70. Berlinale: Deutschsprachige Filme im Klima sozialer Spannungen

Auf der diesjährigen Berlinale waren einige interessante deutschsprachige Filme vertreten, denen man anmerkt, dass sie in Zeiten starker sozialer Spannungen entstanden sind. In den letzten Jahren hat sich ein kleiner Teil der Mittelschichten erfolgreich nach Karriere und Wohlstand gereckt. Der größere, darunter viele Künstler, lebt in zunehmend unsicheren sozialen Verhältnissen und kommt unmittelbar mit Armut in Berührung.

Schwesterlein

Stéphanie Chuat, Véronique Reymond. Kinostart: Deutschschweiz 23. April, französische Schweiz 29. April

Hält Geschwisterliebe, fragt der Schweizer Film, wenn der Bruder gerade krank und pflegebedürftig wird, während die Schwester in die reiche Oberschicht aufsteigen könnte? Sven (Lars Eidinger), Schauspieler an der Berliner Schaubühne, ein gefeierter Hamlet, ist unheilbar krank und wird nicht mehr lange leben. Zunächst noch voll Hoffnung, bereitet er sich auf die Wiederaufnahme der erfolgreichen Hamlet-Inszenierung vor. Schwester Lisa (Nina Hoss) hilft, wo sie kann, und holt ihn vorübergehend in die Schweiz, wo ihr Mann Martin (Jens Albinus) noch Direktor einer Eliteschule ist. Die Rückkehr nach Berlin ist fest geplant.

Als Martin die Nachricht erhält, man wolle seinen Vertrag verlängern, willigt er ein, ohne sich mit Lisa abzusprechen. Er hätte keine Wahl gehabt, erklärt er später. Dasselbe erklärt auch Regisseur David (gespielt vom Künstlerischen Leiter und Regisseur der Berliner Schaubühne Thomas Ostermeier). Er müsse Hamlet absetzen, er habe ein Haus zu füllen und Sven sei zu geschwächt. Später lehnt er ohne äußere Not Lisas einfaches Dialogstück ab, das sie für Sven geschrieben hat: eine moderne Fassung des Märchens Hänsel und Gretel.

Die scheinbaren Alternativlosigkeiten erweisen sich als soziale Entscheidungen: Auch der hin- und hergerissene David distanziert sich letztlich von der glanzlosen Welt und ihren existenziellen Problemen, zu der auch Sven jetzt gehört. Der Film trifft den richtigen Ton gegenüber der Karrieristen-Welt, so in der Szene, wo Elite-ElternChampagner schlürfen und Schulleiter Martin gestelzt fragen, ob er seine Kinder auch schon in dieser Schule angemeldet habe.

Die beiden Kinder von Lisa und Martin haben sich aber längst mit dem kranken Onkel angefreundet. Als Lisa mit ihnen nach Berlin zurückkehrt und Martin versucht, die Kinder per Entführungsaktion zurückzuholen (was er „als das Beste für ihre Zukunft“ bezeichnet), scheitert er am Widerstand vor allem der etwas älteren Tochter. Die Kinder in diesem Film sind Teil der neuen Generation, die gegen die soziale Ungleichheit und Kälte der kapitalistischen Gesellschaft zu rebellieren beginnt. Dass die Zukunft à la Martin im verschneiten, kalten Winterkurort in der Schweiz gezeigt wird, ist ein passendes Bild.

Mit Ironie werden gewisse Künstlerkreise bedacht. Lisas Mutter (Marthe Keller), eine leicht demente ehemalige Schauspielerin, wendet sich gegen Lisas Märchenstück und lässt nur das belehrende „politische Theater“ von Brecht gelten, alles andere sei „kleinbürgerlich“. Ihre Lebenshaltung ist typisch für ehemalige 68er, die die sozialen Gegensätze im Allgemeinen kritisieren, aber gleichzeitig einen ichbezogenen, gehobenen Lebensstil pflegen. So will sie nicht mal für die Kinder kochen. Aber wenn sie gerade mal Lust verspürt, einen Kuchen zu backen, ist der natürlich angebrannt.

Auch Martin macht gelegentlich ironische Bemerkungen über die reichen Eltern der Eliteschule. Erst die besondere Situation um Sven zwingt ihn, wirklich Farbe zu bekennen. Plötzlich ist da ein Graben zwischen ihm und Lisa, den beide unter „normalen“ Umständen nie für möglich gehalten hätten. Svens Elend, so leid es Martin tut, soll nicht seine Karriere behindern. Martins Sorge um die Kinder ist letztendlich die eigene Angst vor dem sozialen Abstieg: vielleicht Leiter einer Brennpunktschule in Berlin, nicht auszudenken. Lisa muss entsetzt feststellen, dass Svens Existenz auch von Martin nur noch als Ballast gesehen wird. Man bekommt als Zuschauer plötzlich eine Ahnung, wie es in der Nazi-Zeit möglich war, von lebensunwerten „Ballastexistenzen“ zu sprechen.

Lisas soziale Einstellung beeinflusst ihre Haltung zur Kunst, ohne dass es ihr zunächst bewusst ist. Da ist eine Sehnsucht nach wirklich Substantiellem. Der hartnäckige Willen, die letzte Zeit des Bruders menschenwürdig zu gestalten, bringt ihr die verloren geglaubte Kreativität zurück: Hänsel und Gretel – zwei Geschwister halten zusammen im dunklen Märchenwald der gefühlskalten Gegenwart. Sie kämpfen gegen die süßen Verlockungen der bösartigen, kapitalistischen „Hexe“ und besiegen sie.

Kid’s Run

Barbara Ott.Kinostart: 26. November

Barbara Otts Debüt-Film begibt sich in das Milieu moderner Tagelöhner. Andi (Jannis Niewöhner), Mitte 20, sorgt für sich und seine Kinder Ronny und Nikki. Die psychisch labile Mutter lebt lange getrennt von ihnen. Andi hangelt sich von einem Gelegenheitsjob zum nächsten: Abrissfirma, Schrotthandel, Reinigungskraft in einem Club, Security. Es reicht nie, Schulden, Mietschulden. Die kleinste, nötige Anschaffung für die Kinder ist ein Problem.

Andi hofft, seine letzte Freundin Sonja (Lena Tronina) zurückzugewinnen, wenn er ihr Geld, d.h. soziale Sicherheit bieten kann. Regelmäßig nimmt er ihr gemeinsames Kind Fiou, noch ein Säugling, zu sich. Sonja ist pragmatischer und will den finanzkräftigeren Mike (Rostyslav Bome) heiraten. Als die Geldsorgen überhand nehmen, verschuldet sich Andi auch bei Sonja und meldet sich, als sie ihr Geld zurückfordert, für ein Amateur-Preisboxen an. Eigentlich hat er das Boxen wegen einer Verletzung aufgegeben. Er verliert den entscheidenden Kampf.

Vor Jahren zeigten soziale Filme oft tragikomische Charaktere, gutmütige (mitunter etwas einfältige) Verlierer, wehrlos, harmlos. Dokumentarfilm-Protagonisten waren arm und hatten doch etwas sympathisch Originelles an sich. Andi ist durchgehend rau, selbst gegenüber den Kindern. Aber er kämpft für sein Recht auf Familie. Die ganze bedrückende, gereizte Atmosphäre des Films scheint auch eine Sorge zu beinhalten: Was, wenn aus geplatzter Hoffnung und Wut entfesselte Gewalt wird? Immer wieder gerät Andis Muskelspiel ins Bild.

Der Film zeigt ungeschönt das Milieu der Armut, wie es heute in vielen Städten existiert. Viele der Gestrandeten stammen aus Osteuropa wie die Russin Sonja. Andis Nachname Javanovich klingt eher jugoslawisch. Im Film taucht eine junge deutsch-afrikanische Babysitterin auf. Andi verliert den Boxkampf gegen einen Albaner. Der Schrotthandel über die Grenze ist deutsch-polnisch. Die Welt der Verlorenen, wo jeder nur um das persönliche Überleben kämpft, ist gleichzeitig eine internationale Welt. Keiner der Konflikte untereinander hat einen nationalistischen oder rassistischen Hintergrund. Die Selbstverständlichkeit, mit der alle hier zusammenleben, hat auch etwas Hoffnungsvolles.

Jetzt oder morgen

Regie: Lisa Weber, Buch: Lisa Weber/Roland Stöttinger

Der österreichische Dokumentarfilm „Jetzt oder morgen“ gehört neben „Kids Run“ und „One of these Days“ zu den Filmen, die einen vorurteilsfreieren Blick auf die Armut werfen. Wir nehmen am ereignislosen Alltag einer Wiener Familie teil, deren Leben im Kreis verläuft.

Die etwa 20-jährige Claudia, die schon mit 15 ihren Sohn Daniel bekam, lebt mit ihm und ihrem Bruder Gerhard bei der Mutter in einer engen Wiener Sozialwohnung. Sie hat keinen richtigen Schulabschluss, keine Ausbildung und schickt Bewerbungen, von denen sie weiß, dass ihr dafür die nötigen Voraussetzungen fehlen. Das Versäumte nachzuholen, ist mehr ein Wunsch als ein wirklicher Wille, und so vergeht die Zeit, ohne dass sich irgendetwas bewegt.

Die Mutter bezieht eine kleine Invalidenrente. Auch Gerhard scheint keine oder keine feste Arbeit zu haben. Der Film lässt nahezu physisch die schrecklichen Folgen miterleben, wenn Menschen wissen, dass die Gesellschaft sie nicht braucht. Aus der Lethargie hilft keine laue Sozialmaßnahme, die nur das „Gefühl“ des Gebrauchtseins vermittelt, auch kein kerniges ‚Reiß Dich mal zusammen!‘ oder gar Bestrafung nach versäumtem Amtstermin.

Viel Zeit hätten sie, aber trotzdem kein Leben, bringt Gerhard die trostlose Situation auf den Punkt. Als er an einer Stelle bitter erklärt, seiner Familie sei sein Geburtstag egal (was sich als Irrtum herausstellt), verrät er seine Empfindlichkeit.

Gerhard ist es, der spontan Mitgefühl zeigt, als die Sprache auf die Flüchtlinge kommt. Erst als das Ganze in eine kleinliche Diskussion mündet, ob Muslime Weihnachtsgeld bekommen sollten – im Islam gibt es kein Weihnachtsfest –, merkt man, dass die Familie, die den Eindruck erweckt, als verlasse sie kaum die Wohnung, nicht abgeschnitten von der Außenwelt lebt und dass die Islamhetze der Medien unter der rechten österreichischen Regierung offenbar nicht spurlos an ihnen vorüber gegangen ist.

Der Zuschauer spürt das warme Interesse der Regisseurin an einer Familie, die auf den ersten Blick gehässig-ignoranten Medienklischees entspricht. Sie lernte Claudia kennen, als diese noch ein Kind war, eine Zufallsbekanntschaft auf der Straße. Lisa Weber agiert mitunter vor der Kamera, mischt sich ein, gehört quasi mit dazu. Das erinnert etwas an Dokumentarfilme der 60er Jahre. „Cinéma vérité“ entstand in Frankreich, als die Gesellschaft in Bewegung geriet, ein Teil der Künstler ein engeres Verhältnis zur Arbeiterklasse einging, den französischen Generalstreik unterstützte – und dabei die Rolle des distanzierten Beobachters aufgab.

Schlaf

Regie: Michael Venus, Buch: Michael Venus/Thomas Friedrich. Kinostart: 6. August

Im Debütfilm von Michael Venus geht es um den Alb unbewältigter deutscher Geschichte. Marlene, eine Flugbegleiterin (Sandra Hüller), lebt mit ihrer 19-jährigen Tochter Mona in Hamburg zusammen. Sie leidet an Albträumen. Die Suche nach der Ursache führt in das abgelegene Waldhotel „Sonnenhügel“ in der Nähe des Dorfs Stainbach. Hier wird der Alb so schlimm, dass sie in eine Schockstarre fällt und ins Krankenhaus eingeliefert wird.

Man merkt sofort, mit dem Hotelbetreiber-Ehepaar stimmt etwas nicht. Mona (Gro Swantje Kohlhof), die ihrer Mutter besorgt gefolgt ist, erfährt von mysteriösen Selbstmorden in der Vergangenheit. Was hat Mutter damit zu tun?

Die Spur führt in die Nazi-Zeit. Hotelbesitzer Otto (August Schmölzer) hatte damals eine Geliebte, die polnische Zwangsarbeiterin Trude (Agata Buzek). Als sie ihm lästig wurde, brachte er sie um. Deren Tochter, Monas Mutter, erlebte das als Säugling mit. Noch immer ist Otto beherrscht von Nazi-Ideologie. Aber nachts überfällt ihn wie ein Dämon die Schuld. Seine Frau Lore (Marion Kracht) muss ihn festschnallen, damit er sich nichts antut.

Die Film-Ruine im Wald, so der Regisseur, sei in der Nazi-Zeit wirklich eine Sprengstofffabrik im Harz gewesen, in der Zwangsarbeiter schufteten und schnell starben, was jeder im Ort mitgekriegt hätte. Es gäbe in solchen kleinen, idyllischen Orten viel derart dunkler Geheimnisse, die es lohne, aufzudecken.

Richtig unheimlich wird es im Film bei der Einweihungsfeier des Hotelanbaues, die zum Treffen Ewiggestriger wird – oder sind es wieder Heutige, vor denen sich Otto als Führer produziert? Sohn Christoph (Max Hubacher), der sich in Mona verliebt hat, verlässt ihn, er solle seinen „Reichsparteitag“ alleine abhalten.

Mona und Christoph stehen für die Zuversicht, dass der Fluch der Nazi-Zeit überwunden werden kann. Sie sind Teil einer Generation, die nicht in die damaligen Verbrechen verwickelt ist und daher die Kraft zur Auseinandersetzung besitzt.

Eine Schwäche des sehenswerten „Heimathorrorfilms“, wie er in der Ankündigung genannt wird, besteht in seiner teilweisen Überfrachtung. Natürlich sind Albträume chaotisch. Aber die hier herumgeisternden vorchristlichen Mythen, nebst mystischer Erotik-Phantasien, wirken bemüht und verwirren nur. Warum sollte dies im kollektiven Unterbewusstsein des 21. Jahrhunderts im Zusammenhang mit Naziverbrechen eine Rolle spielen? Die Entwicklung des Horrorfilms selbst als Genre war beeinflusst von konkreten kollektiv-traumatischen Erfahrungen jüngeren Datums: den beiden Weltkriegen und dem Horror des Vietnamkriegs.

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