Perspektive

Nach der Ministerpräsidentenwahl in Thüringen

Alarmstufe Rot: Politische Verschwörung ebnet Weg für Wiederkehr des Faschismus

Die Entscheidung von CDU und FDP, in Thüringen am 5. Februar in Absprache mit der rechtsextremen AfD einen Ministerpräsidenten zu wählen, wirft ein grelles Licht auf den verkommenen Zustand der offiziellen Politik in Deutschland. 75 Jahre nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs wird eine Partei, deren Führung Hitler verharmlost und aus offenen Nazis besteht, von der herrschenden Elite als legitimer politischer Partner akzeptiert.

Der Aufstieg der politischen Rechten in Deutschland während der letzten zehn Jahre fand bislang in den internationalen Medien wenig Beachtung. Doch nach den Ereignissen in Thüringen wurde selbst der New York Times klar, dass die Wiederkehr des deutschen Faschismus als einflussreiche politische Kraft nicht länger ignoriert werden kann. Am 7. Februar 2020 schrieb die Times:

Manchmal braucht es ein Erdbeben, um ans Tageslicht zu fördern, was zuvor unter der Oberfläche verborgen lag.

Die Wahlen im Bundesstaat Thüringen im Osten Deutschlands legten den verheerenden Zustand der politischen Mitte in Deutschland bloß – und zeigten, wie weit das Land inzwischen vom antifaschistischen Konsens abgerückt ist, den es zu vertreten behauptet.

Allenthalben nimmt man heute in Deutschland Bezug auf die Weimarer Republik, das kurzlebige demokratische Experiment, dem die Nazis ein Ende setzten.

Die Times vermerkt, dass CDU und FDP durch ihre Zusammenarbeit mit der AfD „ein Tabu gebrochen haben, das seit dem Ende der Nazizeit in der deutschen Politik verankert war. Kemmerich (FDP) ist der erste hochrangige Politiker seit dem Zweiten Weltkrieg, der mit den Stimmen einer rechtsextremen Partei gewählt wurde“.

Die Entscheidung von CDU und FDP zur Zusammenarbeit mit der AfD, fährt die Times fort,

ist besonders besorgniserregend in Thüringen, wo die AfD nicht nur die zweitstärkste Partei im Landtag stellt, sondern auch extremer ist als in jedem anderen Bundesland. Der dortige Chef der AfD, Björn Höcke, ist der Führer der Hardliner innerhalb der Partei, die als der „Flügel“ bekannt sind. In einem Buch aus dem Jahr 2018 warnte er vor einem „bevorstehenden Volkstod durch Bevölkerungsaustausch“. Letztes Jahr entschied ein Gericht, dass er zurecht als Faschist bezeichnet werden kann.

Die Times schließt mit den Worten:

Für die Rechtsextremen war diese Woche ein Erfolg auf der ganzen Linie. Die Führer der AfD haben lange Zeit eine Annäherung mit den Parteien der „Mitte“ und den Konservativen vorhergesagt – und erhofft. Als Björn Höcke am Mittwoch dem neu gewählten Thüringer Ministerpräsidenten per Handschlag gratulierte, lächelte er. Die Szene erinnerte viele Deutsche an ein berühmtes Foto aus dem Jahr 1933, auf dem Adolf Hitler den damaligen Bundespräsidenten Paul von Hindenburg begrüßt.

Das Deutschland von 2020 ist nicht das Deutschland von 1933. Aber die deutsche Politik hat sich in den letzten Jahren auf beunruhigende Weise verändert. Die Parteien der Mitte und die extreme Rechte haben gemeinsame Standpunkte zur Immigrationsfrage. Sie sehen einen gemeinsamen Feind auf der Linken. Und jetzt haben sie, zum ersten Mal seit Jahrzehnten, sogar einen gemeinsamen Ministerpräsidenten.

Die Leser der Times, die zuvor so gut wie nichts über den Aufschwung der Neonazis in Deutschland gelesen oder gehört haben, könnten zu der Annahme verleitet werden, die Ereignisse seien plötzlich und unerwartet über Thüringen hereingebrochen.

Dem ist nicht so. Die Ereignisse bestätigen die anhaltenden Warnungen der Trotzkisten von der Sozialistischen Gleichheitspartei (SGP), die in zahlreichen Artikeln auf der World Socialist Web Site veröffentlicht wurden. Die politischen Manöver in Thüringen – dem Bundesland, das beim Aufstieg des Hitlerstaats eine wichtige Rolle spielte – ist das Ergebnis einer Verschwörung aller Parteien des politischen Establishments, die mehr als fünf Jahre zurückreicht. Ihr Ziel ist es, das Wachstum einer neonazistischen Bewegung aktiv zu fördern und zu legitimieren.

Es ist vollkommen angemessen, die Vorgänge, die den Aufstieg der AfD ermöglichten, als Verschwörung zu bezeichnen. Der Hauptunterschied zwischen der AfD und den Nazis der 1920er und 1930er Jahre besteht darin, dass die heutige faschistische Organisation nicht auf einer Massenbewegung basiert. Entstanden als ein Spaltprodukt von CDU und FDP Anfang 2013, rekrutiert sich ein großer Teil der AfD-Mitglieder direkt aus dem Staatsapparat, vor allem aus dem Militär, der Justiz und der Polizei. Viele waren zuvor Mitglieder in einer anderen etablierten Partei. Einige Beispiele:

· Der AfD-Ehrenvorsitzende Alexander Gauland, der die Wehrmacht verherrlicht und Hitler und die Nazis als „Vogelschiss in über 1000 Jahren erfolgreicher deutscher Geschichte“ bezeichnet, war 40 Jahre lang hochrangiger Funktionär der CDU.

· Guido Reil, der für die AfD im Europaparlament sitzt, ist Mitglied der Gewerkschaft IG BCE und gehörte26 Jahre lang der SPD an, bevor er 2016 in die AfD eintrat.

· Georg Pazderski, Vorsitzender der AfD Berlin, ist ein ehemaliger Offizier, der u. a. im Hauptquartier des United States Central Command auf der MacDill Air Force Base in Tampa und im Allied Joint Force Command Lisbon der Nato diente.

Beim Aufbau der AfD stand die herrschende Klasse von Anfang an vor einem grundlegenden Problem: Die Faschisten sind bei der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung verhasst.

Als die AfD im September 2017 mit nur 12,6 Prozent der Stimmen in den Bundestag einzog, gab es spontane Massenproteste im ganzen Land. Nach den faschistischen Ausschreitungen in Chemnitz im September 2018, bei denen die AfD eine zentrale Rolle spielte, gingen Hunderttausende auf die Straße. Allein in Berlin demonstrierten am 13. Oktober 2018 etwa eine Viertelmillion Menschen. Spontane Massenproteste gegen Rassismus und faschistische Gewalt fanden auch nach dem Terroranschlag auf die Synagoge in Halle im vergangenen Oktober und aktuell nach der Wahl von Kemmerich statt.

Angesichts der massiven Ablehnung, die der AfD aus Bevölkerung entgegenschlägt, hängt ihr Aufstieg in Machtpositionen von der Komplizenschaft der großen Parteien ab. Der entscheidende Mechanismus für den Aufbau der extremen Rechten war unter diesen Bedingungen die Große Koalition.

Nach der Wahl 2017 verbrachten alle Bundestagsparteien mehr als sechs Monate damit, hinter verschlossenen Türen den Rahmen für eine neue Regierung auszuarbeiten. Dabei wurden weitreichende Vereinbarungen getroffen, insbesondere in Bezug auf die umfassende Remilitarisierung Deutschlands, massive Angriffe auf soziale und demokratische Rechte und die systematische Zusammenarbeit mit der AfD.

Bereits Ende November 2017 lud Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die damaligen AfD-Vorsitzenden Alexander Gauland und Alice Weidel zu einem gemeinsamen Treffen ins Schloss Bellevue ein. Auf Bildern des Bundespresseamts ist die Zusammenkunft dokumentiert. Mit ihrem Regierungsantritt im März 2018 hat die Große Koalition dann in weiten Teilen die Politik der extremen Rechten übernommen und die AfD ins politische System integriert.

Die SPD spielte dabei eine Schlüsselrolle. Als Folge der Entscheidung der SPD, die Große Koalition mit der CDU fortzuführen, wurde die AfD zur offiziellen Oppositionspartei, obwohl sie nur die Unterstützung von einem Achtel aller Wähler erhalten hatte. Dadurch wurde die parlamentarische und mediale Präsenz der AfD deutlich erhöht. Gauland und Co. können seither ihren faschistischen Schmutz zu Beginn jeder Bundestagssitzung und zur besten Sendezeit in den Medien verbreiten. Berüchtigte Rechtsextreme wurden mit Unterstützung der SPD an die Spitze wichtiger Parlamentsausschüsse gehievt.

Auch die Verharmlosung des Nationalsozialismus und der Kampf gegen links - zwei „Kernthemen" der AfD - gehören zum grundlegenden Arsenal der Großen Koalition, die sich damit an die AfD annähert. Seit 2018 führt der Verfassungsschutzbericht der Großen Koalition die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP) als „Beobachtungsobjekt" an, weil sie der AfD und dem imperialistischen Militarismus unversöhnlich entgegentritt und für ein antikapitalistisches, sozialistisches Programm eintritt.

Die AfD und ihr „Flügel" werden vom Verfassungsschutz mitfühlend als „Opfer“ angeblicher „Linksextremisten“ bezeichnet. Es ist öffentlich bekannt, dass rechte Terrornetzwerke weit in Armee, Polizei und Geheimdienste hineinreichen. Sie führen Todeslisten, auf denen zig Tausende Zielpersonen stehen. Ihre Aktivitäten werden vom deutschen Staat selbst nach der Ermordung des prominenten CDU-Politikers Walter Lübcke am 2. Juni 2019 weitgehend ignoriert. Es wird allgemein vermutet, dass Lübcke wegen seiner Kritik an der AfD ermordet wurde. Innerhalb weniger Wochen wurde die Berichterstattung über den Mord an einem hochrangigen Politiker von den Medien eingestellt.

Die rückgratlose Linkspartei, die sich an die Rockschöße der SPD klammert, reagiert auf die Entwicklungen in Thüringen mit einem weiteren feigen Rechtsruck. Sie buhlt nicht nur um die Gunst der CDU, sondern zeigt signalisiert auch ihre Bereitschaft zu einer Zusammenarbeit mit der AfD.

Es gibt noch einen weiteren entscheidenden Faktor für den Aufstieg der AfD und die bewusste Legitimierung neofaschistischer Politik in Deutschland. Um den Widerstand der Bevölkerung gegen die Rückkehr von Militarismus und Diktatur zu überwinden, sind gewisse Akademiker bestrebt, die Geschichte umzuschreiben. Sie betreiben einen wütenden Antimarxismus, die Verharmlosung der Naziverbrechen und die Rehabilitierung Hitlers.

Die zentrale Rolle bei diesen Machenschaften spielt die Leitung der Humboldt-Universität zu Berlin, die sich uneingeschränkt hinter Professor Jörg Baberowski stellt, dem Inhaber des Lehrstuhls für osteuropäische Geschichte. Baberowski ist berüchtigt für die Lüge, dass Hitler „nicht grausam“ gewesen sei und nichts über Auschwitz und die Massenvernichtung der Juden hören wollte.

Die Präsidentin der Universität, die ehemalige SPD-Funktionärin Sabine Kunst, hat die Kritik an Baberowski für „inakzeptabel“ erklärt. Selbst nachdem Baberowski im Stile eines Nazi-Gauleiters einen linken Studenten an der Universität tätlich angegriffen hat – ein Vorfall, das auf Video festgehalten und mehr als 20.000 Mal auf YouTube angesehen wurde (siehe Video), weigert sich Kunst, Kritik an Baberowski zuzulassen.

Mit der Unterstützung, die er von der Humboldt-Universität erhalten hat, ist Baberowski zu einer bekannten politischen Figur geworden. Er soll bei einer offiziellen Veranstaltung zum 75. Jahrestag des Zusammenbruchs des Dritten Reichs eine größere Rede halten und dürfte die Gelegenheit mit hochrangiger politischer Unterstützung zu einer antikommunistischen Tirade nutzen.

Die politische Lage in Deutschland ist für die europäische, amerikanische und internationale Arbeiterklasse Anlass zu verstärkter Wachsamkeit. Im Lichte der Geschichte verbietet sich eine nachlässige Haltung gegenüber dem Wiederaufstieg des Neonazismus in Deutschland.

Allerding gibt es einen grundlegenden und tiefgreifenden Unterschied zwischen der heutigen Situation und den 1930er Jahren. Der Faschismus ist heute in Deutschland alles andere als eine Massenbewegung. Massen von Arbeitern, Studierenden, Künstlern und Intellektuellen verabscheuen die NS-Vergangenheit und all jene, die ihre Verbrechen verharmlosen. Überall in Deutschland erinnern Gedenkstätten an die Verbrechen der Nazis und an die Millionen von Opfern. Die Schrecken des Dritten Reichs haben sich unauslöschlich ins kollektive Bewusstsein der deutschen Bevölkerung eingegraben.

Zugleich sind die theoretischen und politischen Traditionen des Marxismus tief in der Kultur des Landes verwurzelt, trotz aller Bemühungen der offiziellen Parteien, der korrupten Medien und ihrer akademischen Diener, sie auszulöschen. Man kann sicher sein, dass der 200. Geburtstag von Friedrich Engels im November 1820 in ganz Deutschland mit viel Hochachtung begangen werden wird.

Aber gerade das Fehlen von Massenunterstützung wirft ein Schlaglicht auf eine auffällige und gefährliche Parallele zu dem politischen Prozess, der zum Sieg der Nazis 1933 führte: die Verschwörung innerhalb des politischen Establishments zur Stärkung der extremen Rechten. Dieser Prozess und seine reaktionären Folgen sind durch die Ereignisse in Thüringen aufgedeckt worden.

Die einzige Partei, die konsequent gegen das Anwachsen der AfD und die Rückkehr von Faschismus und Militarismus in Deutschland und international kämpft, ist die Sozialistische Gleichheitspartei (SGP). Ihre Warnungen wurden bestätigt. Christoph Vandreier schreibt in Warum sind sie wieder da? seiner international beachteten Darstellung der politischen Verschwörung, die dem Aufstieg der AfD zugrunde liegt:

Die AfD verfügt weder über eine massenhafte Anhängerschaft noch über schlagkräftige Einheiten wie einst die SA, die sich aus entwurzelten Wehrmachtsoldaten, ruinierten Kleinbürgern und verzweifelten Arbeitslosen rekrutierte. Die Stärke der AfD ergibt sich ausschließlich aus der Unterstützung, die sie von Parteien, Medien, der Regierung und dem Staatsapparat erhält.

Wie überall auf der Welt ist auch in Deutschland ein Prozess der politischen Radikalisierung im Gange. Die Ereignisse in Thüringen, die die Öffentlichkeit schockiert haben, werden diesen Prozess beschleunigen. Aber seine rechtzeitige und bewusste politische Weiterentwicklung erfordert den Aufbau der Sozialistischen Gleichheitspartei und des Internationalen Komitees der Vierten Internationale als revolutionäre Partei der deutschen und internationalen Arbeiterklasse.

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