regelrecht terrorisiert. „Ohne Ankündigungen begannen massive Renovierungsarbeiten. Es gab auch einen Wasserschaden vor drei Wochen und ich habe den Eindruck, dass der bewusst initiiert wurde, um mich aus meiner Wohnung rauszuekeln. Ich bin durch den ganzen Lärm und Schmutz nervlich stark belastet“.
Ulrike trägt ein Poster, das den massiven Anstieg ihrer Miete in den vergangenen 30 Jahren zeigt. „Das geht von einer Mark in der DDR im Jahr 1986 – meine erste Wohnung in Berlin-Friedrichshain – bis heute. Mittlerweile bin ich bei knapp acht Euro in Weißensee. Noch kann ich die Miete bezahlen, aber man weiß ja nicht, wie es weitergeht.“ Sie wolle „auch für alle auf die Straße gehen, denen es nicht so gut geht. Es wird immer ungerechter. Vielleicht stimmt doch irgendetwas mit dem Kapitalismus nicht“, fügt sie ironisch hinzu.
Mathilde kommt aus Italien, lebt aber seit sechs Jahren in Berlin „Ich habe seither gesehen, wie sich die Wohnkosten entwickelt haben. Ich bin hier, weil ich gegen Profitgier, Spekulation und die Ausbeutung von Menschen demonstrieren will, unabhängig davon, wo sie herkommen.“ Angesprochen auf ihr Schild „Der Kapitalismus ist das Problem“, erklärt Mathilde: „Der Kapitalismus basiert darauf, dass Profit gemacht wird und nicht auf Menschenrechten. Und Wohnen ist ein Menschenrecht.“
Zur Lage in ihrem Heimatland sagt Mathilde: „Die Situation in Italien ist wirklich dramatisch. Manches ist schlimmer als ich gedacht hätte, dass es je kommen könnte. Als Berlusconi regiert hat, dachte ich: das war das Schlimmste. Und jetzt ist es hundertmal schlimmer. Ich denke da vor allem an die Geflüchteten. Salvini hält jetzt ihre Schiffe davon ab, überhaupt anlanden zu dürfen. Und daran sterben Menschen. Die Rechten kanalisieren Furcht und Hass in Richtung alles Fremden. Aber diese Menschen fliehen vor Kriegen, die der Westen ihnen erst gebracht hat. Es ist beängstigend wenn Politiker dann sagen: ‚Die klauen nur unsere Jobs. Das sind Drogendealer‘, und solche Sachen. Solche Politiker sollten zurücktreten.“
Axel denkt ganz ähnlich über die Politik hierzulande. „Wir brauchen keine ReGIERung im Dienste der Lobbyisten“, steht auf seinem Schild geschrieben. „Die Situation in Berlin ist angespannt und es wird immer aggressiver. Der neueste Trick ist, dass über fiktive Nebenkostenrechnungen, die kaum jemand nachvollziehen kann, die Mieten über den Mietpreisspiegel hinaus erhöht werden.“ Über die Rolle von SPD und Linkspartei ist er sich wie die meisten Demonstranten bewusst. „Unser Party-Weltmeister Wowereit und der rot-rote Senat haben da kräftig mitgemischt. Die sitzen ja alle in der Finanzclique mit drin“.
Als das Gespräch auf die Aufrüstungspolitik der Bundesregierung kommt, berichtet Axel, dass er das Ende des Zweiten Weltkriegs noch als Kind miterlebt hat. Lange Jahrzehnte habe er sich nicht vorstellen können, dass Deutschland wieder aufrüstet und eine rechtsextreme Partei in den Bundestag einzieht. „Aber mit der Wiedervereinigung kam das alles wieder verstärkt in den Vordergrund. ‚Das einige Deutschland mit 80 Millionen. Wir sind groß. Wir sind stark‘“, habe es auf einmal wieder geheißen. „Und die Crux daran ist, dass nun sogar Länder wie Frankreich und Polen fordern, dass wir unseren Wehretat steigern“.